Andrea lässt sich scheiden

Österreich 2023 · 93 min. · FSK: ab 6
Regie: Josef Hader
Drehbuch:
Kamera: Carsten Thiele
Darsteller: Birgit Minichmayr, Josef Hader, Robert Stadlober, Thomas Schubert, Maria Hofstätter u.a.
Wilder Westen im Weinviertel
(Foto: Majestic/Paramount)

Schuld und Sühne im Weinviertel

Josef Haders zweite Regiearbeit ist eine lakonische Tragikomödie und ein subtiles Porträt des Lebens auf dem Land im niederösterreichischen Weinviertel

Schon die erste Szene weckt große Vorfreude, die sich mit jedem der kargen Dialoge steigert: Das wird ein groß­ar­tiger Film mit trockenem Humor und schrägen Charak­teren. Ein paar Minuten später dämmert einem: das könnte eine ernste Tragödie werden mit Charak­teren wie du und ich. Diese Ambi­va­lenz bleibt nicht die einzige Irri­ta­tion.

Mit dem Wein­viertel, wo der Film spielt, asso­zi­iert man dick panierte Schnitzel und Erdäpfel, dazu ein Viertel Grünen Veltliner. Außerdem natürlich urige Keller­gassen und male­ri­sche Burg­ruinen, die auf sanften Hügeln über ausge­dehnten Wein­bergen thronen. Solche touris­ti­schen Erwar­tungen bleiben ebenfalls unerfüllt.

Josef Hader zeigt nicht das genuss­volle Leben auf dem idyl­li­schen Land, nach dem sich so viele Großs­tädter sehnen, weil die Welt dort noch in Ordnung sein soll. Statt­dessen den proble­ma­ti­schen Alltag in der grauen, tristen Provinz.

Grau und trist, weil die Dörfer schmucklos sind und viele Häuser halb verfallen. Proble­ma­tisch, weil die jungen Bewohner wegge­zogen sind und die alten an der Flasche hängen.
Und weil die Poli­zistin, Andrea (Birgit Minich­mayr, cool wie John Wayne und Clint Eastwood zusammen), sich scheiden lassen will und ihr sturz­be­sof­fener Ehemann, Georg (Thomas Schubert), um eine letzte Chance bettelt. Prompt glauben andere Männer, es sei der gold­rich­tige Zeitpunkt, Andrea anzu­bag­gern, obwohl sie ebenfalls ein paar Biere und Schnäpse zu viel gekippt haben.

Während man amüsiert schwankt zwischen Vergnügen, innerem Kopf­schüt­teln und Betrof­fen­heit über die Trieb­haf­tig­keit der Männer, schlägt das Schicksal gnadenlos zu. Auf der nächt­li­chen Fahrt nach Hause spürt Andrea einen dumpfen Zusam­men­prall. Als sie aus dem Auto steigt, liegt vor ihr reglos auf dem Asphalt weder ein Reh noch ein Wild­schwein – wie man fast schon gehofft hat –, sondern ihr Noch-Ehemann, Georg. Andrea versucht ihn wieder­zu­be­leben. Ohne Erfolg.

Als Poli­zistin weiß sie ganz genau, wie sie sich verhalten muss. Den Notarzt und die Kollegen alar­mieren und sich keinen Zenti­meter vom Unfallort entfernen, bis sie eintreffen. Als Mensch entscheidet sie sich dafür, ins Auto zu steigen und nach Hause zu fahren, als wäre nichts gewesen.

Spätes­tens jetzt glaubt man wirklich zu wissen, wie die Geschichte laufen wird: Die Poli­zei­kol­legen werden das Verbre­chen (die Fahrer­flucht) Schritt für Schritt aufklären. Andrea wird leugnen und sich immer tiefer in ihre Schuld verstri­cken. Notgeile Männer werden versuchen, Andreas Dilemma für sich auszu­nutzen. Selbst­ge­rechte Dorf­be­wohner könnten Fahn­dungs­eifer entwi­ckeln und Andrea auf eigene Faust über­führen und verraten.

Doch statt­dessen schlägt die Geschichte eine Reihe akro­ba­tisch scharfe, aber­wit­zige Haken wie ein besonders gewitzter Hase auf der Flucht über die Felder Niederös­ter­reichs. Wobei er sich hinter jedem Gebüsch ins Pfötchen lacht.

Franz (Josef Hader grandios als depres­siver Lehrer und als Regisseur) fährt den leblosen Körper auf der unbe­leuch­teten Straße an. Er alarmiert Notarzt und Polizei, wie es sich gehört. Diese über­ra­schende Volte könnte Andreas Rettung sein. Wäre Franz nicht ein verein­samter depres­siver Lehrer, der fest davon überzeugt ist, einen Menschen getötet zu haben.

Spätes­tens an dieser Stelle wird klar: Andrea lässt sich scheiden lässt sich keinem Genre zuordnen. Bisher chan­gierte die Geschichte zwischen bitter­bösem Heimat­film und skurriler Charak­ter­komödie. Doch anstatt die Charak­tere zu entblät­tern, so dass man sie immer besser kennen lernt, hält Josef Hader sie undurch­schaubar, so dass sie rätsel­haft bleiben und sogar noch rätsel­hafter werden.

Tatsäch­lich gibt es ein aus der Mode gekom­menes Film-Genre, bei dem Charak­tere ihr Innen­leben ebenso wenig auf der Zunge zur Schau tragen. Bei dem sie weder lachen, ständig lächeln und so gut wie nie Smalltalk führen. Bei dem sie quälend lange nach­denken, bevor sie antworten oder einfach weiter schweigen, als hätten sie die Frage nicht gehört. Norma­ler­weise spielen die Geschichten dieses Genres in den Verei­nigten Staaten des 19. Jahr­hun­derts, also im Wilden Westen, weswegen sie Western heißen.

Gibt es noch mehr verblüf­fende Gemein­sam­keiten zwischen dem Wilden Westen und dem niederös­ter­rei­chi­schen Wein­viertel? Also zwischen Western und Andrea lässt sich scheiden? Und ob! Wie in allen groß­ar­tigen Filmen geht es vorder­gründig um den Kampf zwischen Gut und Böse. Und tief­gründig um die Einsicht, dass man Gut und Böse manchmal gar nicht fein säuber­lich ausein­an­der­halten kann. Dass sie sich gegen­seitig bedingen. Dass sie zwei Seiten einer Medaille sind. Dass aus etwas Bösem etwas Gutes entstehen kann. Und anders herum.

Die schönste Gemein­sam­keit zwischen Western und Andrea lässt sich scheiden ist, dass einfache Menschen, von denen man es nicht erwartet hätte, weit über sich hinaus­wachsen und mutige Entschei­dungen treffen. Und zwar ohne, dass man sie darum gebeten hätte.

In diesem Sinne ist Josef Haders zweite Arbeit als Regisseur gleich­zeitig ein pessi­mis­ti­scher und ein opti­mis­ti­scher Film. Er zeigt die ganze Härte des Lebens ebenso wie das gigan­ti­sche innere Potential der Menschen, die unter ihm leiden. Die hart­nä­ckig ihr Glück suchen und auch eine Chance haben, es zu finden.