Ballade von der weißen Kuh

Ghasideyeh gave sefid

Iran/F 2020 · 106 min. · FSK: ab 12
Regie: Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam
Drehbuch: , ,
Kamera: Amin Jafari
Darsteller: Maryam Moghaddam, Alireza Sanifar, Pourya Rahimisam, Avin Purraoufi, Lili Farhadpour u.a.
Frau ohne Mann
(Foto: Weltkino)

Kein Film ist so hart wie die Wirklichkeit

Der iranische Film Ballade von der weißen Kuh über einen Justizirrtum bringt das moralische Gerechtigkeitsempfinden in höchste Anspannung

Eine weiße Kuh steht mitten in einem Gefäng­nishof. Es ist ein surreales Bild, ein Traumbild. Kein Bild von dieser Welt. Das Regie-Paar Maryam Moghadam und Behtash Sanaeiha lässt diese rätsel­hafte Kuh im ersten gemein­samen Spielfilm zweimal als Erschei­nung auftau­chen und hebt sie auch gleich in den Titel: Ballade von der weißen Kuh.

Eine Ballade wird gemeinhin als ein bisweilen kräf­te­zeh­rendes Lang­ge­dicht verstanden. Sie erzählt hand­lungs­reich, mit vielen Plot­points, von den Höhen und Tiefen einer tragi­schen Figur. Es geht nie gut aus. Moghadam und Sanaeiha schicken so auch ihre Haupt­figur Mina, von Maryam Moghadam selbst gespielt, in einen höchst­mo­ra­li­schen Plot von Schuld und Sühne, der am Ende kein Erbarmen und auch keinen Ausweg aus einer repressiv-mora­li­schen Gesell­schaft kennt.

Der Film beginnt, wo die erste große Tragik im Leben von Mina bereits hinter ihr liegt. Ihr Mann Babak wurde wegen Mordes zum Tode verur­teilt und hinge­richtet. Wie wir aus Mohamad Rasoulofs Doch das Böse gibt es nicht wissen, der jüngst im Kino zu sehen war, ist das Verhängen und Durch­führen der Todes­strafe im Iran Karrie­re­booster für Beamte und Über­le­bens­stra­tegie für Soldaten. Staat­liche Henker sind dort Bestand­teil des Systems, und erst wenn man Ballade von der weißen Kuh vor der Folie dieser bei Rasoulof erzählten Unaus­weich­lich­keit der irani­schen Todes­strafe sieht, wird die ganze tragische Dimension der Geschichte deutlich.

Wie ein Sequel von Doch das Böse gibt es nicht erzählt Ballade von der weißen Kuh, wie es nach der Hinrich­tung für die Hinter­blie­benen, hier die junge Witwe Mina, weiter­geht. Auf dem Sozialamt versucht sie, Unterhalt für sich und ihre gehörlose Tochter zu erhalten, vergebens. So rackert sie sich in einer Molkerei ab, reinigt und füllt Flaschen ab, steht mit einer weißen Haube den ganzen Tag am Fließband.

Nach der Arbeit holt sie ihre sieben­jäh­rige Tochter von der Schule ab. Die Hinrich­tung von Babak, so stellt sich bald heraus, war ein Justiz­irrtum. Aber es war auch »Gottes Wille«, so die Staats­be­amten, deshalb sei es auch schwer, ihr ein »Blutgeld« als Entschä­di­gung zu zahlen. Babaks Bruder will unbedingt das Kind zu sich holen und Mina das Sorge­recht entziehen. Während wir einer Frau zusehen, die um ihr Recht und für Entschä­di­gung kämpft, die für ihr Kind eine überaus müde, aber trotzdem beharr­liche Mutter ist, wird ziemlich deutlich klar: Eine Frau ohne Mann ist in der irani­schen Gesell­schaft einfach nichts wert.

Das Drehbuch ist zu seiner Haupt­figur uner­bitt­lich hart und könnte auch aus der Feder des für seine Sozi­al­dramen berühmt-berüch­tigten Briten Paul Laverty stammen, der vor allem in der Zusam­men­ar­beit mit Ken Loach von den gesell­schaft­lich Abge­hängten erzählt. Auch Mina ist so eine Abge­hängte. Und so nimmt der Plot immer neue uner­bitt­liche Wendungen, bis Mina kurz davor steht, nach ihrem Mann auch noch ihr Kind vor Gericht zu verlieren. Doch da klopft wie ein Deus ex machina ein Unbe­kannter an ihre Tür, der sich als Babaks Freund Reza vorstellt. In der sonst so feind­se­ligen Welt ist Reza (Alireza Sanifar) der erste Mann, der aus dem Schema fällt und der erste Licht­blick von Humanität in einer Welt, die angeblich von Gott geleitet wird. In der der Prophet die Urteile fällt und in der es heißt: »Die Todes­strafe ist ein Menschen­recht.«

Mit dem Eintreten von Reza in Minas Leben wird im weiteren eine sich eigent­lich ausschließende Figu­ren­kon­stel­la­tion ins Spiel gebracht – die den Plot an eine mora­li­sche Grenze führt, an der er unwei­ger­lich zu Ende gehen muss. Denn auch Reza, die Perso­ni­fi­ka­tion des Guten, ist nur ein Trugbild, wie die weiße Kuh im Gefäng­nishof. Bis in die letzten Winkel leuchtet das Drehbuch so auf uner­bitt­liche Weise eine Gesell­schaft aus, aus der es keinen Ausweg gibt. Hier ist der Zugang zu Recht und Gerech­tig­keit, auch der mora­li­schen, versperrt. Letztlich gilt das für alle, die nicht im Staats­dienst stehen, und natürlich und besonders für die allein­ste­hende, auch verwit­wete, Frau.

Vermut­lich ist Mina, die Molke­rei­ar­bei­terin, die titel­ge­bende weiße, traum­hafte Kuh, die in der Mytho­logie als Inbild der Schönheit gilt. Und auch wenn Mina meist in dunkle Trau­er­farbe verhüllt und mit abge­kämpftem Gesicht und müden Beinen durch Teheran getrieben wird, gibt es auch Szenen, die sie als Frau zum Vorschein bringen und sie begeh­rens­wert und schön erscheinen lassen. Viele Codes geben ahnungs­volle Andeu­tungen von einem nicht ausfor­mu­lierten Subplot, etwa, wenn das schwarze Tuch gegen ein rotes einge­tauscht wird, wenn Mina sich die Haare färbt oder Lippen­stift aufträgt. Allein das auf der Leinwand zu sehen ist in seiner sexuellen Dechif­frier­bar­keit und deut­li­chen Insze­nie­rung weib­li­cher Reize für einen irani­schen Film eine Provo­ka­tion. So ist der Film, der auf der letzt­jäh­rigen Berlinale Premiere hatte, im Iran auch noch unter Verschluss und kann nicht gezeigt werden.

Mit seinen uner­bitt­li­chen Plot­points ist Ballade von der weißen Kuh auch als Film­erlebnis eine Heraus­for­de­rung. Man kann kaum mitan­sehen, was der Prot­ago­nistin wider­fährt, und nur mit Mühe die aufge­fah­rene Gott-ist-gerecht-Argu­men­ta­tion aushalten. Es lässt verzwei­feln, wenn es am Ende doch keinen Licht­blick gibt. Mit großer Inten­sität zieht der Film gnadenlos in das Wech­selbad der Leinwand-Figur hinein. Ballade von der weißen Kuh reiht sich so auch in höchst provo­zie­rende Filme der letzten Kino­mo­nate ein: Während Julia Ducour­naus Titane ein physi­sches Kino bis zur Schmerz­grenze zeigte und Leos Carax' Annette ästhe­ti­sche Gewohn­heiten zum Wanken brachte, stellt Ballade von der weißen Kuh jetzt das ganze mora­li­sche Werte­system auf die Probe. Das ist nicht angenehm, aber absolut notwendig und ein Durch­spül­vor­gang für unser euro­päi­sches Gerech­tig­keits­emp­finden. Bei allem sollten wir nie vergessen: Kein Film ist so hart wie die Wirk­lich­keit.