Enfant Terrible

Deutschland 2020 · 135 min. · FSK: ab 16
Regie: Oskar Roehler
Drehbuch: ,
Kamera: Carl-Friedrich Koschnick
Darsteller: Oliver Masucci, Hary Prinz, Katja Riemann, Alexander Scheer, Eva Mattes u.a.
Ernsthaftes, niemals konventionelles Porträt
(Foto: Weltkino)

Unverstandener Rebell, süchtiger Liebhaber

Oskar Roehlers intimes Portrait des Regie-Berserkers Rainer Werner Fassbinder: Enfant Terrible

Eine frühe Szene in diesem Film. Noch ist die Haupt­figur ein Niemand, ein unbe­kannter Thea­ter­freak der Off-Bühne des Münchner »Action­thea­ters«. Aber als er eines Abends mit einem Freund im Lokal sitzt, beschreibt er seine Absichten bereits sehr genau: »Ich will Filme machen. Über dieses Land. Ich habe schon drei Filme geschrieben und vier weitere im Kopf. Überall wo du hingehst, sind Stoffe. Die davon handeln, wovon die Menschen träumen, und wie ihre Träume verpuffen.« – hier ist er bereits enthalten, der ganze »RWF«: Sein berser­ker­haftes Produk­ti­ons­tempo (44 Filme in 15 Jahren, dazu 20 insze­nierte Thea­ter­stücke, 14 selbst geschrie­bene Stücke, 4 eigene Hörspiele), der Hunger und die Ziel­rich­tung: Fass­bin­ders Filme sind Filme über deutsche Träume, und deutsche Enttäu­schungen.

Er war der Riese unter den Zwergen, eine mythische Figur, der Gren­zü­ber­schreiter unter lauter Groß- und Klein­bür­gern des Neuen Deutschen Films: Rainer Werner Fass­binder, die zugleich kontro­ver­seste wie produk­tivste Figur dieser Epoche. In diesem Mai wäre der 1982 unglaub­lich früh gestor­bene Regie-Bürger­schreck 75 Jahre alt geworden – und im Mai hätte, passend zu diesem Termin, eigent­lich der Film Enfant Terrible bei den Film­fest­spielen von Cannes Premiere haben sollen: Das biogra­phi­sche Porträt des Regis­seurs durch seinen Kollegen, den 1959 geborenen Oskar Roehler. Corona verhin­derte das Festival und diese Premiere. Pech für Roehler, Glück für das Filmfest Hamburg, wo Enfant Terrible nun seine Premiere feierte.
Es war die letzte unter vielen Widrig­keiten – finan­ziell, künst­le­risch, rechtlich –, denen Roehler und die Bavaria Film­pro­duk­tion diesen Film abge­trotzt haben. Und irgendwie passt das am Ende doch ganz gut zum Thema Fass­binder, der auch immer gegen Wider­stände ankämpfte und seine Visionen durch­setzte. Das Ergebnis kommt jeden­falls Fass­bin­ders eigener Ästhetik faszi­nie­rend nahe: Es wurde mit viel zu wenig Geld gedreht, statt mit 7,5 Millionen Euro Budget nur für 2,5 Millionen, und viel zu schnell, wie unter Strom an nur 25 Drehtagen; die Räume sind fast komplett Studio­ku­lissen, die auch ganz absicht­lich so aussehen – weil dies dem Look, dem Thea­tra­li­schen, explizit Künst­li­chen von Fass­bin­ders Filmen entspricht.

Durch Fass­binder ist Roehler schon seit jeher stark beein­flusst. Sein Verhältnis zum berühm­testen Vertreter des Neuen Deutschen Films ist eine Wahl­ver­wandt­schaft. Auch Roehlers ganz eigener Kino-Kosmos ist schrill, wild, »schmutzig«, provo­kativ – im Gegensatz zu den oft so cleanen Filmen des übrigen aktuellen deutschen Kinos.

Und am besten ist dieser Film da, wo Roehler die Leiden­schaft Fass­bin­ders einfängt. Er zeigt, wie er seine Schau­spieler anschreit, fassungslos über ihren Dilet­tan­tismus: »Warum schaut denn der Depp in die Kamera? Was machst du Mann?? Wir drehen hier 'nen Film!!! Habt ihr denn immer noch nicht kapiert, was das heißt?« Oder in einer Szene wirklich zuschlagen lässt, oder an ein Motorrad gefesselt über den Boden schleift, denn es soll echt sein: »Das is' Film. Kein Theater.«

Enfant Terrible ist auch ein großer Auftritt für den Schau­spieler Oliver Masucci in der Haupt­rolle als Enfant Terrible Fass­binder – eine umwer­fende Perfor­mance.

Und es ist ein heraus­ra­gender Roehler-Film: Immer wieder reist Roehler in seinen Filmen (Die Unberühr­bare, Lulu & Jimi, Quellen des Lebens) wie in seinen Romanen zurück in eine sehr bestimmte Zeit, in einen sehr bestimmten Raum: In das West­deutsch­land der Nach­kriegs­zeit, in die 60er bis 80er Jahre. Genau dies war auch die große Zeit von Fass­binder. Darum fällt es Roehler leicht, Fass­binder und einige Eckdaten seiner Biogra­phie und seiner berühm­testen Filme nun mit seiner eigenen Heran­ge­hens­weise zu verbinden.

Roehler inter­es­siert sich nicht besonders für die öffent­liche poli­ti­sche Figur Fass­binder (obwohl er dessen poli­ti­sche Seite zeigt), sondern für den Menschen dahinter, den dauer­be­dröhnten Leiden­schaft­li­chen. Er zeigt Fass­binder als Unver­stan­denen, als Rebell, als Süchtigen und als Liebhaber. Das Private und das Poli­ti­sche waren für Fass­binder untrennbar, und die Liebe in seinen Filmen wie dem Leben das Schlacht­feld, wo beides zusam­men­prallte.

Roehler zeigt auch die heute sehr fremd wirkende Lebens­weise dieses Under­ground-Charak­ters, der sein Leben als grup­pen­dy­na­mi­schen Prozess führte und dessen Film-Kommune als ein herme­ti­scher Kosmos funkio­nierte, in dem Arbeit und Liebe, Leben und Leiden­schaften zu einem ebenso ausbeu­te­ri­schen wie symbio­ti­schen Bezie­hungs­netz­werk verschmolzen. Die offene Frage hier ist vor allem, inwieweit Fass­bin­ders Leben als One-Man-Show begriffen werden muss, der andere Menschen nur als Stich­wort­geber duldete, oder wo er selbst Opfer und Objekt war, abhängig und ausge­setzt den Launen der anderen.
Im Ergebnis ist dieser Film eine Hommage und eine Verbeu­gung vor dem großen Vorbild – der zärt­lichste Film Roehlers seit Die Unberühr­bare, in dem Hannelore Elsner als Roehlers leibliche Mutter Gisela Elsner zu sehen war.

Schließ­lich ist dieser Film aber auch eine Grat­wan­de­rung im verminten Gelände des Fass­binder-Nach­lasses. Denn die diesen verwal­tende Stiftung (RWFF) unter Leitung von Fass­bin­ders Cutterin und »Witwe« Juliane Lorenz ist in der Branche berüch­tigt und gefürchtet als überaus schwie­riger Partner – Vorschriften des in Deutsch­land unge­wöhn­lich weit gefassten Zitat- und Urhe­ber­rechts werden benutzt, um Filme wie diesen zu verhin­dern oder mindes­tens zu beschränken. So mussten Roehler und seine Produ­zenten sich mit allerlei Tricks um Fass­bin­ders Werk herum­schlän­geln, Namen und Zitate gering­fügig verändern, ohne dass diese Verän­de­rung zur ekla­tanten Verfäl­schung wird. Diese Produk­ti­ons­ge­schichte ist ein Drama für sich.

Der fertige Film ist von allem glück­li­cher­weise komplett unberührt: Was anfangs wie eine Skizze zu Fass­binder beginnt, verdichtet sich immer mehr zu einem sehr intimen, ernst­haften, niemals konven­tio­nellen Porträt und zu einem Plädoyer für die Sper­rig­keit des Autoren­kinos, für die subjek­tive Hand­schrift von Film­künst­lern, die heute gern glatt­ge­bü­gelt wird, aber doch der mensch­liche Kern des Kinos bleibt.