USA 2019 · 114 min. · FSK: ab 12 Regie: Simon Kinberg Drehbuch: Simon Kinberg Kamera: Mauro Fiore Darsteller: Sophie Turner, Jennifer Lawrence, James McAvoy, Jessica Chastain, Michael Fassbender u.a. |
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Risse in der Patina |
»Mutation. It is the key to our evolution. It has enabled us to evolve from a single cell organism into the dominant species on the planet. This process is slow, normally taking thousands and thousands of years. But every few hundred Millania, evolution leaps forward.«
X-Men, 2000, Beginn
Eine junge Frau tötet ihre beste Freundin. Sie kann sich selbst nicht kontrollieren. Eines Tages verschwindet die junge Frau spurlos, um kurze Zeit später dann wiederaufzutauchen, aber radikal verändert, und für ihre Freunde bald kaum noch wiederzuerkennen. Eine Gehirnwäsche? Eine Krankheit? Hysterie? Pubertät? »Otherness«, die von der normierten Mehrheitsgesellschaft nicht mehr akzeptiert wird?
Man könnte die ganze Geschichte der X-Men mit Begriffen aus unserem normalen Leben beschreiben, und es macht einigen Sinn, die Story von Dark Phoenix, dem neuesten – siebten, nach manchen Zählungen auch zwölften – Kinoabenteuer der Gruppe, genau so und außerdem vor dem Hintergrund der allerneuesten Debatten um Sexismus und Weiblichkeit zu verstehen, also als populärmythologische Verbrämung der Selbstermächtigung (»Empowerment«) einer jungen Frau. Selbstverständlich ist dies zugleich auch einfach ein Beispiel für Unterhaltungskino mit tieferer Bedeutung und in diesem Fall auf einigermaßen überdurchschnittlichem Niveau. Zuglerich belegt auch dieser Film auf zahlreichen Ebenen, was Drehli Robnik, österreichischer Filmwissenschaftler und Herausgeber des brandneuen Sammelbandes »Put the X in PolitiX«, der ersten deutschsprachigen Buchveröffentlichung zur X-Men-Reihe, in seiner Einleitung schreibt: X-Men-Filme seien »ganz gewöhnliche Filme«. Sie sind, schreibt Robnik weiter, damit auch ganz gewöhnliche Fan-Vehikel. Aus Franchise wird »Fan-Scheiß«. Zugleich aber führt er aus, dass da gerade in dieser Reihe mehr ist, das das Wahrnehmen lohnt: »Im Wahrnehmen zu denken geben uns X-Men-Filme das Wirkliche von Beziehungen.« Es geht in den Filmen einerseits um Beziehungen zwischen heroischer Überhöhung und Solidarität und um den dialektischen Konflikt zwischen individueller Tat und Gruppe.
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Die X-Men, das weiß man nach den bisherigen Filmen, sind keine gewöhnlichen Superhelden. Sie sind »Mutanten«, also menschenähnliche Wesen mit verschiedenen sehr individuellen Sonderbegabungen. Es ist immer das eigentliche Thema der X-Men gewesen, wie Lebewesen mit denen umgehen, die sie als »anders« und »fremd« charakterisieren, die sie ausgrenzen wollen. Und wie sie dabei sich selber sehen, wie sie also selbst mit dem umgehen, was sie sind, wie sie ihre besonderen Gaben gebrauchen, steuern, kontrollieren. Denn die besonderen Begabung ist hier immer zugleich Chance wie Gefahr.
Viele der bekannten Figuren und Darsteller aus den letzten Filmen, Michael Fassbender als durch die Shoah traumatisierter und von Rachephantasien erfüllter jüdischer Superheld (»J-Man«) »Magneto«, James McAvoy als der an den Rollstuhl gefesselte Telepath Dr. Xavier, der eine internatsähnliche Mutantenschule leitet, die »School for Gifted Youngsters«, oder die »Gestaltwandlerin« Mystique (Jennifer Lawrence) kommen auch in dieser in den frühen 90er Jahren angesiedelten Fortsetzung der Serie wieder vor. Zugleich konzentriert sich Dark Phoenix auf eine Figur und deren Schicksal: Die bei Fans besonders beliebte Jean Grey (Sophie Turner), die zunächst in Xaviers Schule aufwächst, dann aber im Weltraum durch eine Sonneneruption mit bösen kosmischen Kräften infiziert, verändert und zum »dunklen Phoenix« wird – deren nun unkontrollierbare Kräfte – im Marvel-Universum handelt es sich bei der »Phoenix-Kraft« um eine urgewaltige kosmische Entität in Form des flammenden Raubvogels – werden auch für die X-Men zur Bedrohung. Erst recht, nachdem auch Außerirdische wie die mysteriöse Vuk (Jessica Chastain) an der besonders ausgestatteten Mutantin interessiert sind...
Wieder einmal muss sich also ein Charakter entscheiden, welcher Seite er zugehören will. In gewisser Weise befinden sich alle X-Men in demselben Dilemma. Vor allem Xavier ist in Gefahr, sich durch die Nähe zur Macht verführen zu lassen. Seine Mutantenschule übernimmt Katastrophenhilfe und Politikberatung mit direkter Telefonleitung zum US-Präsidenten – in der Hoffnung im Austausch mit gesellschaftlicher Anerkennung belohnt zu werden. Ganz frei ist auch »Dark Phoenix« aber in ihrer Entscheidung gar nicht. Gähn? Klischee? Keineswegs. Man muss nur die Bilder lesen lernen...
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Das was die X-Men seit jeher von anderen Superhelden-Franchises unterscheiden ist eben das X. »The O stands for nothing« heißt es prominent (denn es war offenbar Alfred Hitchcocks Rache am Produzenten David O. Selznik) in Hitchcocks bestem Film, Der unsichtbare Dritte (1958). »The X stands for everything« könnte man analog in diesem Fall formulieren.
Die Mutanten dieses Universums sind plural, offen, multikulti; sie fungieren als eine weiße Fläche für alle Formen von Projektion. In ihrer X-Beliebigkeit (politisch weitaus korrekter formuliert: ihrer »Diversität«) wenden sie sich an alle, die sich in der postmodernen Gesellschaft ausgegrenzt und unterdrückt fühlen. Mit anderen Worten: An die Mehrheit. Gerade die X-Men – die dienstältesten aktiven Superhelden – sind eine der interessantesten, klügsten, facettenreichsten unter den bekannten Comic- und Superhelden-Reihen. Spezifisch gemeint ist in dieser Reihe mit dem X die Anerkennung der Kontingenz, der Unbestimmtheit, der neuen Unübersichtlichkeit in der Politik.
Die X-Men-Filme stecken oder stellen das X in die Politik. Sie machten damit vor etwa 20 Jahren bereits genau das, was progressive linke Politik heute immer noch meist erfolglos versucht. Das X ist ein viel besseres Symbol als jedes Gendersternchen. Es geht hier nicht um Reinigung, Purifizierung, sondern das Gegenteil: in puritanischen Zeiten verwirrt das X. Es ist schmutzig, unklar, unentschieden. Die Eindeutigkeit wird ausgeixt.
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Liberale Mythologie und Widerstands-Konsum. Es gibt heute kaum ein größeres Franchise aus Hollywood, bei dem es sich nicht im Kern um eine Widerstands-Erzählung handelt.
Star Wars ist bis in seine heutigen Verästelungen Antiimperialismus-Simulation im Hippie-Geist. Die »Hunger Games« sind von Ressentiment gegen post-demokratische Dekadenz und
Romantik für die Revolution durchtränkt. Die »Avengers« sind zwar zum Teil Multimilliardäre, Patrioten, Waffenhändler und hochbezahlte Wissenschaftler, und können durchaus als die erste global agierende flexible Counterinsurgency-Einsatzgruppe des US-Imperialismus interpretiert werden. Zugleich aber stehen sie für Teamgeist und Multilateralismus, und führen allen Westentaschenrevoluzzern vor, dass ohne Teamgeist und Disziplin, ohne Opferbereitschaft und
»Commitment« (Mao Tse-tung) die Weltrevolution nicht zu machen ist.
Immer wieder handeln die größeren Hollywood-Franchises von solchen klandestinen Rebellen, revolutionären Zellen, die sich gegen ein übermächtiges Unterdrückungsregime aufbäumen und schließlich als prekäre Sieger hervorgehen.
Eine dominante Symbolik, die mit dem gegenwärtigen politischen Protest (von rechts wie links) und seiner Inszenierung verbunden ist, ist jene der Paranoia, die dunkle Ahnung, unsere jetzige Gesellschaft sei längst von feindlichen Kräften erobert, manipuliert, kolonisiert und bewohnt. Alle Populisten der Welt inzenieren sich als X-Men, als Außenseiter, Gebrandmarkte und Opfer einer Politik, einer institutionalisierten Bürokratie von Staat und Kapital und deren
unvorhersehbaren, unbeherrschbaren Technologien, über die sie keine Kontrolle haben und diese nun per Wahl oder Akklamation »des Volkes« wiedergewinnen wollen. Dieses Mindset – das sollte den Populisten zu denken geben – wird von der Kulturindustrie selbst geschaffen und von ihr kultiviert.
Es sind also die kapitalistischen Institutionen der Hollywood Studios, die jährlich mit Milliarden Dollars in zahlreichen Blockbustern die antikapitalistische
Haltung des Publikums bespielen. Die Schurken in diesen Filmen sind Firmen, die zusammen in Kooperation mit der Regierung ihr Unwesen treiben, die unter Umständen gar in düsteren Kellern an der Abschaffung der Menschheit arbeiten, und sonderbare Wesen, Mutanten oder Cyborgs zum Zweck der perfekten Ausbeutung züchten.
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Der Aufstieg der Nerds ist nicht der Aufstieg der Mutanten. Die Fans werden in den Filmen doppelt bespielt: Einerseits sind sie leicht manipulierbare, passive Kunden, andererseits wird ihnen geschmeichelt durch ihre Lobpreisung als potentiell widerständige und handlungsmächtige Konsumenten. Diese Aufwertung ihres obsessiven Konsums geht zusammen mit dem Aufstieg der Nerd-Subkulturen in der Wertschätzung der Konzerne. Jene 20-jährigen, die den Keller ihrer Eltern bewohnen, dort in Rollenspielen versinken oder an ihrem PC herumfrickeln, wurden im Zuge der sogenannten »Vierten industriellen Revolution« von stigmatisierten autistischen Outsidern zu nachzueifernden Vorbildern: Sie sind die CEOs der weltweit größten Unternehmen wie Google, YouTube, Facebook und Co.
Im selben historischen Augenblick, in dem Silicon Valley zum bestimmenden ökonomischen Faktor und zum sozialpolitischen Tonangeber avancierte, erblickten auch die Superhelden das Licht der Welt auf der Leinwand. Im großen Stil vorbereitet wurde diese technologische Revolution aus den Garagen und Kellern von Kalifornien mit den Batman-Filmen von Tim Burton. Zur plötzlichen
strahlenden Geburtsstunde wurde der erste X-Men-Film von Bryan Singer zusammen mit dem ersten Spider-Man. Beide waren noch vor 9/11 gedreht. Alle weiteren Superhelden Filme seitdem entstanden nach dem 11. September und in seinem Schatten. Auch das ist kein Zufall. Gerade die Erzählungen von Spider-Man, dem
pubertierenden Jüngling, der sein Geld als Pizzabote verdienen muss, und die Erzählungen der offenen Außenseiter der X-Men, derjenigen also, die anders sind, von der Welt unverstanden, die auch anders aussehen und deswegen ausgegrenzt werden. Gerade diese beiden Erzählungen der Freaks und Außenseiter wurden seitdem zum Fundament des Superhelden-Booms der Nuller- und Zehner-Jahre. Es ist eine Frage für sich, ob dieser Boom jetzt dann ans Ende kommt, und ob das Ende der Avengers, der
X-Men und das Ende von »Game of Thrones« auch zu einer Art Neugeburt neuer Mythologien für unser Zeitalter wird?
Dies muss übrigens kein Vorteil sein. X-Men waren bisher liberale Mythologie. Werden Sie dies auch in Zukunft bleiben? Oder ist der Widerstand zu einem totalitären Kapitalismus nur als totalitärer, antiliberaler möglich?
Welche Chancen hat ein Widerstand, der eben dem, was er bekämpfen will, wie ein Ei dem anderen gleicht (so wie Stauffenberg und der 20. Juli sich von dem, was sie in die Luft sprengen und bekämpfen wollten, teilweise nur in Nuancen unterschieden)?
Wir alle kennen die Geschichte vom Zauberlehrling. Es ist die gängige Erzählung der Schöpfung, die sich gegen ihren Schöpfer wendet. Sie stammt bereits aus den Anfängen der Moderne, der Zeit um 1800, und wird sowohl in Goethes »Faust« wie in seinem Gedicht »Der Zauberlehrling« wie in Mary Shelleys »Frankenstein« und in einigen anderen Erzählungen und Mythen der frühen Moderne begründet.
Die Macht der Studios ist groß, aber die Kosten der Filme sind immer höher, mit ihnen wird auch das Marketing immer teurer. Einerseits bewirbt die inzwischen auf Armeegröße angewachsene Fangemeinde die Produkte im großen Maßstab gratis, doch zugleich wird diese Macht wie die Macht der Wutbürger immer penetranter und hält die Produkte in zunehmend eisernem Griff. Kein Mitleid mit den Konzernen und ihren Vorstandsetagen – aber selbstverständlich sind die Fans längst die Sansculotten der Kulturindustrie, die dreckigen, schmutzigen, fanatischen, oft genug polymorph-perversen Außenseiterbanden, die für eine Sekunde in den Weltenlauf eingreifen, um dort ihre Allmachtsphantasien auszuleben
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Das U für ein X vormachen: Repräsentation und Mutation. Anders als die meisten Protagonisten des MCU sind die Mutanten der X-Men nicht besonders durch etwas Außermenschliches, durch etwas was von Außen hinzugekommen ist, gekennzeichnet. Ihre Fähigkeiten sind ihnen angeboren, sie kommen aus dieser Welt. Die Fähigkeiten bieten eine Chance, sind aber immer auch Gefahr. Sie geraten ihren Trägern nicht immer zum Vorteil. Insofern sind die X-Men doppelt unterdrückt: Sie sind Behinderte, gebrandmarkt – so bieten sie sich auch nicht allein den Nerds als Projektionsfläche an, sondern allen Unterprivilegierten, die sich selbst unter dem Kürzel LGBTQ subsumieren. Heutige Politik ist keine Politik der Gleichheit, keine Politik der Teilhabe und der einfachen Befreiung, sondern es handelt sich um Politikangebote, die auf den Prinzipien Repräsentation und Identifikation basieren.
Die Handlung des letzten X-Men-Films ist über eine lange Weile spannend, sehenswert, sie bringt viel Auf und Ab und manche Überraschungen. Dazu gehört, dass eine der Hauptfiguren früh im Film stirbt. Insgesamt ist dieser Film in Atmosphäre und Handlung dunkler und düsterer, als die Vorgängerfilme. Das liegt nicht in erster Linie an der Inszenierung des vergleichsweise unerfahrenen Regisseurs Simon Kinberg. Schon eher liegt es im Zeitgeist. Man kann Parallelen zum letzten Avengers-Film, oder zum Ende der »Game of Thrones«-Staffel ziehen: Beliebte Hauptfiguren sterben in allen dreien: Die Zuschauer sollen sich noch nicht mal mehr im Unterhaltungsfilm auf ein Happy-End oder wenigstens auf ihre Helden verlassen können.
So werden wir hier Zeuge der Kulmination aller vorangegangenen Filme und des Endpunkts der bisherigen X-Men-Ära. Die Mutanten werden hier vehement auseinandergerissen. Wohin das die Erzählung führt, wird sich zeigen.
Man sollte sich aber nicht täuschen, dass es für solche dramaturgischen Entscheidungen vor allem noch ganz andere, profanere Gründe gibt: Die »X-Men« sind die einzigen Marvel-Superhelden, deren Rechte bei »20th Century Fox« liegen. Nach dem Ankauf von Fox durch Disney wird auch dieses Franchise in den nächsten Jahren neu erzählt und dazu neu erfunden werden. Dieser Film, hinter dessen Handlung es kein Zurück gibt, und die auf die Zerstörung der bisherigen X-Men-Universums hinausläuft, wird der letzte der alten Reihe sein. Die X-Men werden wieder auferstehen, wie Phönix aus der Asche. Aus der Asche dieses Films.
Das X wird U. Es wird höchstwahrscheinlich in Zukunft mehr X-Men-Filme geben, aber mit anderen Darstellern – für eine neue Generation. Von Fassbender, Lawrence und McAvroy muss man sich jetzt nach vier Filmen verabschieden – so wie vor zehn Jahren von Ian McKellan, Patrick Stewart und Famke Janssen.
In Hollywood mutieren eben selbst Mutanten.
Literatur:
Drehli Robnik (Hrsg.): »Put the X in PolitiX. Machtkritik und Allianzdenken mit den X-Men-Filmen«; Neofelis Verlag, Berlin 2019 [ISBN: 978-3-95808-235-9]; 16,00 €