Rumänien 2024 · 104 min. · FSK: ab 12 Regie: Emanuel Parvu Drehbuch: Emanuel Parvu, Miruna Berescu Kamera: Silviu Stavilã Darsteller: Ciprian Chiujdea, Bogdan Dumitrache, Laura Vasiliu, Ingrid Micu-Berescu, Valeriu Andriuta u.a. |
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Von Angesicht zu Angesicht... |
In Rumänien haben kreative Filmregisseure wie Cristian Mungiu (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) oder Cristi Puiu (Der Tod des Herrn Lazarescu) in ihren Werken immer wieder die Finger in Wunden gesellschaftlicher Missstände gelegt und dem rumänischen Kinoschaffen internationale Anerkennung verschafft. In seinen dritten langen Spielfilm knüpft der 1979 geborene Schauspieler und Regisseur Emanuel Pârvu an diese Tradition der nüchternen gesellschaftskritischen Bestandsaufnahmen an und lenkt den Blick in ein abgelegenes Provinznest seines Heimatlandes.
Bevor er im Herbst ein Studium antritt, kommt der 17-jährige Adi für die letzten Sommerferien noch einmal in sein Heimatdorf im Donaudelta. Das Dorf liegt auf einer idyllischen Insel, so dass es nur mit Booten erreichbar ist. Adis Vater Florin ist ein einfacher Fischer, der möchte, dass sein Sohn die Marineakademie besucht, doch Adi hat anderes im Sinn. Florin und seine Frau sind nervös, weil er seine Schulden beim mächtigen Dorfbonzen Zentow nicht fristgerecht beglichen hat. Eines Nachts wird Adi in der Nähe eines Clubs zusammengeschlagen. Auch sein Mobiltelefon ist weg. Zunächst vermutet sein Vater, dass der Vorfall damit zu tun hat, dass er seine Schulden beim mächtigen Dorfbonzen Zentow nicht fristgerecht gezahlt hat. Doch dann stellt sich heraus, dass man Adi verprügelt hat, weil er einen Mann aus Bukarest geküsst hat.
Der Dorfpolizist Pantele findet schnell heraus, dass die beiden Täter Zentows Söhne sind. Pantele, der demnächst in den Vorruhestand gehen will, kann keine Komplikationen gebrauchen und versucht, die Sache wie gewohnt unter der Hand zu regeln. Zentow wiederum möchte den Konflikt al liebsten finanziell beilegen. Als Florin und Maria von den schwulen Neigungen ihres Sohnes erfahren, sind sie entsetzt und sperren ihn zeitweise ein. Später fesseln sie Adi und lassen Pater Eugen an ihm eine Art Exorzismus vollziehen, um ihn von der Sünde der Homosexualität zu befreien. Nach einem anonymen Hinweis nimmt sich die herbeigeeilte Simona vom Jugendamt den Fall vor, wird jedoch von ihrem korrupten Vorgesetzten ausgebremst wird. Hilfe erhält Adi nur von der langjährigen treuen Freundin Ilinca.
Bedrückend an dem nüchternen Sozialdrama ist vor allem die skrupellose Täter-Opfer-Umkehr, die hier zu Tage tritt. Statt die Täter zu identifizieren, zu überführen und zu bestrafen, machen Behörden, Eltern und Umfeld den freiheitsliebenden Schüler erneut zum Opfer. An den perfiden Machenschaften beteiligen sich nicht nur der Strippenzieher und der Polizist, sondern auch der rhetorisch talentierte Geistliche, der sogar anbietet, Adi in einem Kloster verschwinden zu lassen.
Im Zuge der etwas langwierig wirkenden Ermittlungen steigt der Druck im Kessel: Pantele, Zentov, Florin, Maria und Eugen suchen nach einem Ausweg aus der verfahrenen Lage. Denn allen ist klar: Wenn sich der Schwulenverdacht erst in der Dorfbevölkerung herumspricht, wird eine Hexenjagd gegen Adi einsetzen, unter der auch die Eltern leiden werden.
In seinem dritten langen Spielfilm nach dem Debüt Meda oder Die nicht so helle Seite der Dinge (2017) und Mikado (2021) liefert der rumänische Regisseur Emanuel Pârvu, der mit der Produzentin Miruna Berescu auch das Drehbuch geschrieben hat, ein düsteres Gesellschaftsporträt der rumänischen Provinz. In einem sehr konservativen, rückwärtsgewandten Milieu gedeihen Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Doppelmoral und religiöser Fanatismus und verbinden sich mit Korruption, Machtmissbrauch und Staatsversagen zu einer toxischen Mischung.
In einem schlechten Zustand präsentiert sich hier der Rechtsstaat in dem EU-Mitgliedsland. So ist für den Polizisten eine mündliche Zeugenaussage nichts wert, nur eine unterschriebene schriftliche Aussage hält er für juristisch relevant. Und einen ärztlicher Untersuchungsbericht zum Opfer nimmt er nur ernst, wenn er von einer Fachbehörde absegnet ist. Wie soll unter diesen Umständen die Strafverfolgung funktionieren?
Die scharfsinnige Analyse gesellschaftlicher Fehlentwicklungen ist in dem konventionell erzählten Film, der zum Finale hin zu leicht vorhersehbar wird, eingebettet in idyllisch wirkende Beobachtungen der Natur rund um das ärmliche Dorf. Der Kameramann Silviu Stavilâ nimmt immer wieder die Wasserflächen des Donaudelta, die Schilfbündel und die unbefestigten Straßen des Dorfes in den Blick, während die Sonne am blauen Himmel die Gegend in ein warmes Sommerlicht taucht.
Den Leidensweg des Jünglings und die kriminalistischen Rochaden der übrigen Beteiligten erzählt Pârvu, der auch als Schauspieler und Autor in Film und Theater arbeitet, in meist langen Einstellungen bei gemächlichem Schnitttempo. Die exzellente Kameraarbeit, die analytische Schärfe der Gesellschaftskritik und die Leistungen des Casts fügen sich zu einem eindringlichen Sozialdrama über das Martyrium eines Teenagers, das bei der Uraufführung auf dem Filmfestival in Cannes 2024 die queere Palme gewann. Besonders hervorzuheben im Darstellerensemble sind Ciprian Chiujdea und Bogdan Dumtrache, die sich als Sohn und Vater mit schauspielerischem Minimalismus in einen geradezu archaischen Machtkampf verbeißen, der nur damit enden kann, dass einer von ihnen die Arena verlässt.