Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten

Bardo, falsa crónica de unas cuantas verdades

Mexiko 2022 · 160 min. · FSK: ab 16
Regie: Alejandro G. Iñarritu
Drehbuch: ,
Kamera: Darius Khondji
Darsteller: Daniel Giménez Cacho, Ximena Lamadrid, Andrés Almeida, Meteora Fontana, Griselda Siciliani u.a.
Auch Nachtclubs sind barock
(Foto: Netflix)

Mexikanische Passionsgeschichte

Viele gute Ansätze, aber wenig funktionierende Konzeption: Alejandro González Iñárritus neuer Film Bardo verliert sich in den inneren Befindlichkeiten seines Regisseurs

Anders als genial kann man diesen Anfang wohl nicht bezeichnen. Wir befinden uns in einem mexi­ka­ni­schen Kran­ken­haus, in dem gerade ein Kind zur Welt gebracht wird. Der Junge ist gesund und munter, hat aber keine große Lust auf seinen Start in diese Welt. Der Arzt ist natürlich kulant und schiebt ihn kurzer­hand wieder zurück in die Mutter. Diese ist verständ­li­cher­weise genauso verdat­tert wie der Vater, aber da bleibt wohl nichts anderes übrig, als die Entschei­dung des Nach­wuchses zu akzep­tieren. In der nächsten Szene sitzt der Beinahe-Papa in der Straßen­bahn, eine Tüte in der Hand, gefüllt mit Wasser und drei Axolotl. Als er sie in einem Moment der Unacht­sam­keit fallen lässt, ist der ganze Waggon über­flutet. Die Welt in Bardo funk­tio­niert offenbar nicht nach normalen Regeln. Oder ist es nur die von Silverio (Daniel Giménez Cacho), der hier durch sein inner­li­ches Mexiko driftet?

Nach einem solchen Start sind die Erwar­tungen an den Rest des Films natürlich hoch. Das liegt aber auch an seinem Regisseur selbst, niemand gerin­gerem als Alejandro González Iñárritu, der bereits mit Birdman und natürlich The Revenant zahl­reiche gute Kritiken und Auszeich­nungen für sich bean­spru­chen konnte. Nun geht er mit Bardo (Kompletter Titel: Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahr­heiten) einen intro­spek­ti­veren Weg. Denn die Paral­lelen zwischen ihm und seiner Haupt­figur sind mehr als offen­sicht­lich. Statt einer bloßen Auto­bio­grafie liefert Iñárritu dem Publikum aber lieber ein Werk, das vor surrealen Ausschwei­fungen und Selbst­re­fe­renzen nur so strotzt.

Dreh- und Angel­punkt des Films ist der mexi­ka­nisch-stämmige Jour­na­list Silverio. Nachdem er sich in den USA zum erfolg­rei­chen Doku­men­tar­filmer entwi­ckelte, kehren er und seine Familie zu einer Preis­ver­lei­hung zurück in die alte Heimat. Von diesem Theater zu seinen Ehren ist er nicht gerade begeis­tert. Weniger, weil er selbst so bescheiden wäre, sondern weil das Wieder­sehen mit der mexi­ka­ni­schen Erde ungeahnte Neben­wir­kungen erzeugt. So verbringt Silverio seinen Aufent­halt in einem demü­ti­genden Fieber­traum, in dem sich die Geschichte seines Landes, Iden­ti­täts­fragen und Selbst­ver­leug­nung zu einem verwir­renden Strudel zusam­mentun. Nach einiger Zeit lässt sich auch für das Publikum nicht mehr genau entzif­fern, was hier eigent­lich passiert. Absurder Surrea­lismus wechselt mit Momenten, die eins zu eins aus dem Leben Iñárritus zu kommen scheinen, Metaphern und eindeu­tige Aussagen gehen Hand in Hand. Irgend­wann befindet sich die Haupt­figur sogar im Dialog mit Cortés, dem brutalen Eroberer des Landes.

Nun bietet Bardo nicht nur einige gelungene Mindfuck-Momente, sondern auch unzählige Anknüp­fungs­punkte zur Diskus­sion verschie­denster Motive: der Konflikt zwischen Mexiko und den USA, Verrat der eigenen Wurzeln, der Wert künst­le­ri­scher Authen­ti­zität, der menschelnde Blick vom intel­lek­tu­ellen Elfen­bein­turm und so weiter und so weiter. Man hat jedoch das Gefühl, dass alle diese Fäden immer nur an einem einzigen Punkt zusam­men­laufen, nämlich bei Silverio und so letzten Endes bei Iñárritu selbst. Bardo stellt große Fragen und Themen in den Raum, aber im Endeffekt bleibt er bei einer reinen Selbst­be­schau. Keine Frage, es gibt hier großar­tige Szenen. Zum Beispiel wenn Silverio als Exilant versucht, in seinem Sohn ein Fünkchen Heimat­ver­bun­den­heit zu wecken, aber in nichts als leeren Phrasen endet. Als er dann wirklich mit der Kamera im Flücht­lings­strom Richtung USA steht, wird deutlich sichtbar, wie wenig ihn mit diesem Land und dessen Menschen noch verbindet. Heimatlos, doch privi­le­giert steht er da, kann sich immer auf den jour­na­lis­ti­schen Wert seiner Arbeit berufen, doch die Verwur­ze­lung, die er sich im Innersten wünscht, kann er nur von oben betrachten und nicht greifen.

Der Knack­punkt ist aber eben der, dass das alles um sich selbst kreist. Über die ganzen Elemente, die Bardo anschneidet, erfährt man letzt­end­lich nicht viel, außer dass sie seinen Regisseur umtreiben. Hinzu kommt, dass er sich in den vielen Fäden verhed­dert, die er ausspannt. So kommt ein Film heraus, der merk­würdig unein­heit­lich wirkt. Iñárritu wollte anschei­nend sehr viel auf einmal, nur nicht seine Ideen aussieben. Der Ausflug in die Metaebene darf dabei natürlich auch nicht fehlen. Der Film selbst wird in der Handlung immer wieder thema­ti­siert, vor allem die »doku­men­ta­risch-fiktio­nalen« Elemente. Bei dieser Gele­gen­heit nimmt Iñárritu in einer Szene auch gleich die Vorwürfe der Kritiker vorweg. Das mögen alles schöne Gedan­ken­spiele sein, am Ende über­frachten sie jedoch den Film selbst und verwirren das Publikum (im negativen Sinne). Wenn man Bardo ansieht, hat man mehr den Eindruck, ein Expe­ri­ment zu sehen, als einen fertig durch­kom­po­nierten Film. Damit ist weniger das Genre des Expe­ri­men­tal­films gemeint, sondern mehr das, was Andrei Tarkowski in »Die versie­gelte Zeit« schreibt: »Ein Künstler kann so viel herum­ex­pe­ri­men­tieren, wie er will. Das bleibt seine ganz persön­liche Sache. Doch von dem Moment an, wo er sein Suchen auf dem Film­streifen festhält (…), das heißt, sein Konzept objek­ti­viert, muss davon ausge­gangen werden, dass er bereits das gefunden hat, was er dem Zuschauer mit filmi­schen Mitteln sagen will.« Gefunden hat Iñárritu zwar einiges, aber die Kompo­si­tion, die daraus entsteht, wirkt enttäu­schend unfertig. Dass man einmal das über einen Film dieses Mannes sagen muss, hätte man beim Erfolg von Birdman sicher nicht gedacht.

Nun, im Nach­hinein hat der Regisseur dann doch noch mal Hand angelegt. Bei seiner Premiere in Venedig noch drei Stunden lang, ist Bardo für seine Kino- und Netflix-Veröf­fent­li­chung um 22 Minuten leichter geworden. Leider zieht er sich trotzdem noch in die Länge. Den Film nun komplett zu verdammen, fühlt sich hingegen auch falsch an, wie gesagt, gibt es immer wieder Momente, die restlos über­zeugen, egal ob mit Humor, Trau­rig­keit oder Hinter­sinn. Insgesamt hat man jedoch den Eindruck, vor einem Selbst­be­die­nungs­bü­fett zu stehen, dessen Gerichte nicht recht zusam­men­passen wollen. Wahr­schein­lich weil der Küchen­chef einfach nur Speisen präsen­tieren wollte, die ihm Magen­schmerzen bereiten.

Intensität und Freiheit

Kontinent Mexiko: Alejandro González Iñárritus Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten

Dies ist ein Film, den man nur verstehen und würdigen kann, wenn man sich erst einmal auf den Flow einlässt. Es ist nicht unkom­pli­ziert, diesen fast drei Stunden langen, facet­ten­rei­chen Film bündig zusam­men­zu­fassen und zu erklären. Weil er ausufert und allerlei Neben­stränge hat. Man muss den Sinn für seine barocke Form und unkon­ven­tio­nelle Erzähl­weise erst in sich wachsen lassen, denn diese ist das eigent­liche Erzähl­me­dium. Eine Geschichte im klas­si­schen Sinn gibt es viel weniger, sie ist dünn und hört sich dann auch ein bisschen banal an, wenn man sie in ein, zwei Sätzen erzählen würde.
Reflek­tieren und Distan­zieren von Anfang an wäre die falsche Option. Man wird dann nicht die Qualität dieses Films erfassen, die insbe­son­dere im Visuellen liegt, darin, dass er überladen und barock ist, dass er mit Bildern erzählt, mit Objekten, am aller­we­nigsten mit Worten.

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Alles beginnt mit erstaun­li­chen Bildern, absurden Szenen in schneller Abfolge: Dreimal hebt ein Schatten vom Wüsten­sand ab, erst beim dritten Mal fliegt er auch davon, und die Leinwand zeigt Wüste von oben so weit das Auge blicken kann.
Die zweite Szene zeigt dann eine Geburt: Irgend­etwas ist mit dem Neuge­bo­renen. »Er will drin bleiben«, sagt der Arzt fassungslos.
Das dritte Bild zeigt dann die Haupt­figur beim morgend­li­chen Aufstehen: Ein Schrift­steller, der sich auf ein Interview vorbe­reitet. In den Fern­seh­nach­richten hört er: »Amazon kauft Mexikos Bundes­staat Baja Cali­fornia.«
Nein, es ist keine ganz realis­ti­sche Welt, die Alejandro González Iñárritu zeigt. Absur­dismus regiert.

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Ein Tagtraum. Bardo, der neueste Spielfilm vom Mexikaner Alejandro González Iñárritu, der im Unter­titel »Falsche Chronik einiger Wahr­heiten« heißt, erzählt drei Stunden lang und eher episch als drama­tisch ein mit vielen Tagträumen und Phan­ta­sien gespicktes episo­disches Statio­nen­drama.

Es erzählt von einem mexi­ka­ni­schen Schrift­steller in der Lebens­krise. Im Zentrum steht ein Endfünf­ziger, Schrift­steller und Jour­na­list, der in den USA einen großen Preis gewinnt, einen »Gringo Award«, und aus diesem Anlass auf sein Leben zurück­blickt. In Tagträumen und Visionen begegnet er sich selbst in der Kindheit; er begegnet seinem toten Vater; seinem unge­bo­renen Sohn; den Frauen seines Lebens; aber er begegnet auch den Toten der mexi­ka­ni­schen Geschichte; etwa dem Spanier Hernán Cortés, der vor 500 Jahren Mexiko eroberte und begrün­dete, und der jetzt über »500 Jahre Miss­ver­ständnis« klagt, und Gerech­tig­keit fordert; er begegnet den Soldaten des US-mexi­ka­ni­schen Kriegs im 19. Jahr­hun­dert; er begegnet Geistern und Visionen.

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Iñárritu schafft immer wieder großar­tige Bilder, sie sind katho­lisch, sinnlich, satt. Zum Beispiel eine Mutter, die im Kran­ken­haus­gang eine meter­lange Nabel­schnur hinter sich her zieht, einen Haufen von Toten auf dem größten Platz von Mexiko-City, der riesigen Plaza de la Consti­tu­ción. Ein andermal fallen plötzlich auf einer Straße alle Passanten in Tief­schlaf. Sand ist zenti­me­ter­hoch in der Wohnung, eine Straßen­bahn ist voller Wasser.
Dieser Regisseur will immer alles: eine persön­liche und sicher auch auto­bio­gra­phi­sche Geschichte erzählen, und die Geschichte eines ganzen Landes, einem viel­leicht besonders inter­es­santen Land, seines Mexiko; er will dem großen Federico Fellini huldigen, und sehr sehr große Bilder schaffen voller surrealer und phan­tas­ti­scher Effekte.

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Besser so als anders. Besser zuviel wollen als zuwenig. Besser unsauber sein als porentief rein. Besser Gourmand als Fasten. Besser Fast Cinema als Slow Cinema.

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Viermal hat er schon einen Oscar gewonnen, darunter zweimal für die beste Regie, einmal für den besten Film. Mehrere weitere Male war er nominiert, und auch sonst gab es schon viele Auszeich­nungen für den Mexikaner Alejandro González Iñárritu und seine Filme.
Iñárritu ist einer der »drei Muske­tiere des mexi­ka­ni­schen Kinos« – wie die etwa gleich alten Guillermo del Toro und Alfonso Cuarón, mit denen er seit den Zeiten auf der Film­hoch­schule befreundet ist, wagte er den Sprung nach Hollywood, lernte die Regeln des »Hollywood Game« und gewann: Zwischen 2013 und 2019 gewannen allein diese drei Regis­seure fünfmal in sechs Jahren den Oscar für beste Regie.
Auch Iñárritus neuer Film Bardo dürfte, wie del Toros Pinocchio im kommenden Jahr, wieder gute Chancen haben: Hierin erzählt Iñárritu eine fast biogra­phisch persön­liche Geschichte: Im Zentrum steht ein Mensch, Künstler zudem und Ende 50, der wie der Regisseur zwischen den USA und Mexiko, zwischen zwei Kulturen lebt.

Wenn wir an die Filme von Iñárritu denken, dann fällt uns ein breites Spektrum ein: Filme, die verschie­denste Erzähl­stränge durch eine kompli­zierte Struktur verbinden wie Amores perros oder 21 Gramm, Filme, die im Kleinen ein Bild des ganz Großen zeichnen, der ganzen Welt nämlich, wie Babel. Filme, die in Amerika spielen und von Träumern und Künstlern erzählen wie Birdman und zuletzt natürlich The Revenant, in dem sich Leonardo DiCaprio lange Zeit ganz allein und schwer verwundet durch einen winter­li­chen Wald im Wilden Westen kämpft.

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Bardo ist eines dieser Werke, in denen alles eine Rolle spielt. Ob ein scheinbar irrele­vantes visuelles Detail oder sogar ein bestimmtes Geräusch, das wir zwei Minuten später vergessen (glauben) – Iñárritu beweist eine wirklich beein­dru­ckende Liebe zum Detail. Jede Szene ist gekonnt in langen, unun­ter­bro­chenen Einstel­lungen gedreht, wobei die Kame­rafüh­rung, Schnitt, Bild­ge­stal­tung allesamt meis­ter­lich sind.

Die Erzählung erreicht ihren Höhepunkt, als sie sich der Frage zuwendet, wie sich die Einwan­de­rung auf die Ambi­tionen, die Wünsche und das gesamte Leben jedes Mitglieds dieser Familie im Mittel­punkt des Films ausge­wirkt hat. Die Heuchelei, die in den Diskus­sionen über die Unter­schiede und Gemein­sam­keiten zwischen dem Leben in den Verei­nigten Staaten von Amerika und in Mexiko zum Ausdruck kommt, ist scharf und für einen Augen­blick sehr realis­tisch: »This is my home.« – »No this is not your home, Sir. You cannot call this place your home.«

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Ein ausge­zeich­neter Film, gutge­launt, mit viel Musik und sehr musi­ka­lisch insze­niert, humorvoll und warm­herzig. Ein Film über die Unein­hol­bar­keit des Lebens und der Erin­ne­rungen: Bardo ist auch ein Manifest gegen die, wie es im Film heißt, »pasteu­ri­sierte Wirk­lich­keit« unseres Lebens in den reichen west­li­chen Ländern – gegen das allzu brave, gedämpfte, über­re­gu­lierte Leben, das zwar Sicher­heit und Wohlstand bietet, aber uns – so zeigt dieser Film, und so argu­men­tiert seine Haupt­figur –, vergessen lässt, worauf es im Leben wirklich ankommt: Inten­sität und Freiheit.