Es gilt das gesprochene Wort

Deutschland/F 2019 · 122 min. · FSK: ab 12
Regie: Ilker Çatak
Drehbuch: ,
Kamera: Florian Mag
Darsteller: Anne Ratte-Polle, Ogulcan Arman Uslu, Godehard Giese, Özgür Karadeniz, Jörg Schüttauf u.a.
Spiel mit den Erwartungshaltungen auf allen Ebenen

Paradies Deutschland

Am Anfang erinnert Ilker Çataks Es gilt das gespro­chene Wort noch ein wenig an Ulrich Seidls Paradies: Liebe: wir sehen türkische Gigolos, die sich in Marmaris an der türki­schen Küste europäi­schen Frauen anbieten. Wir sehen Baran (Ogulcan Arman Uslu), der sich aus Mangel an Alter­na­tiven – er hat gerade seinen Militär­dienst abge­leistet – ebenfalls auf dieses Geschäft einlässt und schnell lernt. Doch dann kommt die deutsche Pilotin Marion (Anne Ratte-Polle) ins Spiel und radiert alles, was an Seidl erinnert, wieder aus. Denn im Schatten ihrer Krebs­dia­gnose läuft Marion allen Erwar­tungs­hal­tungen – und damit sind auch die Erwar­tungs­hal­tungen an den Film-Plot gemeint – zuwider und ermög­licht dem jungen Türken Baran (Ogulcan Arman Uslu) schließ­lich einen Neustart in Deutsch­land.

Schon an dieser Stelle hat Ilker Çatak in seinem zweiten Film, für den er auf dem 37. Münchner Filmfest mit dem Förder­preis Neues Deutsches Kino für das beste Drehbuch und seinen männ­li­chen Haupt­dar­steller Ogulcan Arman Uslu ausge­zeichnet wurde, so oft über­rascht, dass man allein schon wegen der narra­tiven Stärke keine Wendung dieses Films mehr missen möchte. Diese über­ra­schenden Momente werden vor allem durch die fein gezeich­neten Charak­tere der beiden Haupt­dar­steller verstärkt, die gerade auch in ihrer verzwei­felten, negativen Wucht vorge­führt werden: Baran, wie er Frauen, die sich nicht einlassen auf seine Bitten, ihn mit nach West­eu­ropa zu nehmen, eiskalt abfertigt. Und Marion, die sich den Bitten ihres Freundes nach mehr Beziehung ebenfalls durch eine scheinbar emoti­ons­lose Kälte entzieht. Diese Fokus­sie­rung auf das persön­liche Drama verstärkt Çatak im zweiten Teil seines Films noch einmal.

Hatten wir es also im ersten Teil noch vorrangig mit einer subtilen, aber nichts­des­to­trotz unver­hoh­lenen Kritik an unserem neoli­be­ralen Wirt­schafts­system zu tun, lässt Çatak diese Bezüge im zweiten Teil als Diskus­si­ons­grund­lage zwar im Raum stehen, entfaltet aber nun mit einer sogar­tigen Inten­sität eine packende, mit trockenem Humor und zärt­li­chen Momenten erzählte Geschichte über die Macht der Struk­turen und die thera­peu­ti­schen, befrei­enden Möglich­keiten einer inter­kul­tu­rellen Beziehung. Denn ohne dass Balan oder Marion damit rechnen, entsteht durch das Vertrags­werk ihrer Hochzeit und die damit verbun­denen Alltags­rou­tinen tatsäch­lich eine über die Verpflich­tung hinaus­ge­hende Beziehung, mit unge­ahnten Frei­heiten, gerade so, wie es auch bei »arran­gierten« Hoch­zeiten der Fall sein kann. Doch statt reine Romantik in den Raum zu stellen, versteht Çatak auch hier geschickt mit Erwar­tungs­hal­tungen zu spielen – er fokus­siert nicht nur auf die ernüch­ternden Folgen von Marions Brust-Ampu­ta­tion, sondern zeigt auch Marions bis dahin eher passive Dauer­af­färe Raphael (Godehard Giese) in neuem Licht.

Damit spielt Çatak auch seinen Filmtitel Es gilt das gespro­chene Wort subtil aus, eine Routi­ne­formel für vorab veröf­fent­lichte Manuskripte, mit der betont wird, dass es sich um die Nieder­schrift einer Rede handelt und der Redner vom Manuskript abweichen und Passagen weglassen oder hinzu­fügen kann. Çatak überführt diese Formel auf die inter­kul­tu­relle, private Bezie­hungs­ebene von Marion und Balan und ihr Freundes- und Arbeits­um­feld und zeigt, wie schwer es ist, nicht nur mit den Erwar­tungs­hal­tungen der Umwelt, sondern vor allem auch den eigenen umzugehen.

Doch bei allen theo­re­ti­schen Gedan­ken­spielen, die Es gilt das gespro­chene Wort anbietet, kann Çataks Film auch ganz unbe­fangen als packendes, inten­sives Drama um eine Frau und einen Mann gesehen werden, die auf völlig verschie­denen Ebenen um Selbst­er­mäch­ti­gung ringen und sich zufällig dabei treffen; ein Drama, das vor allem durch seine hervor­ra­genden schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen und eine bis zum Ende souverän erzählte Geschichte überzeugt.