Elle

Frankreich/D/B 2016 · 126 min. · FSK: ab 16
Regie: Paul Verhoeven
Drehbuch:
Kamera: Stéphane Fontaine
Darsteller: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Charles Berling, Virginie Efira u.a.
Film als Selbstporträt

Die Katze lässt das Blicken nicht...

Die erste Szene geht gleich zur Sache: Eine Katze guckt in die Kamera, dazu Beischlaf­geräu­sche. Der Schnitt von ihrem Gesicht lenkt auf Isabelle Huppert die im schwarzen Kleid am Boden liegt und von einem maskierten Mann brutal verge­wal­tigt wird. Einen Moment glaubt man an ein Spiel, aber es ist ernst. Porzellan- und Glas­splitter liegen am Boden, und das Aussehen, auch die Pose der Huppert erinnert unver­kennbar an ihre ähnliche Szene in Die Klavier­spie­lerin. Damit posi­tio­niert Regisseur Paul Verhoeven gleich seine Haupt­figur in einem Feld aus Kälte, vermeint­li­cher Gefühl­lo­sig­keit, Maso­chismus, sexueller Perver­sion. Das hat seine Gründe.

+ + +

Michèle, so heißt Hupperts Figur, steckt das Gesche­hene so weg. Sie ruft nicht die Polizei – dass sie mit der schlechte Erfah­rungen gemacht hat, erfahren wir später –, sie ruft auch keine Freunde an, sondern nimmt ein heißes Bad, ordert Sushi – kalter Fisch für den »kalten Fisch«, das sind Paul Verhoevens sachte Ironien. Am Abend kommt ihr Sohn zu Besuch.
Wir erfahren, dass Michele reich ist, geschieden, den erwach­senen Sohn aushält. Am nächsten Morgen geht sie zur Arbeit – sie ist eine Chefin: Mit einer Freundin (Anne Consiny) hat sie ein Unter­nehmen gegründet, das Compu­ter­spiele konstru­iert. Auch dies nimmt Verhoeven zum Anlass für kleine, gute, böse Witze: Über Digi­ta­li­sie­rung, Game-Kultur, Gene­ra­ti­ons­un­ter­schiede, Dummheit und »die jungen Leute«. Damit setzt er den Ton einer leichten Sozi­al­komödie.
Seine Haupt­figur aber nimmt er ernst, und deren Witz ist immer gebrochen: Man begreift früh, dass ihre Geschichte so witzig gar nicht ist.

Michèle scheint unzer­störbar, eiskalt. Als Chefin ist sie kurz ange­bunden, komman­die­rend. Einmal sagt sie zu einem Ange­stellten: »Show me your dick, and you may not be fired.« Der Zusam­men­gang von Kapi­ta­lismus und Perver­sion. Nur mit ihrer Freundin ist sie nett und kame­rad­schaft­lich. Eine kalte, aber keine unsym­pa­thi­sche Figur. In Tagträumen stellt sie sich ihre Verge­wal­ti­gung noch einmal vor, mit dem Unter­schied, dass sie dem Täter den Schädel einschlägt.
Ihre alte Mutter nennt sie »selbst­süchtig«, und es gibt offenbar viele Menschen, die ihr und ihrem Vater, den wir nur vom Hören­sagen kennen, irgend­etwas übel nehmen. Sie wird im Restau­rant von einer Fremden beschimpft. Der Vater sei nicht nur ein Mann, sondern eben auch ein Monster, sagt Michèle zu ihrer Mutter – und wir stellen uns einen Finanzhai vor.

Dann öffnet sich ein zweiter Erzähl­strang: Paranoia. Denn der Verge­wal­tiger kontak­tiert sie per SMS. Offenbar beob­achtet er sie. Der Nachbar, auf den Michèle ein Auge geworfen hat, obwohl er verhei­ratet ist, hat im Garten einen maskierten Mann beob­achtet, und zu stellen versucht. In der Firma hat ein Unbe­kannter auf den Rechner eine Animation gespielt, die eine Verge­wal­ti­gung Michèles zeigt. Der Täter stammt offenbar aus der Firma, und so versucht bittet sie einen ihrer Ange­stellten die Kollegen zu bespit­zeln. So trifft das Thriller-Genre die Gesell­schafts­komödie. Immer wieder wechseln die Ebenen. Vieles passiert in diesem schnellen, unter­halt­samen Film.

Michèles Ex-Mann, ein erfolg­loser Schrift­steller und Unidozent, mit dem sie nach wie vor gut befreundet ist, hat eine neue Freundin, offenbar ist es »was ernsteres«, worunter Michèle leidet: »Davor habe ich Angst: Die Bimbos mit dem großen Busen nicht. Aber eine Frau, die 'Das Andere Geschlecht' gelesen hat, die ist Dir gefähr­lich.«

+ + +

Mit Türkische Früchte, einer Künst­ler­ro­manze zwischen Genie und Wahnsinn, die nicht zuletzt wegen ihrer sexuellen Frei­zügig­keit zum großen Erfolg in Holland wurde, begann die Karriere von Paul Verhoeven, der derzeit der Präsident der Berlinale-Jury ist. In Hollywood drehte er dann düstere Science-Fiction-Epen (Total Recall, Starship Troopers) und hoch­glän­zende Provo­ka­tionen (Basic Instinct, Showgirls) – ein Bad Boy aber auch ein Schau­spieler-Regisseur. Für Elle ist Isabelle Huppert für den Oscar nominiert – für die schlechthin großar­tige Huppert ist dies einer der besten Auftritte ihrer Karriere.

+ + +

Elle ist glän­zendes Kino: Intel­li­gent, unter­hal­tend, einfach top. Auch formal: Erzählt mit glän­zender Kamera, tollen Schnitten, Verhoeven zeigt, was Feti­schismus im Kino ist: Form und Bilder, schrille Over-the-top-Momente. Aber als Form des Erzählens, nicht um ihrer selbst willen. Hier versteht einer sein Handwerk. Hier agiert einer stil­be­wusst, weiß in jeder Geste, jedem Aspekt, was er tut und was er tun will. Verhoevens Kino ist stylish, ein Form- und Bilder­kino, auch wenn ihm das, wovon er erzählt, noch so wichtig sein mag.

Ein toller Film! Voller abgrün­diger Momente, voller Spannung und Humor. Eines Alfred Hitchcock würdig. Boshaft, witzig, politisch unkorrekt, facet­ten­reich, glänzend gespielt, elegant und fehler­frei insze­niert – Verhoeven ist zehn Jahre nach seinem letzten Film Blackbook zurück im Zentrum des Kinos. Keiner hat soviel Sinn für inter­es­sante Kolpor­tage, wie er: Darum passt der Phillippe Dijan-Stoff perfekt zu einem Regisseur, dessen Themen aus den Groschen­heften der dreißiger und vierziger Jahre stammen könnten, die bei ihm aber die verspielte Gravitas eines Shake­speare-Stückes oder barocken Romans erhalten. Und die schlanke Form eines rasanten Spek­ta­kels. Verhoeven ist einer, dem Mittel­mäßig­keit ein Graus ist. Zugleich hat er die Begabung, seinen Filmen immer eine bestimmte Entspannt­heit zu geben, eine Lust am Augen­blick.

Selten war der Spaß so offen und ironisch wie in Elle. Es ist nicht allein Huppert zu verdanken, dass dieses Werk so gelassen ist: Es atmet alle Eigen­schaften von Verhoevens Oevre: Voyeu­rismus, Feti­schismus, beißende Kritik, Sex und Gewalt. Und doch ist dies der erste seiner Filme, die man auch ganz direkt als Spie­gel­bild verstehen sollte: Man muss sich dieses subver­sive Spektakel über eine Frau, die miss­ver­standen wird, die von der puri­ta­ni­schen Mehrheit verfolgt wird, und die es schafft, gegen alle Wider­sa­cher und Wider­s­tände die Spiel­re­geln zu setzen, als ein Selbst­por­trät vorstellen.

Nicht zu fassen

»Kein Scham­ge­fühl ist so stark, dass es uns an irgend­etwas hindern würde.« Dieser Satz, gespro­chen von der Prot­ago­nistin der Roma­n­ad­ap­tion „Elle“, könnte auch das Schaffen des hinter dem Projekt stehenden Filme­ma­chers umschreiben. Seit den Anfängen seiner Karriere scheut der Nieder­länder Paul Verhoeven keine Kontro­versen und gilt vor allem im prüden Amerika als scho­nungs­loser Provo­ka­teur. Ob RoboCop, Basic Instinct,  Showgirls oder Starship Troopers – alle seine großen Studio­ar­beiten lösten heftige Diskus­sionen aus, da sie Grenzen über­schreiten, Konven­tionen ausein­an­der­nehmen und poli­ti­sche Korrekt­heit konse­quent über Bord werfen. Nach seinem Rückzug aus Hollywood um die Jahr­tau­send­wende herum wurde es zunehmend still um das einstige Regie-Enfant-terrible, das mit Black Book und Tricked in der letzten Dekade nur noch zwei Werke reali­sieren konnte. Dass Verhoeven die Lust an heraus­for­dernden Geschichten auch im fort­ge­schrit­tenen Alter nicht verloren hat, beweist das sati­ri­sche Thriller-Drama Elle auf fulmi­nante Weise.

Zugrunde liegt dem vielfach prämierten Film Philippe Djians Roman „Oh…“, in dem eine Frau nach einer Verge­wal­ti­gung äußerst unge­wöhn­liche Wege findet, mit dem Vorfall umzugehen. Statt die Polizei zu infor­mieren, lebt sie ihr Leben weiter und lässt sich schließ­lich auf ein gefähr­li­ches Spiel mit ihrem Peiniger ein. Ein Stoff, der Sex und Gewalt verbindet. Und damit geradezu prädes­ti­niert scheint für den aben­teu­er­lus­tigen Nieder­länder, der eben diese Phänomene stets mit großer Lust erforscht hat. Wie in manch anderer Verhoeven-Arbeit wird das Publikum außerdem mit einer starken, geheim­nis­vollen Frau­en­figur konfron­tiert, die den Männern in ihrer Umgebung haushoch überlegen ist. Und das, obwohl am Anfang ein eigent­lich hoch­gradig trau­ma­ti­sches Ereignis steht, das zunächst nur zu hören, nicht aber zu sehen ist. Schreie und klir­rendes Glas sind in den ersten Sekunden die einzigen Indi­ka­toren für den brutalen Gewaltakt, der über die erfolg­reiche Geschäfts­frau Michèle Leblanc (Isabelle Huppert) in den eigenen vier Wänden herein­bricht.

Einen kleinen, abgrün­digen Scherz erlaubt sich der Regisseur schon beim Einstieg, wenn er die Katze der Prot­ago­nistin als Zeugin des sexuellen Über­griffs zeigt und damit die voyeu­ris­ti­sche Position des Zuschauers ironisch spiegelt. Reichlich verwun­der­lich wirkt schließ­lich das weitere Verhalten Michèles, die nach dem Abgang des maskierten Einbre­chers die Scherben zusam­men­fegt, Essen bestellt und kurz darauf ihren Sohn (Jonas Bloquet) empfängt. So, als wäre rein gar nichts geschehen. Kann man eine Frau, die gerade verge­wal­tigt wurde, derart abgeklärt zeigen? Ist Michèles Gebaren auch nur ansatz­weise glaub­würdig? Diese und ähnliche Fragen schießen einem sofort in den Kopf, was Verhoeven sicher erfreuen wird, da er mit der unge­wöhn­li­chen Prämisse Grund­sätze hinter­fragt. Nicht nur der Zuschauer, auch die Freunde der Haupt­figur sehen Michèle auto­ma­tisch in einer Opfer­rolle und reagieren auf ihre Weigerung, eine Anzeige zu erstatten, mit Unver­s­tändnis. Die Betrof­fene ist jedoch keines­wegs bereit, sich in die Schock-Ecke drängen zu lassen. Vielmehr nutzt sie den Überfall dazu, ihr Leben noch einmal neu zu ordnen.

Wie der Regisseur und seine Haupt­dar­stel­lerin die schwer nach­voll­zieh­bare, um nicht zu sagen unerhörte Grundidee zu einem nie lang­wei­ligen, facet­ten­rei­chen Porträt einer komplexen, patho­lo­gi­schen Persön­lich­keit ausar­beiten, verdient größten Respekt. Ohne allzu offen­sicht­liche Erklä­rungen abzugeben und in platte Küchen­psy­cho­logie zu verfallen, zeichnet Elle die im Zentrum stehende Unter­neh­merin als eine Frau, in deren Leben Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Ihre grau­en­hafte Fami­li­en­ge­schichte wird früh ange­deutet, setzt sich aller­dings erst nach und nach zusammen und könnte durchaus Anhalts­punkte dafür liefern, warum Michèle eher kühl und sachlich mit der Verge­wal­ti­gungs­er­fah­rung umgeht. Herrlich amüsant ist der Moment, in dem sie ihren adretten Nachbarn bei einer Weih­nachts­feier mit einem sanften Lächeln in ihre blutige Vergan­gen­heit einweiht. Geschmacklos wirkende, aber ebenso über­ra­schende Augen­blicke wie dieser verleihen dem schwarz­hu­mo­rigen Thriller eine Unbe­re­chen­bar­keit, die man im Kino heute oftmals vermisst.

Sex und Gewalt vermi­schen sich auch in Michèles Berufs­alltag. Als Inhaberin einer Compu­ter­spiel­firma füttert sie bevorzugt männliche Fantasien und kennt dabei keine Zurück­hal­tung. Deutlich wird dies beispiels­weise, als sie während einer Bespre­chung zu einem neuen Produkt bei einer Figur starke orgas­ti­sche Zuckungen einfor­dert. Bis zum Ende ist der Verlauf der Roma­n­ad­ap­tion, die auch über handfeste Span­nungs­szenen verfügt, schwer vorher­zu­sehen. Selbst in den letzten Zügen erlaubt sich Verhoeven noch eine uner­war­tete Offen­ba­rung, die man als Kritik an der Verlo­gen­heit und Heuchelei der Kirche verstehen darf.

Inmitten all der aber­wit­zigen Wendungen und bösen Spitzen umweht Isabelle Huppert eine faszi­nie­rend-uner­gründ­liche Aura. Obwohl die eigen­wil­lige Michèle bei weitem keine klas­si­sche Iden­ti­fi­ka­ti­ons­figur ist, bleibt ihre Entwick­lung dank des famosen und uner­schro­ckenen Schau­spiels jederzeit inter­es­sant. Mit der fran­zö­si­schen Ausnah­me­ak­trice vor Augen kann man sich eigent­lich nicht vorstellen, dass Elle auch dann so über­zeu­gend funk­tio­niert hätte, wenn der Film – wie ursprüng­lich geplant – mit einer ameri­ka­ni­schen Haupt­dar­stel­lerin auf Englisch gedreht worden wäre. Nur gut, dass sich in den USA niemand an den unbe­quemen Stoff gewagt hat.