All My Loving

Deutschland 2019 · 116 min. · FSK: ab 12
Regie: Edward Berger
Drehbuch: ,
Kamera: Philipp Haberlandt, Jens Harant
Darsteller: Lars Eidinger, Nele Mueller-Stöfen, Hans Löw, Manfred Zapatka, Christine Schorn u.a.
Der Lichtblick am Ende des Tunnels?

Das Martyrium Familie

Es wird gehetzt, Vorwürfe werden gemacht, dann bricht man das Gespräch mitten­drin ab und letzt­end­lich rettet man sich in belang­losen Smalltalk. Schon die Anfangs­szene von „All My Loving“ zeigt die disfunk­tio­nale Beziehung der Geschwister Stefan, Julia und Thomas. Mit seinem vierten Kinofilm wandelt Edward Berger auf den Spuren von Todd Solondz’ Happiness und Woody Allens Hannah und ihre Schwes­tern. Er zeigt in drei Episoden das Leben von Personen, die mit ihren Fami­li­en­banden nicht zurecht­kommen und noch weniger mit sich selbst.

Bei Stefan (Lars Eidinger) ist erstmal alles perfekt. Als Pilot verdient er gut, er geht regel­mäßig zum Tennis, und zu seiner Tochter, die bei der geschie­denen Frau lebt, scheint er einen guten Draht zu haben. Doch alles ist nur Fassade, die schließ­lich zerbricht. Wir erfahren, dass er eigent­lich schon seit Monaten aufgrund eines Hörlei­dens krank­ge­schrieben ist. Vor seiner Umwelt hält er das aller­dings verborgen, mimt weiterhin den Erfolgs­mann. Als ihm sein Arzt offenbart, dass er nun das Fliegen aufgeben muss, kommt das für ihn gleich mit Impotenz. Jede Nacht schlüpft er in seine Uniform, streift durch Hotelbars und versucht sich mit Sex-Aben­teuern zu beweisen, dass er immer noch etwas taugt.

In Stefan zeigt sich der gesell­schaft­liche Wahn nach Jugend und Funk­ti­ons­fähig­keit. Eidinger setzt diesen Konflikt subtil und ohne über­trie­bene Gesten um. Inter­es­sant wird die Geschichte vor allem, als seine Tochter Vicky (Matilda Berger) einen größeren Platz einnimmt. Vor ihr versucht er, die väter­liche Autorität zu markieren. Als Vicky nach einer Party „verschwindet“, äußert sich das jedoch nur in unpro­fes­sio­neller Panik. Stefan ist eine Figur, die sich irgendwo zwischen ihren Rollen verloren hat und darüber zu keinem Blick für die Realität mehr fähig ist.

Als wirk­lich­keits­fremd kann man auch seine Schwester (Nele Mueller-Stöfen) bezeichnen. Der Turin-Urlaub mit ihrem Mann Christian (Godehard Giese) verspricht zuerst ein harmo­ni­scher Trip zu werden. Dann dreht sich aber alles nur noch um einen ange­fah­renen Straßen­hund, den sie aufop­fe­rungs­voll wieder aufpep­peln will. Der Hund beherrscht nun jeden Schritt des Paares, bis die Nerven bei beiden schließ­lich ganz blank liegen. Die Julia-Episode ist leider die schlech­teste in All My Loving. Zu ihr bekommt man insgesamt wenig Zugang, da Berger sie in unmit­tel­barer Nähe zur kompletten Hysterie zeigt. Dem Schau­spiel von Mueller-Stöfen kann man das nicht ankreiden, sondern eher der einge­schränkten Charak­ter­zeich­nung. Julia ist einem fast durchweg unan­ge­nehm, irgendwo ist sie mehr die Karikatur einer Heli­ko­pter-Mutter, als eine wirkliche Figur. Den Ursprung ihrer Tragödie kann sich der Zuschauer dann auch sehr schnell selbst zusam­men­reimen.

Und dann kommen wir noch zu Tobias (Hans Löw), der keine Zeit hat, sich irgendwo hin zu flüchten. Nicht nur ist er der Hausmann, der sich mit dem Nachwuchs plagen muss, nebenbei hat er auch noch an seiner Diplom­ar­beit zu nagen. Dann soll er auch noch bei den Eltern nach dem Rechten sehen, bei denen es drunter und drüber geht. Seine Mutter (Christine Schorn) hat sich in den Kopf gesetzt, das Haus umbauen zu lassen, und der Vater (Manfred Zapatka) will seinen gebrech­li­chen Zustand nicht wahrhaben. Außerdem darf er sich von ihm als Versager beschimpfen lassen, der sich von seiner Frau aushalten und das Studium schleifen lässt. Bei diesem Drittel wünscht man sich, Berger hätte ihm mehr Spielzeit eingeräumt. Nicht nur bekommt es durch die triste Atmo­s­phäre eine ganz besondere Stimmung, auch zu den schweh­lenden Konflikten würde man gerne mehr Hinter­gründe erfahren.

Das Ende wirkt dann wie ein Fremd­körper. Es scheint, als müsse der Film in den letzten fünf Minuten die ganze Senti­men­ta­lität nachholen, von der er zuvor zum Glück die Finger gelassen hat. Zwei Stunden lang wird einem vor Augen gehalten, dass in dieser Familie im Grunde gar nichts im Lot ist. Und was ist der Licht­blick am Ende des Tunnels? Nichts anderes als der familiäre Zusam­men­halt. Eine viel zu einfache Antwort für eine solche Fülle an schweren Fragen.
All My Loving ist ein Film, der seine Mankos hat. Ihn als schlecht zu bezeichnen, wäre dennoch über­trieben. Die durchweg gute Leistung des Schau­spiel­ensem­bles macht einiges wieder wett.