USA 2017 · 105 min. · FSK: ab 0 Regie: Lee Unkrich, Adrian Molina Drehbuch: Adrian Molina, Matthew Aldrich Musik: Michael Giacchino Kamera: Matt Aspbury, Danielle Feinberg Schnitt: Steve Bloom, Lee Unkrich |
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Besuch bei den lebenden Toten |
»Take care of all your memories« said my friend, Mick »For you cannot relive them«. -Bob Dylan, Open the Door, Homer
»Aber plötzlich war es, als stammelte eine Leuchtschrift von Blitzen Nachrichten in die wilde Landschaft hinaus, und sie erkannten die erstarrten, schwarzweißen Gestalten. Und während sie auf den Donner warteten, hörten sie auch ihr leises Weinen und Klagen, das der Wind zu ihnen herübertrug. Der Singsang an den Gräbern ihrer Lieben, ihre Gebete und ihr leises Gitarrenspiel klangen ihren Ohren wie gespenstisches Geklingel, wie windverwehtes Glockenläuten...« -Malcom Lowry, Unter dem Vulkan
So ganz traut Disney seinem eigenen Sub-Studio Pixar dann wohl doch nicht. Denn statt der üblichen maximalen sieben Minuten Vorfilm, die in den letzten Jahren vor jedem neuen Pixar-Film als Dreingabe inkludiert waren, gibt es dieses Mal gleich 21 Minuten. Und nicht eine Geschichte aus dem Hause Pixar, sondern ein Spin-Off des bislang erfolgreichsten Animationsfilms aller Zeiten, des Disney-Klassikers Die Eiskönigin – wird geboten. Keine Frage, da muss etwas nicht stimmen, wenn derartig vorgeglüht wird und das Prinzip, dass gut geschmalzt bekanntlich besser hält, in diesem Ausmaß angewandt wird.
Und es ist tatsächlich schade, dass Disney sich zu diesem radikalen »Entschärfer« hat hinreißen lassen, denn Coco – Lebendiger als das Leben ist nach WALL·E, Oben und Alles steht Kopf der vielleicht ambitionierteste und riskanteste Film aus dem Hause Pixar. Zwar bietet Pixar wie üblich ausreichend Möglichkeiten für perfektes identifikatorisches »Sehen« aller Altersgruppen, wird auch in Coco ein kultureller Raum – in diesem Fall Mexiko – liebevoll und mit akribischer Ethnografie erschlossen. Doch unter der Regie von Lee Unkirch entscheidet sich Pixar dieses Mal für ein zentrales Thema, das zwar bereits in Oben eindrucksvoll angerissen wurde, in Coco aber nun völlig ausgereizt wird und in unserer nach ewiger Jugend strebenden Gesellschaft tabuisierter nicht sein könnte: Alter und Tod.
Um diese Thematik kindertauglich zu transformieren begibt sich Coco in die Feierlichkeiten des »Día de Muertos«, den in Mexiko vom 31. Oktober bis 2. November gefeierten »Tag der Toten«. An diesem Tag, an dem es in Mexiko nicht nur um die Toten, sondern auch um Musik geht, stellt sich der 12-jährige Miguel dem großen Trauma seiner Familie entgegen, das völlig undenkbare Verhalten seines Ur-Ur-Großvaters, der Frau und Kind für die Musik verlassen hatte. Seitdem ist nicht nur die Erinnerung an Miguels Ur-Ur-Großvater tabu, sondern auch jegliche Art von Musik. Doch in seinem wilden Aufbegehren, »sein« Leben leben zu wollen und die Familiengeschichte hinter sich zu lassen, gelingt es Miguel auch, die Schwelle zum Reich der Toten zu überwinden und zu erkennen, dass Erinnerung tatsächlich mehr als nur ein Wort, mehr als ein folkloristisches Fest ist und vor allem historische Wahrheiten es verdient haben, immer wieder neu hinterfragt zu werden.
Über diese immer wieder überraschende und furios verschachtelte Geschichte gelingt es Coco nicht nur die Tragik generationsübergreifender Traumata spielerisch und spannend zu erschließen – ohne dabei den Ernst der Sache zu verraten – sondern auch die schwer zu begreifende Tatsache menschlicher Vergänglichkeit greifbar zu machen. Zwar wird dann und wann ein wenig zu stark der folkloristische Tuschekasten bedient, werden Grautöne dezidiert ausgespart und haben gerade die für den Film geschriebenen Songs, die gleichberechtigt neben traditionellem, mexikanischem Liedgut stehen, grenzwertiges Kitschpotenzial, vor allem in ihrem allzu eindeutigen Bemühen, über den Ernst des (Ab-) Lebens hinwegtrösten zu sollen. Doch da Coco gleichzeitig die gefährliche Falle religiöser Verbrämung tadellos umschifft und dann ja auch so etwas wie ein politisches Statement gegen Trump ist, in dem Mexiko einmal nicht durch eine Mauer abgeschottet werden soll, sondern in seiner kulturellen Einzigartigkeit umarmt wird, soll das nur Randnotiz bleiben.
Viel mehr sei deshalb die Betonung darauf gelegt, dass Pixar erneut ein wirklicher »Familienfilm« geglückt ist. Nicht nur, weil er Grundschüler und Altenheimbewohner gleichermaßen verblüffen sollte, sondern vor allem, weil er zwischen den Generationen, die sich den Film gemeinsam ansehen, also Eltern und Kindern und Großeltern und Urgroßeltern einen Dialog über das Sterben und den Tod anregen dürfte; werden die Kinder allemal verunsichernde, knisternde, schwer zu beantwortende Fragen stellen, ganz egal wie sehr sie im Vorfeld durch Die Eiskönigig – Olaf Taut Auf sediert worden sein sollten.