Beautiful Boy

USA 2018 · 121 min. · FSK: ab 12
Regie: Felix Van Groeningen
Drehbuch: ,
Kamera: Ruben Impens
Darsteller: Steve Carell, Timothée Chalamet, Maura Tierney, Kaitlyn Dever, Timothy Hutton u.a.
Familienwahrheit gibt es nicht

Let it unfold you

»Fort­u­n­a­tely I have a son, my beautiful boy
Unfor­t­u­n­a­tely he is a drug addict.
Fort­u­n­a­tely he is in recovery.
Unfor­t­u­n­a­tely he relapses. Fort­u­n­a­tely he is in recovery again.
Unfor­t­u­n­a­tely he relapses.
Fort­u­n­a­tely he is not dead.« ― David Sheff, Beautiful Boy: A Father’s Journey Through His Son’s Addiction

»There’s something about outward appearances that has always been important to me. I always thought I was so ugly. I mean, I really did. I remember being in L.A. at my mom’s house as a little kid and just staring into the mirror for hours. It was like, if I looked long enough, maybe I’d finally be handsome. It never worked. I just got uglier and uglier. Nothing about me ever seemed good enough. And there was this sadness inside me – this hope­l­ess­ness. Focusing on my physical appearance was at least easier than trying to address the internal shit.« ― Nic Sheff, Tweak: Growing Up On Metham­phet­amines

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Wie eng eine Vater-Sohn-Beziehung ist, zeigt sich vor allem in ihren Krisen­zeiten. Als David Sheff, ein erfolg­rei­cher, freier Jour­na­list mit der Realität konfron­tiert wird, dass die Bindung seines Sohns Nic an Drogen stärker geworden ist, als die symbio­ti­sche Bindung zu seinem Vater, beginnt eine Bezie­hungs­trans­for­ma­tion, die den Vater zu einem Co-Abhän­gigen macht, sind seine Versuche, die »alte« Beziehung wieder herzu­stellen, doch von ähnlichen Selbst­täu­schungen und Zyklen zwischen Hoffnung und Verzweif­lung geprägt wie die des von Amphet­aminen abhän­gigen Nic. Sich aus fami­liären (und damit histo­ri­schen) Abhän­gig­keiten zu eman­zi­pieren und sich gleich­zeitig auch noch von seiner Sucht zu befreien, gelingt selten. Dass beide Seiten darüber auch noch auto­bio­gra­fi­sche Bücher schreiben, noch seltener. Und dass dann ein Regisseur wie der Flame Felix Van Groeningen, der in wuchtigen, manchmal uner­träg­lich schönen Filmen wie Die Beschis­sen­heit der Dinge oder The Broken Circle Fami­li­en­kon­flikte wie zarte Holz­schiff­chen kongenial in hoch­e­mo­tio­nale, dem Fließen der Zeit folgende Wild­wasser zu setzen verstand, diese beiden Stoffe in einen Film zusam­men­führt, ist schon einem Wunder gleich­zu­setzen.

Wie in seinen beiden erwähnten früheren Filmen defrag­men­tiert Van Groeningen auch in Beautiful Boy die Linea­rität der Zeit, um das Unvor­stell­bare vorstellbar zu machen und sich der emotio­nalen Realität der Betrof­fenen anzu­n­ähern. Denn jeder Mensch hat natürlich nicht nur die Bilder seiner unmit­tel­baren Gegenwart im Kopf, sondern in einem ständigen Abgleich immer auch die seiner Vergan­gen­heit. Eine Vergan­gen­heit, die erst in dem Moment hinter­fragt wird, wenn sie als Spiegel der Gegenwart mehr verun­si­chert als bestätigt.

Diese Verun­si­che­rung ist vor allem David Sheff (Steve Carell) anzusehen, der immer verzwei­felter den Punkt in seiner gemein­samen Vergan­gen­heit mit seinem Sohn sucht, an dem der entschei­dende Fehler in der Er- und Beziehung zu seinem Sohn statt­ge­funden haben könnte, jener Fehler, der zu einer Gegenwart führt, die er nicht mehr versteht, die zur  unvor­stell­baren Gegenwart geworden ist, weil sie von einem alles über­schat­tenden Nic (Timothée Chalamet) erdrückt wird, dem Vergan­gen­heit und Gegenwart völlig egal sind, der sich vielmehr einer radikalen Selbst­de­struk­ti­vität verschrieben hat, um die nur schwer fassbaren Gespenster seiner Vergan­gen­heit und Gegenwart glei­cher­maßen zu bekämpfen.

Van Groeningen zeichnet diesen lang­jäh­rigen Prozess in all seiner brutalen Vergeb­lich­keit präzise nach, eine Bruta­lität, die in ihrer Reinform wohl kaum zu ertragen wäre. Doch da Van Groeningen sich beiden Perspek­tiven verschreibt, entsteht eine Art fragiles Gleich­ge­wicht des Leids, das einen Teil des Leidens (für den Betrachter) aufhebt. Damit wird zwar auch die emotio­nale und wilde Wucht, die in Van Groenin­gens The Broken Circle noch essen­zi­eller Subtext war, aufge­hoben, doch eröffnet sich dadurch ein fast schon thera­peu­ti­scher Zugang zu der erzählten Geschichte, der sonst kaum möglich wäre. Denn Beautiful Boy legt nicht nur offen, wie die Kern­be­zie­hung von Vater und Sohn mehr und mehr aus den Fugen gerät, sondern wie nach und nach die erwei­terten Mitglieder der Familie den mecha­nis­ti­schen Regeln der Abhän­gig­keit und Co-Abhän­gig­keit verfallen; die jungen Halb­ge­schwister und ihre Mutter Maura (Karen Barbour) ebenso wie Nics leibliche Mutter Vicky (Amy Ryan). Und dabei auch deutlich wird, dass es eine gemein­same, histo­ri­sche Fami­li­en­wahr­heit nicht nur nicht gibt, sondern wohl nie gegeben hat; eine Erkenntnis, der sich nicht einmal stabile, funk­tio­nale Familien gerne stellen.

Dass bei aller Distanz (und Erkenntnis), die Van Groeningen diesem qual­vollen Prozess einer Bezie­hungs­neu­fin­dung abringt, dann doch auch immer wieder packende Emotio­na­lität entsteht, ist neben den skal­pell­ar­tigen Schnitten zwischen Vergan­gen­heit und Gegenwart vor allem den großar­tigen schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen von Timothée Chalamet (zuletzt in Hostiles und Call Me by Your Name) und Steve Carell zu verdanken, die wie nebenbei aus diesem Vater-Sohn-Konflikt auch eine Vater-Sohn-Liebes­ge­schichte heraus­spielen, die noch lange nach­klingt und sich mit dem deckt, was Nic Sheff in einem im Oktober 2018 erschie­nenen Interview über die Beziehung zu seinem Vater gesagt hat. Und die sich dabei ebenso zu radikaler Ambi­guität bekennt, wie das als lyrischer Klang­tep­pich Beautiful Boy unter­legte Gedicht von Charles Bukowski:

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»I kissed her in the
forehead,
got down the stairway,
got outside,
got into my marvelous
car,
fixed the seatbelt,
backed out the
drive.
feeling warm to
the finger­tips,
down to my
foot on the gas
pedal,
I entered the world
once
more,
drove down the
hill
past the houses
full and empty
of
people,
I saw the mailman,
honked,
he waved
back
at me.«
― Charles Bukowski, Let it unfold you, letzte Strophe