Club Zero

Ö/D/GB/F 2023 · 110 min. · FSK: ab 12
Regie: Jessica Hausner
Drehbuch: ,
Kamera: Martin Gschlacht
Darsteller: Mia Wasikowska, Sidse Babett Knudsen, Luke Barker, Ksenia Devriendt, Florence Baker u.a.
Ich esse meine Pommes nicht
(Foto: Neue Visionen)

Schule der Achtsamkeit

Jessica Hausner hinterfragt in ihrem dystopisch-realistischen Essstörungsfilm mal souverän, dann wieder ein wenig vorhersehbar, aber ästhethisch überragend unsere influencer-geprägte Gegenwart

Der Kaspar, der war kern­ge­sund,
Ein dicker Bub und kugelrund,
Er hatte Backen roth und frisch;
Die Suppe aß er hübsch bei Tisch.
Doch einmal fing er an zu schrei’n:
»Ich esse keine Suppe! Nein!
Ich esse meine Suppe nicht!
Nein, meine Suppe ess’ ich nicht!«

Die Geschichte vom Suppen-Kaspar; in: Der Struw­wel­peter v. Heinrich Hoffmann

Die Idee, über den eigenen Körper Iden­ti­täts­bil­dung zu betreiben, und sei es mit auto­ag­gres­sivem Impetus, ist nicht neu; dafür reicht ein Blick in Heinrich Hoffmanns auch heute noch allzu lehr­reiche Darrei­chung zur schwarzen Pädagogik. Was damals die Schule der schwarzen Pädagogik war, ist heute mehr und mehr die neue Schule der Acht­sam­keit. Seien es die Heils­ver­spre­chen ganz­heit­li­cher Yoga-Schulen oder funda­men­ta­lis­ti­scher Ernäh­rungs­leit­li­nien wie die Makro­biotik – um völlig wahllos, also aus rein privater Betrof­fen­heit, nur zwei von vielen Möglich­keiten heraus­zu­greifen –, am Ende steht immer die Droh­ge­bärde, dass der Mensch verliert, sollte er nicht gewinnen wollen.

Jessica Hausner, die öster­rei­chi­sche Filme­ma­cherin, deren Filme (Lourdes, Amour Fou, Little Joe – Glück ist ein Geschäft) regel­mäßig Einla­dungen auf die großen Festivals der Welt erhalten haben, nimmt sich dieser heute in unzählige soziale Blasen aufge­spal­tenen Entwick­lung an und fokus­siert wie Hoffmann vor bald 200 Jahren auf das Essver­halten.

Dafür entwirft sie einen kompakten, kurz­film­ar­tigen Plot, der eine elitäre, höhere Schule für reiche Jugend­liche beschreibt, deren Eltern darauf vertrauen, dass die Schule die erzie­he­ri­schen Notwen­dig­keiten übernimmt, für die sie selbst keine Zeit haben. Diese Tendenz findet sich heute in fast jedem Kinder­garten und in jeder Schule, also trifft Hausner allein damit schon einen sehr wehen Nerv unserer Zeit.

Doch wer anderen das Feld der Erziehung überlässt, muss mit den Folgen im eigenen Haus leben, wie unan­ge­nehm sie auch seien. Diese Folgen entwi­ckelt Hausner, wenn auch nicht subtil, so doch sehr langsam, denn die von Mia Wasi­kowska großartig verkör­perte Miss Novak ist neu an der Schule und es braucht Zeit, bis sie ihre pädago­gi­sche Raffi­nesse in Bezug auf das Essver­halten ganz entfalten kann.

Diese Zeit nutzt Hausner, um die fami­liären Hinter­gründe der jugend­li­chen Gruppe, die Miss Novak zu folgen beginnt, näher zu beschreiben und auch das Prinzip Guru, das sich seit über 50 Jahren kaum geändert hat und das schon Eric Burdon in seinem Klassiker Year of the Guru (1968) so schwarz­hu­morig wie Hausner dechrif­fierte, einzu­führen.

Vor allem dieser süffi­sante, schwarze Humor macht Spaß, ist der Thematik ange­messen, um nicht gleich einen dogma­ti­schen Gegenwind zu entfachen. Und Hausner gelingt es auch, durch ein steriles, arti­fi­zi­elles Kostüm- und Szenen­bild, dessen grünliche Farb­sche­mata so anziehend wie abstoßend sind, der Thematik die notwen­digen Ambi­va­lenzen zu verleihen. Das erinnert ein wenig an Kubricks Uhrwerk Orange, aber mehr noch an die große »Ess-Dystopie« in Soylent Green, einer ebenfalls an Über­op­ti­mie­rungs­an­for­de­rungen leidenden Gesell­schaft der Zukunft im Jahr 2022, die ihre mora­li­schen Grenzen fast ebenso unmerk­lich über­schreitet wie jene in Hausners Film.

Man kann zwar darüber streiten, ob es sich Hausner etwa bei der dann doch recht stereo­typen Darstel­lung der Eltern­häuser nicht ein wenig zu einfach macht, ein Erzähl­strang, der dann auch unauf­gelöst im Nichts versandet. Und auch die Moral der Geschichte ist so wenig über­ra­schend wie die Entwick­lung des Plots. Von Anfang ist vorher­sehbar, was passiert und auch wie es passiert, was den dann doch eher negativen Kriti­ker­spiegel bei der Premiere im Wett­be­werb von Cannes erklären dürfte.

Aber Hausners Film besticht dann letztlich mehr als er enttäuscht, weil er mit einem eindrück­li­chen Ensemble, so lasziven wie klugen Dialogen und eindrück­li­chen Szenen – allein die Kotz- und »Nahrungs­zu­füh­rungs­szenen« sind den Film schon wert – konzen­triert neue Körper­kon­zepte und das heute ja schon fast selbst­ver­s­tänd­liche Influencer-Verhalten souverän demas­kiert und gerade auch ästhe­tisch souverän und unbeirrt seinen Weg geht.

Der Mensch ist, was er nicht isst

Noch einmal zur Politik des Essens: Jessica Hausners witzige Weltverbesserungssatire »Club Zero«

Das Essen, unsere Essge­wohn­heiten, und die merk­wür­dige Aufmerk­sam­keit, die hyper­mo­derne Wohl­stands­ge­sell­schaften nicht etwa Geschmacks­fragen oder der klas­si­schen Verfei­ne­rung unserer Sinne zuwenden, sondern soge­nannten Ernäh­rungs­themen, wird in letzter Zeit auch Gegen­stand des Autoren­kinos.

Es geht bei diesem neuen Trend zu Ernäh­rungs­themen, um die sich ganze Kultur­kämpfe entfalten, um das Ödeste und Unsinn­lichste am Essen, um seinen »Sinn«, um seine Opti­mie­rung, um Nahrungs­in­hal­tismus, also die Bestand­teile und den Nährwert einer Speise, um seinen »Nutzen«. Es geht hier allein um zweck­ge­rich­tetes Essen. Um Essen nicht als Genuss und Zivi­li­sa­ti­onsakt, sondern als Gesund­heits­hand­lung, und als Versuch, der Gesell­schaft etwas Gutes zu tun.

Indirekt, gewis­ser­maßen durch ein Gegenbild kriti­siert wurde das gerade erst in dem wunder­baren fran­zö­si­schen Film La passion de Dodin Bouffant (inter­na­tional: Pot au Feu; deutsch: Geliebte Köchin des Franzosen Tran Anh Hung). In offen kriti­scher Weise tut dies nun die Öster­rei­cherin Jessica Hausner (Hotel, Lourdes).

Ihr neuer Film Club Zero, der 2023 im Wett­be­werb von Cannes Premiere hatte, ist ein kühl-sanfter Science-Fiction-Film und eine Satire über unser aller Essver­halten, über die Obsession moderner Gesell­schaften mit Ernährung und Gesund­heit, aber auch darüber hinaus. Hausers Film zeichnet sich, wie von dieser Regis­seurin zu erwarten, durch besondere formale Konse­quenz aus und durch einen scharfen Blick auf die inneren Wider­sprüche moderner Gesell­schaften.

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Miss Novak (Mia Wasi­kowska), eine neue Lehrerin, kommt zu Beginn des Films an eine noble englische Boarding-Schule in einer nahen Zukunft. Die Kinder stammen aus reichem Haus, die Verhält­nisse elitär und ohne mate­ri­elle Probleme, die Kinder lernen inzwi­schen nicht mehr Latein oder Fran­zö­sisch, sondern das Hoch­chi­ne­sisch Mandarin.

Miss Novak ist aller­dings für etwas anderes zuständig: Ernäh­rungs­un­ter­richt. Sie propa­giert eine neue Methode: »Conscious Eating« (»Bewusstes Essen«), also nicht nur einfachen Konsum­ver­zicht, sondern eine radikal redu­zierte Ernährung bis hin zur Null-Diät.

Sie selbst erklärt das ihren Schülern so: »Es geht um einen Selbst­rei­ni­gungs­pro­zess: wer für eine längere Zeit keinerlei Nahrung zu sich nimmt, bei dem beginnen die Zellen, nutzlosen Abfall zu entsorgen und erneuern sich selbst. Den Prozess nennt man Autoph­agie. Sie reinigt und stärkt unseren Körper. Und genau diesen Effekt wollen wir erreichen mit unserer bewussten Ernährung. ... Autoph­agie kann sogar Krank­heiten heilen und es ist erwiesen, dass sie unser Leben um 10 bis 20 Jahre verlän­gert.«

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Dieser Film ist eine scharfe grund­sätz­liche Gesell­schafts-Satire, der unseren Trend zur Selbst­op­ti­mie­rung genauso kriti­siert, wie die neue Lust moderner Gesell­schaften an Verzichts­sze­na­rien.
Die Regis­seurin macht sich dabei einer­seits über den neuen Essens-Kitsch lustig, der über Ernährung so redet, als handle es sich um eine religiöse Handlung. So berichtet ein Prot­ago­nist von seinen Erfah­rungen mit »Conscious Eating«: »Ich konzen­trierte mich ganz auf das, was ich gegessen habe, wie es schmeckte und wie es sich in meinem Mund anfühlte. Ja und weil ich dadurch weniger Hunger verspürte, aß ich weniger und infol­ge­dessen konnte ich meinen Insu­lin­be­darf senken.«

Besonders sechs von Miss Novaks Schülern werden zu ihren gläubigen Anhängern und entwi­ckeln sich schnell zu Essfa­na­ti­kern und Über­zeu­gungs­ro­bo­tern, die, in Luxus­kla­motten und bunte Schul­uni­formen gekleidet, zunehmend ganz aufs Essen verzichten. Als sie massive Folge­re­ak­tionen und Essstörungen entwi­ckeln und krank werden, sehen sie darin gerade den Beweis, »auf dem richtigen Weg« zu sein.

Lehrerin Miss Novak ist dabei sehr von sich überzeugt. Sie macht sich die Ängste und den Wunsch der Kinder zunutze, die Welt zu verändern, und mit ihren Hand­lungen tatsäch­lich etwas zu bewirken. Sie verknüpft diese pubertär gestei­gerten Sehn­süchte mit ihrer Ideologie. Sie glaubt wirklich, die Jugend­li­chen und mit ihnen die Welt zu verbes­sern, ja zu retten. Das macht Miss Novak aber nicht sympa­thi­scher, sondern gerade besonders gefähr­lich: Ihr Glaube trifft auf das Verlangen junger Menschen, jetzt und hier alles zu verändern, und verstärkt bei einigen von ihnen die ohnehin vorhan­dene Neigung, Essstörungen zu entwi­ckeln.

Miss Novak – ist es übrigens nur ein Zufall, dass diese Frau den gleichen Namen trägt wie Lehrerin Nowak (Leonie Benesch) in İlker Çataks Das Lehrer­zimmer?

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Hausners Film hat viele Facetten. Die Regis­seurin mokiert sich einer­seits über den sekten­haften Charakter des modischen Ernäh­rung­re­gimes, über das gläubige Verhältnis, das die adoles­zenten Schüler zu ihrer mani­pu­la­tiven, von sich selbst einge­nom­menen Lehrerin entwi­ckeln, obwohl sie dies in gewisser Weise bemerken und darüber sprechen, Miss Novak habe sie fast »verhext«.

Der Film thema­ti­siert aber auch ganz grund­sätz­lich fehl­ge­lei­teten Idea­lismus und die Arroganz von Über­zeu­gungs­tä­tern und Weltret­tern, die Anders­den­kenden mit Cancel Culture und rigider Sozi­al­kon­trolle begegnen.
Es geht dabei um Glauben und neue profane Reli­gionen unserer Gegenwart, wie um verdrängte Ängste, es geht um einen Klas­sen­stand­punkt – »Wir sind die Elite, die Führungs­schicht der Gesell­schaft« – und das Bedürfnis nach Sicher­heit, ein Ende der Geduld mit der Lang­sam­keit »gewöhn­li­cher Menschen« und eine latente Verach­tung für Toleranz, Freiheit der Anders­den­kenden und demo­kra­ti­sche Mecha­nismen. Von Wissen­schaft­lich­keit und »Wahrheit« gar nicht zu reden.

Die Regis­seurin legt nahe, hier sowohl an »Fridays for Future«-Gymna­si­asten wie an gutbür­ger­liche Kritiker der Gegner von Corona-Maßnahmen zu denken.
Denn Club Zero ist vor allem eine Satire über das bour­geoise »gute Leben«, über die wohl­de­signten, pastell­far­benen, ökolo­gisch korrekten und – jeden­falls aus Sicht der Filme­ma­cherin Jessica Hausner – voll­kommen leeren Exis­tenzen in den Wohl­stands­ge­sell­schaften der Gegenwart.

Sie macht sich dabei auch über die weichen »Neuen Männer« lustig, die plötzlich anfangen, mit Küchen­schürzen herum­zu­laufen und den Haushalt zu über­nehmen. Und über ihre harten »Neuen Frauen«, die plötzlich überall CEOs sind. Daran zeigt sich: Es ist eine über­spitzte Gesell­schafts­sa­tire; kein unein­ge­schränkt realis­ti­sches Bild unserer Gegenwart, sondern eher eine sarkas­tisch-parodis­ti­sche Hoch­rech­nung auf die Zukunft.

Und es ist eine Kritik an allen sich in sich selbst suhlenden, selbst­ge­fäl­ligen, abge­ho­benen neuen Mittel­klasse-Mate­ria­listen, die sich für die besten und mora­lischsten Menschen der Welt halten, und in näselndem Ton in diesem Film Sätze formu­lieren wie: »Ich finde es so wichtig, unseren Kindern beizu­bringen, ihr Konsum­ver­halten zu redu­zieren. Es ist nicht leicht, das Richtige zu tun.«

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Zugleich enthält der Film eine beru­hi­gende Nachricht für all jene Eltern, die gerade unter dem Nahrungs­fun­da­men­ta­lismus ihrer Kinder leiden: diese Kinder werden spätes­tens dann aufhören, Vega­nismus toll zu finden und werden auch nicht auf dem Biohof erzeugte Schwei­ne­schnitzel und Curry­wurst schätzen lernen, wenn ihre Eltern erstmal anfangen, nur noch Gurken­suppen, Grün­kern­reis und Tofu-Schnitzel zu servieren.

Club Zero zeichnet sich durch besondere formale Konse­quenz aus und durch einen scharfen Blick auf die inneren Wider­sprüche moderner Gesell­schaften.