Birds of Passage – Das grüne Gold der Wayuu

Pájaros de verano

Kolumbien/DK/MEX 2018 · 120 min. · FSK: ab 12
Regie: Cristina Gallego, Ciro Guerra
Drehbuch: ,
Kamera: David Gallego
Darsteller: Natalia Reyes, Carmiña Martínez, José Acosta, Jhon Narváez, Greider Meza u.a.
Matriarchale Linien

Kultureller Ausverkauf

Der Boden ist salzweiß und ausge­trocknet. Der Himmel blau und ohne eine einzige Wolke. Nur Zugvögel in V-Formation beleben die ausge­stor­bene Szene. Das ist die Welt der Wayuu, eines Volks, das auf der Halbinsel Guajira im Nordosten Kolum­biens lebt. Bei ihnen sind Familie und Tradition von größter Bedeutung, und so muss der junge Rapayat (José Acosta) in einem Ritu­al­tanz um Zaida (Natalia Reyes), die Tochter der Matri­ar­chin Úrsula (Carmina Martínez), werben und anschließend noch einen Braut­preis in Form von Kühen und Ziegen berappen. Aber auch dafür braucht er erst einmal Geld. Mit seinem Freund und Alijuna, was in der indigenen Sprache so viel wie Außen­seiter heißt, Moises (Jhon Narváez) verkauft er den Hippies aus dem ameri­ka­ni­schen Friedens-Corps der späten 60er einige Kilo Gras. Der Handel floriert, und schon bald werden die beiden sowie Rapayats Cousin, welcher das Cannabis anpflanzt, sehr wohl­ha­bend. Doch als Moises einige ihrer Geschäfts­partner erschießt, nimmt alles eine dunkle Wendung. Die Tradition fordert es, dass Rapayat seinen Freund umbringen muss, um die Schuld zu beglei­chen. Doch als er sich weigert, muss er es bald bereuen, denn der schießwü­tige Moises entfacht eine Fehde zwischen den Wayuu-Familien.

Der Film ist in fünf 'Lieder' geglie­dert und wird in einer über­ge­ord­neten Story von einem alten Mann erzählt. Die Produ­zenten Christina Gallego und Ciro Guerra vermit­teln uns, wie schon in ihrem vorhe­rigen Film Der Schamane und die Schlange, ein Portrait der indigenen Lebens­weise. In Birds zum Beispiel mit genauen Aufnahmen des tradi­tio­nellen Korb­häkelns oder des Toten­ri­tuals. Dass die Wayuu matri­li­near orga­ni­siert sind, sowie dass sie beson­deren Wert auf Kons­an­guinität statt Affinität legen (zu Deutsch: Bluts­ver­wandt­schaft steht über Heirat), spielt im Film ebenso eine Rolle wie die Auftei­lung in verschie­dene exogame Clans, also solche, die außerhalb der eigenen Gruppe heiraten. Damit ist Birds of Passage zwar der Realität erstaun­lich nahe geblieben, trotzdem handelt es sich in dem Film eher um ein Action-Drama im Stil eines indigenen Scarface.

Dass in der Welt der Wayuu anfangs der Kapi­ta­lismus noch nicht wirklich ange­kommen ist, muss Rapayat fest­stellen, als er versucht, die Tochter Úrsulas mit den gekauften Tieren zu erwerben. Denn er wird zurück­ge­wiesen, da die Nachricht durch einen Wortboten über­mit­telt werden muss: Erst nachdem sein ange­se­hener Onkel für ihn spricht, ist die Heirat gültig. Doch die Tradition wird von dem durch das Gras­ge­schäft gewon­nenen Geldregen wegge­spült, was bleibt, ist nur ein leeres Gerüst an Formalia – einst Gesetz, heute Gerippe: Die heiligen Gräber der Toten werden zum Waffen­lager umfunk­tio­niert und die tradi­tio­nelle Holzhütte weicht einer modernen Villa. Neben der unüber­seh­baren Kapi­ta­lismus-Kritik und Themen wie kultu­reller Aneignung zeigt sich hier zentral die Rolle der Familie im Wandel der Zeit. Die einstig mächtige Úrsula, die früher immer das letzte Wort hatte, muss am Ende um Gnade flehen und verrät ihren Schwie­ger­sohn, nur um die Leiche eines Enkels zurück­zu­be­kommen. In der letzten Szene erfährt man vom Erzähler, dass ein Wayuu-Mädchen – Rapayats inzwi­schen verwaiste Tochter – zu ihm kam und nicht einmal wusste, wie man Tiere hütet. Das Vergessen ihrer Wurzeln läutet die letzte Stunde der Familie ein. Denn die Tradition, dass auf einen Mord eine Vergel­tung in genau gleichem Maßstab folgt, wird über den Haufen geworfen, gegen Ende des Films scheint die blutige Vendetta gar kein Ende zu nehmen. Gerade aber diese über­spitzte Bruta­lität macht den Film weniger glaub­würdig und nimmt den Botschaften an Wirkmacht.

Es ist inter­es­sant, dass die Wayuu nicht bloß als »edle Wilde« darge­stellt werden, sondern auch die dunkle Seite ihrer bunten Kultur gezeigt wird, wie etwa in der Ablehnung von Fremden und deren Margi­na­li­sie­rung als »Alijuna« oder dem auto­ritären Ritual der Frau­wer­dung. Auch wenn die Verknüp­fung des Anfangs des kolum­bia­ni­schen Drogen­han­dels mit dem Peace-Korps nicht klar bewiesen ist, so macht es doch eine gute Geschichte her. Weniger gut sind aller­dings die zwei unsym­pa­thischsten Charak­tere: Moises, der schießwü­tige Chaot, der immer unrea­lis­tisch unan­ge­bracht handelt, wird im Verlauf des Films von Rapayats Sohn ersetzt, der aufgrund des Reichtums seiner Familie den großen Macker spielt. Beide sind weder besonders einfalls­reich noch furcht­ein­flößend.

Die titel­ge­benden Vögel ziehen sich in verschie­denen Aufnahmen durch den ganzen Film, manchmal staken sie surreal durchs Bild, manchmal sieht man sie fern am Horizont kreisen. Zugvögel sind ein Zeichen für Vergäng­lich­keit und die sich verän­dernden Jahres­zeiten, sie stehen alle­go­risch für die großen Verän­de­rungen bei den Wayuu. Und auch wenn gerade kein Vogel vor der Kamera ist, liefert uns David Gallego packende Bilder, welche die Heimat der Wayuu und deren sich wandelnde Lebens­weise einfangen.

Die Bonanza von Marimbera

Nach dem Erfolg von Der Schamane und die Schlange legt der kolum­bia­ni­sche Regisseur Ciro Guerra die Latte noch höher. Birds of Passage wurde ausge­wählt, um die Quinzaine des réali­sa­teurs bei der 50. Ausgabe des Festivals von Cannes 2018 zu eröffnen. Dies wäre jedoch ohne die Zusam­men­ar­beit mit seiner Frau Cristina Gallego nicht möglich gewesen. Birds of Passage zeigt perfekt die Kultur der Wayúus, in der sich die indigene Sprache mit dem Spani­schen mischt. Eine unkon­ven­tio­nelle Art der Erzählung und sehr charak­te­ris­tisch für Regisseur Ciro Guerra. Birds of Passage kreiert eine Stimmung der späten 1960er Jahre, erzählt wird die Geschichte von Aufstieg und Fall einer Wayúu-Familie, einem Auswuchs der »Bonanza marimbera«, der zehn­jäh­rigen Zeit des Reichtums Kolum­biens, der sich dem Marihuana-Handel verdankte. Das »grüne Gold der Wayúu«, so der deutsche Unter­titel des Films, spielt auf den plötz­li­chen Reichtum durch Drogen­anbau an. Im Mittel­punkt steht eine Wayúu-India­ner­fa­milie, der Ursula Pushaina vorsteht, sowie ihr Schwie­ger­sohn Rapayet Abuchaibe. Ursula, Symbol der für die Wayúu typischen matri­ar­chalen Gesell­schaft, ist eine kraft­volle, heraus­for­dernde und intuitive Frau, die mit Autorität das Schicksal ihrer ganzen Familie und ihrer Gemein­schaft leiten wird.

Die Filme­ma­cher Guerra und Gallego betonen ihre Annähe­rung an die Wayúu-Kultur. Der Film ist in fünf Kapitel unter­teilt, die uns die wahre Geschichte der Wayúu-Gemein­schaft im Durchgang durch die Jahre erleben lassen: »Wildgras 1968«, »Gräber 1971«, »Wohlstand 1979«, »Krieg 1980« und »Limbus«.

Im Film spiegelt sich die Beziehung zwischen Traum und Unglück wider, die auch heute noch ein Thema ist. Die Eroberer sind hier nicht die von außen Kommenden, wie es in der Geschichte und bei Inva­sionen in ein fremdes Land üblich ist. In diesem Fall sind die Eroberer keine physi­schen Personen, es sind das Geld, die Gewehre und die Gegen­s­tände, die zu einem großen senti­men­talen Wert werden. Guerra und Gallego zeigen im Film, wie die Träume der Wayúu-Gemein­schaft durch das Streben nach Geld und den unan­ge­mes­senen Gebrauch von Waffen verschwinden, und wie sie gegen eines der Grund­ge­setze dieser Gemein­schaft, Blut im Wayúu-Gebiet zu vergießen, verstoßen. Scheinbar ist dies ein Film über das orga­ni­sierte Verbre­chen, aber mehr geht es um die indigene Welt, die sich mit der Gedanken- und Geis­tes­welt des Wayúus verbindet. Die Figuren werden religiös und zugleich psycho­lo­gisch inter­pre­tiert, sie reprä­sen­tieren auch die gefähr­liche Welt, mit ihrem unge­zü­gelten und gierigen Lebens­stil.

Die Bilder der Land­schaft sind zudem heraus­ra­gend; sie zeigen den unwirt­li­chen Wohnort der Wayúu-Gemein­schaft fernab des Dschun­gels, was über­rascht, denn es geht um den Schmuggel von Marihuana. Die Wüsten­räume vermit­teln einen Eindruck von Unend­lich­keit, und das Bild und der Klang des Windes, der die Leinwände in Richtung dieser Unend­lich­keit drückt, sugge­rieren eine myste­riöse Präsenz. Die Wildheit ist eine blut­rüns­tige Stille, das teilen uns die Schüsse mit, die in der leeren Land­schaft immer wieder vernehmbar sind. Zwei­fellos ist Birds of Passage einer der gelun­gensten Filme, die sowohl eine histo­ri­sche Tatsache wie die Bonanza von Marimbera und die Kultur einer indigenen Gemein­schaft darstellen, begleitet von den spek­ta­ku­lären Bildern der Guajira und der Sierra Nevada von Santa Marta in Kolumbien. Damit stehen Ciro Guerra und Cristina Gallego in der großen Tradition des latein­ame­ri­ka­ni­schen Kinos.