12.04.2001

»Diese Situation ist Pornographie«

Heiner Stadlers WARSHOTS - KRIEGSBILDER
Heiner Stadlers WarshotsKriegsbilder

Interview mit Heiner Stadler

Heiner Stadler ist Doku­men­tar­filmer und Spiel­film­re­gis­seur. Er arbeitete auch als Kriegs­re­porter. Aus Anlass der derzei­tigen Film­mu­seums-Reihe mit Spiel­filmen von Stadler (diese Woche ist dort am Do. um 19:00 King Kongs Faust zu sehen, eine amüsante Mocku­men­tary über einen fiktiven Stumm­film­re­gis­seur) doku­men­tieren wir hier ein Gespräch, das Rüdiger Suchsland vor einein­halb Jahren mit Stadler aus Anlass der TV-Auffüh­rung seines Films Warshots führte. Der erste Teil handelt haupt­säch­lich von diesem Film (der am Do. 26.4.2001 um 19:00 im Film­mu­seum gezeigt wird), im zweiten Teil dreht sich das Gespräch in allge­mei­nerer Form vom Dasein eines Kriegs­be­richt­erstat­ters, von Lüge und Wahrheit in Zeiten des Krieges. In diesem Sinne lässt es sich auch als Kommentar zur Konflikt­be­richt­erstat­tung im Fernsehen verstehen – vor Jahres­frist im Kosovo, derzeit in Maze­do­nien und Nahost, sowie gewiss in näherer Zukunft an anderen Schau­plätzen.

artechock: Viel­leicht erzählen Sie einfach mal am Anfang etwas über die Entste­hungs­be­din­gungen von Warshots. Wie haben Sie das gedreht, in welchem Verhältnis steht der doku­men­ta­ri­sche Anteil zum Spielfilm-Teil ?

Heiner Stadler: Man müsste natürlich rasend früh ansetzen. Die ganze Geschichte war als Doku­men­tar­film geplant. Ich habe selber vor langer Zeit als Jour­na­list gear­beitet, habe selbst als Kame­ra­mann in Krisen­ge­bieten gear­beitet.

artechock: Wo denn? In Beirut, wo sie zum Teil gedreht haben?

Stadler: Nein, in Afgha­ni­stan.

artechock: Woher kannten Sie Georges Nasser, Ihren Aufnah­me­leiter in Beirut?

Stadler: Ich habe mich erkundigt. Und es hieß: Wenn es denn den Georges Nasser noch gibt, dann wäre das der richtige Mann. Der Kontakt ging über Schlön­dorff. Und der Nasser hat mir bei vielen Sachen richtig aus der Patsche geholfen. Die Entschei­dung ist erst ziemlich spät gefallen, den Film zu größeren Teilen in Beirut zu drehen.

Ich hatte vorher drei Doku­men­tar­filme mit jeweils der gleichen Produk­ti­ons­lei­terin gedreht, die Libanesin ist, in Paris lebte, viel­spra­chig ist. Und der habe ich die Geschichte erzählt. Und die sagte: das würde mich inter­es­sieren, warum drehst Du nicht im Libanon. Bis zu dem Zeitpunkt dachte ich immer noch, man könnte mit dem Doku­men­ta­ri­schen so weit gehen, dass man versucht, an Origi­nal­schau­plätzen zu drehen. Und dann waren wir in Somalia, und versuchten dort, Doku­men­tar­auf­nahmen zu kriegen. Und spätes­tens dort hat sich heraus­ge­stellt: es macht keinen Sinn, an einen Ort, wo es richtig brennt, mit Schau­spie­lern hinzu­gehen.

artechock: Man konnte dort nicht arbeiten?

Stadler: Man hätte gekonnt; aber ich finde es hane­büchen, so zu tun, als wäre der kleine filmische Bereich dann so eine Enklave, die vom Krieg unbe­ein­flußt wäre.
Andersrum: Ich müsste eine völlig andere Erzähl­me­thode, eine andere Drama­turgie erfinden. Und man müsste mit Schau­spie­lern unterwegs sein, die sich darauf einlassen mögen. Ich würde aber von niemandem verlangen, ein Risiko einzu­gehen, das ich selber nicht bereit wäre einzu­gehen.

artechock: Wären Sie denn bereit, es einzu­gehen?

Stadler: Ich selber ja. Ja. Aber ich täte mich sehr schwer, die Verant­wor­tung für jemand anderen zu tragen.

artechock: Sie können es auch einschätzen, weil Sie selber dort schon gear­beitet haben...

Stadler: ...es ist knochig genug, dann mit 'nem kleinen Team, mit 3 oder 4 Leuten zu arbeiten. Zum Beispiel – was weiß ich: In Somalia, wo wir Somalis nie gesehen haben, nur UN-Soldaten.

artechock: Die UN-Soldaten in ihrem Film sind Doku­men­tar­auf­nahmen der UNO-Truppen beim Somalia-Einsatz ?

Stadler: Die Hälfte ist von dort. Die andere Hälfte besteht aus Schau­spie­lern. Das sind fließende Übergänge. Es gibt Einstel­lungen, da geht ein Original über in Gespieltes, da geht ein UN-Soldat rechts aus dem Bild, und ein Schau­spieler kommt von links hinein.
Jeden­falls fiel irgend­wann die Entschei­dung: Gut, wir drehen im Libanon. Und dann stellte sich zu unserem großen Vergnügen heraus, daß der Onkel jener Produk­ti­ons­lei­terin Minister in der Regierung ist. Ohne diese Konstel­la­tion – Liba­ne­si­sche Produk­ti­ons­lei­terin, Georges Nasser als Herstel­lungs­leiter, dieser Onkel, der im Hinter­grund blieb und ein paar Schrauben drehte – wäre es überhaupt nicht gegangen.

artechock: Ist es nötig, dass man solche Bezie­hungen hat, um überhaupt dort einen Film drehen zu können ?

Stadler: Ja.

artechock: Also man kann nicht einfach hinfahren...

Stadler: Man könnte viel­leicht schon, wenn man sehr viel Geld dafür hätte, um das einfach abwarten zu können. Und dann auch einfach zu sagen: Hier geht es nicht, fahren wir woanders hin. Mehr Geld als wir hatten. Aber das würde wieder einen anderen Film voraus­setzen.
Warshots war für die betei­ligten Redak­tionen Risiko genug: Ein relativ schmales Drehbuch, keine ausge­ar­bei­teten Dialoge und zusätz­lich noch diese Melange zwischen Doku­men­tar­film und Spielfilm. Zum Glück war es wieder die iden­ti­sche Konstel­la­tion wie bei früheren Filmen, drei, vier Sender, die jeweils 'ne kleine Menge Geldes auf 'nen größeren Haufen warfen. Dann hat das Ding funk­tio­niert. Aber man muss dazu sagen: Mit Herbert Knaupps Teil­ga­gen­rück­stel­lung, Peter Frankes Teil­ga­gen­rück­stel­lung, Kame­ra­mann Gagen­rück­stel­lung. Wobei es am Ende so war, dass wir fast alles bezahlt haben. Das Kino­ein­spiel­ergebnis ist vernach­läs­sigbar, aber die Resonanz ist ganz gut. Der Film war deutscher Beitrag bei den Fimfest­spielen in Venedig, vorher lief er in München, und dann ging es wie beim Brezel­ba­cken: Mitt­ler­weile lief er auf 28 Festivals.

artechock: Im TV lief der Film um 23 Uhr. Das ist natürlich nicht die ideale Zeit. Warum glauben Sie, wollten die Verant­wort­li­chen ihn nicht in die Prime Time setzen? Welche Gründe könnte das haben. Das Thema, oder ist er einfach zu ruhig? Ich nehme mal an – Sie müssen ja nicht Ja sagen – dass Sie auch nicht total happy sind über den Termin.

Stadler: Ich ärgere mich nicht.

artechock: Nee?

Stadler: Nee. Ursprüng­lich war es so vorge­sehen, dass jede der betei­ligten ARD-Sende­an­stalten ihn in den Dritten Programmen sendet, zwischen 9 und 10. Die Alter­na­tive war jetzt 23 Uhr in der ARD, und dann eine Zweit­aus­strah­lung in den Dritten Programmen. Auf ARTE lief er schon.
Und: Es hört sich viel­leicht blöde an, aber ich fühle mich in einer guten Gesell­schaft um 23 Uhr. Wenn ich selber fernsehe, dann laufen da die Sachen, die mich selber inter­es­sieren. Und so selbst­kri­tisch bin ich, dass ich weiß, dass der Film nicht mit einem Tatort konkur­rieren kann.

artechock: Kann er denn konkur­rieren mit anderen Filmen seines Genres. Von diesen Geschichten – Reporter im Krisen­ge­biet – da gibt es schon mehrere. Volker Schlön­dorffs Die Fälschung haben sie ange­spro­chen, es gibt Peter Weirs Film The Year of Living Dangerously, dann Herreras Terri­torio Comanche, nicht sehr gut, aber inter­es­sant. Er spielt in Sarajewo, ist dort während des Krieges gedreht worden. Zuletzt Michael Winter­bot­toms Film Welcome to Sarajevo. Schließ­lich Under Fire.
Was unter­scheidet Warshots von diesen Versuchen? Was ist das Spezielle ?

Stadler: Die beiläu­fi­gere Erzähl­weise. Es ging mir nicht darum, jetzt Verhält­nisse auf einen persön­li­chen Konflikt zuzu­spitzen, der sich dann aufs Poli­ti­sche über­tragen läßt. Sondern die Intention ist vielmehr, beim Sehen einen Eindruck zu bekommen wie: Was ich hier erlebe ist im Grunde gar nicht so exotisch, sondern es ist alltäg­lich. Das Alltäg­liche in eine Erzähl­form zu trans­fe­rieren. Das war die eigent­liche Intention.
Insofern finde ich ihn um Längen besser, als den Winter­bottom-Film, über den ich mich ziemlich geärgert habe.

artechock: Zu pathe­tisch!

Stadler: Ja, Fassaden. Viele hohle Fassaden. The Year of Living Dangerously von Peter Weir finde ich einen groß­ar­tigen Film. Das ist Bundes­liga, meinen Film damit zu verglei­chen, wäre unan­ge­messen.

artechock: Nun, Ihr Film ist doku­men­ta­ri­scher. Es ist eine gegen­wär­tige Geschichte, keine histo­ri­sche, wie sie Peter Weirs Film schon 1982 war. Und es ist realis­ti­scher, weniger romanhaft. Warshots ist auch keine Lite­ra­tur­ver­fil­mung.

Stadler: Weil ich für mich selber die Trennung zwischen dem Insze­nierten und dem Doku­men­ta­ri­schen nicht so rigide vornehme, wie es übli­cher­weise als Genre­tren­nung geschieht. Die Sachen, die nach der herkömm­li­chen Unter­schei­dung doku­men­ta­risch gedreht sind, also die Teile in Somalia, die sind natürlich nicht doku­men­ta­risch. Denn wir als Filmteam dort unter­schieden uns funda­mental von den ganzen News-Teams, die dort waren. Was die betei­ligten Soldaten dort natürlich sehr schnell merken. Und es gab dort unter den Ameri­ka­nern, unter den Norwegern Leute, die wissen wollten, was wir tun, und wir haben denen einfach ganz offen erzählt, was wir tun: Wir sammeln Bilder, sammeln Ideen als Stoff für einen Film, der mögli­cher­weise irgend­wann ein langer Film werden könnte...

artechock: ...das war noch gar nicht so klar, als Sie ange­fangen haben...

Stadler: ...es war nicht klar, ob ich das Ding jemals finan­ziert bekommen. Zu dem Zeitpunkt, als ich in Somalia war es selber bezahlt.

artechock: Aber das Drehbuch hatten Sie ja?

Stadler: Drehbuch gab es. Jeden­falls: Die Soldaten vor Ort fingen dann irgend­wann an, aus einer Frus­tra­tion heraus, aus einer Lange­weile heraus, aus was weiß ich, Spiele zu spielen, einfach zu testen: Was kann man denen zutrauen, was ist mit denen los?
Und dann gab es eine kurze Phase, nachdem wir diesen Test bestanden haben, wo die alles taten, was wir wollten. Das heißt, dass, wenn wir am Flughafen, wo die News-Teams nicht hinkamen, erschienen sind, da gab es Piloten, die fragten, »War das in Ordnung für Euch, sollen wir die Landung nochmal machen?«.
Das funk­tio­nierte eine Woche lang, bis sich heraus­stellte, dass wir eigent­lich gar keine vernünf­tige Akkre­di­tie­rung hatten. Dann flogen wir raus, fertig.

Zu dem Zeitpunkt hatten wir aber im Grunde schon alles, was wir drehen wollten. Und die betei­ligten Leute waren auch nicht stinkig hinterher. Ich empfand das ein bißchen wie so einen Kinder­garten: Mal sehen, was mit denen los ist, wie weit wir die treiben können. Und wir haben versucht, das so weit wie eben möglich auszu­reizen.
Was mit einem Doku­men­tar­film nichts zu tun hat. Plus die banale Erkenntnis, die jeder kennt: Wenn ich eine Kamera hinstelle, beein­flusse ich durch meine pure Anwe­sen­heit die Szenerie.

Es gab auch mal so eine Idee, einen wirk­li­chen Photo­gra­phen zu finden, und mit denen einem Erzähl­faden folgend, halb­do­ku­men­ta­risch zu filmen. Ich habe dann auch mit verschie­denen Photo-Agenturen, in Hamburg und mit Magnum in Paris, geredet, und habe dann mit zwei Leuten Probe­auf­nahmen gemacht....
Ein völliger Schuss in den Ofen, völlig. Die fingen dann in dem Moment, wo sie vor der Kamera standen, an, den Photo­gra­phen zu spielen. Sie waren nicht mehr, sondern sie gaben vor, zu sein.

artechock: Haben Sie jemals etwas mit Laien gemacht, das funk­tio­niert hat ?

Stadler: Nein, alle hatten irgend­eine Erfahrung.

artechock: Wann haben Sie denn selbst in Krisen­ge­bieten gear­beitet, in welcher Zeit ?

Stadler: Das war zwischen Mitte der 80er und Anfang der 90er Jahre. Ich war Kame­ra­mann für Doku­men­tar­filme, die in Krisen­ge­bieten gedreht wurden. Ich war aber nie Auslands­kor­re­spon­dent, oder gar Kriegs­be­richt­erstatter.

artechock: Kann man sagen, dass Warshots gleich­wohl eine Verar­bei­tung eigener Erfah­rungen ist, oder wählten Sie das Thema, weil Sie einfach „Krisen­ge­biet als Schau­platz“ inter­es­siert?

Stadler: Ich glaube Letzteres. Für mich selber habe ich keine Antwort, weswegen meine eigenen Filme immer von der Ferne handeln. Ich habe Auftrags­ar­beiten in Deutsch­land gemacht, zum Brot­er­werb. Aber die Themen und langen Filme, die ich aus eigenem Antrieb gemacht habe, haben nie in Deutsch­land gespielt. Es sind immer Schau­plätze im Ausland – es mögen Kinder­träume sein –, Hindu­kusch, Timbuktu, Latein­ame­rika, was weiß ich!
Und ich denke auch, solange es die Geschichten, die mich inter­es­sieren, zu erzählen gibt, muss ich mich nirgendwo auf die Couch legen, um heraus­zu­finden, warum ich jetzt lieber in Ecuador bin, als im Baye­ri­schen Wald.
Und ich glaube, es ist nicht die Neugier am Exoti­schen, sondern es hat mehr damit zu tun, heraus­zu­finden, wie man Geschichten erzählen kann, ohne sich so stringent an die üblichen Erzähl­muster halten zu müssen.
Das ist leichter, auch leichter zu finan­zieren, wenn die Sachen auch ein bisschen vom Üblichen, – Main­stream ist sowieso nochmal etwas ganz anderes – abweichen.

Rein­ge­rutscht bin ich wie die Jungfrau zum Kind. Als Kame­r­a­s­sis­tent habe ich die ersten Filme ausschließ­lich in Latein­ame­rika gedreht. Und als ich anfing, dann selber Kamera zu machen, galt ich als »Latein­ame­rika-Experte« – ich sprach damals kein Wort Spanisch!
Es gibt so etwas Zwei­glei­siges: Es gibt die Haltung derer, die von Außen kommen, und die eigene. Wenn man beides korri­giert, dann läuft es unge­steuert. Aber es gab jetzt für mich noch nie den Punkt, wo ich hätte die Notbremse ziehen müssen, und gedacht habe, das läuft jetzt in eine völlig absurde Richtung.

artechock: Was mir aufge­fallen ist: Medi­en­kritik fehlt. Zumindest in der Form, dass nicht – wie bei Schlön­dorff – die Prot­ago­nisten andauernd erzählen, wie schreck­lich und wie böse die Medien alle sind. Es gibt zwar die eine Figur, die so ein bisschen ein Zyniker ist, aber ansonsten eigent­lich niemand. Es kommt eine andere Form von Medi­en­kritik vor...

Stadler: In einem ganz frühen Stadium der Vorbe­rei­tung habe ich eine Geschichte gelesen: Viet­nam­krieg in den mittleren 60ern, die ganzen US-Reporter und Foto­gra­phen gehen hin, darunter auch zwei Freaks, High­school-Jungs. Die beiden denken, in Vietnam tobt das Leben. Amerika ist lang­weilig, wir müssen da hin. Einer war der Sohn von Erol Flynn, Sean Flynn. Beide hatten Drogen­er­fah­rungen, keinen Auftrag, keine Akkre­di­tie­rung von irgend­einer Zeitung oder Agentur, kauften sich aber zwei Hondas. Mit den Hondas brausten sie durch den Dschungel, waren immer da, wo es knallte. Und sie bekamen sehr schnell den Ruf von Hasar­deuren. Und sie lieferten Bilder ab, die sehr viel emotio­naler, sehr viel dichter am Geschehen waren, als die offi­zi­ellen Foto­grafen dort.
Die Geschichte endet damit, daß einer von den beiden später in Kambo­dscha verschollen ist.
Und einer von den beiden hat auf ein ameri­ka­ni­sches Schnell­feu­er­ge­wehr seine Kamera montiert, und den Auslöser des Gewehrs mit dem Auslöser der Photo­ka­mera verbunden, und ist dann selbst jagen gegangen.

artechock: Der hat auch gekämpft gleich­zeitig ?

Stadler: Der hat nicht gekämpft, sondern er ist soweit ausge­klinkt, dass der Kick ein größerer werden musste. Bis zu dem ulti­ma­tiven Kick, nämlich nicht den Tod verur­sacht von jemand anderem zu photo­gra­phieren, sondern den Moment des Todes selber aufs Bild zu bannen, indem man selber der Töter ist.
Die Bilder gibt es. Und mir haben zwei Jour­na­listen von der Geschichte erzählt, ich glaube nicht, dass die so etwas erfinden.
Und das war so ein Moment, wo ich dachte..., also ich empfand beim Lesen nicht das Gefühl: Igitt, wie kann man nur, sondern: Was bringt jemanden dazu, so weit abzu­driften, und sich auf so eine Geschichte einzu­lassen.

artechock: Wenn es allein darum geht, ein gutes Photo zu machen, dann kann man das ja sogar verstehen. Das ist wahr­schein­lich ein sehr gutes Photo, wenn man es schafft, genau diesen Moment zu erwischen, die Perspek­tive zu erwischen.

Stadler: Die Perspek­tive ist die Perspek­tive der Kugel. Das würde nie so ein drama­ti­sches Bild werden, wie das Capra-Bild aus dem spani­schen Bürger­krieg. Ich glaube, denen ging es weniger ums Bild, sondern um das eigene Erleben des Bildes.
Das evozierte dann so eine Vorstel­lung, die ich selber kenne: Wie kriegt man es hin, nicht mehr dieser bescheu­erte Voyeur zu sein. Der mit der Kamera rumrennt, und guckt, wie er zu Bildern kommt, die eine vorher gefaßte Vorstel­lung trans­por­tieren. Wie könnte man auf die Seite derer kommen, die das Leben darstellen? Wie vom Voyeur zum Teil­nehmer werden?

artechock: Das heißt de facto: Man muss der Täter werden, oder das Opfer werden, das sind genau die zwei Möglich­keiten
Warum ist es denn so schlimm, wenn man der Voyeur ist? Weil die Distanz zu groß ist? Weil die Kälte des Blicks und damit auch des Resultats zu groß ist? Weil...

Stadler: ...weil man sich mitunter selber fühlt wie ein Arschloch. Ich weiß nicht ob sie dieses Zeitungs-Photo gesehen haben, von der Grenze von Maze­do­nien. Ein alter Mann mit einem Kind. Der Mann kniet, das Kind steht neben ihm, beide sind völlig fertig, sind am Ende.
Vor denen auf dem Boden liegen fünf, sechs Photo­gra­phen, um die Perspek­tive der Augen zu kriegen.
Ein Photo von oben wäre wertlos. Das heißt, die liegen im Halbkreis im Dreck. Diese Situation ist Porno­gra­phie.
Wenn man genügend lange in so einer Situation gear­beitet hat, könnte ich mir vorstellen, dass man irgend­wann so weit kommt, dass man ausklinkt.

Ich habe in Afgha­ni­stan einen russi­schen Photo­gra­phen getroffen, zur Regie­rungs­zeit von Nadju­bullah – der einzige Russe weit und breit, nicht sehr beliebt. Dick, groß, schwitzte wie der Teufel, arbeitete wie der Teufel. Wo auch immer irgendwo etwas war, war der Mann dabei, früh und spät, ist mit Regie­rungs­hub­schrau­bern rumge­flogen, ins Gebirge gestiegen, und er litt mehr als alle anderen, weil er einfach wahn­sinnig dick war.

Wir sind oft noch Abends mit ihm einen trinken gegangen, im UN-Casino Pool-Billard spielen, so ein bisschen diese absurde Jour­na­listen-Ebene. Und über dieses Näher­kommen habe ich gemerkt, dass der nach unserem Drehtag, seinem Photo­gra­phentag – alle sind sehr profes­sio­nell, alle putzen ihr Zeug, laden Material aus, er tat’s nicht –, dass der keine Filme hatte. Der „photo­gra­phierte“ so schon seit einem Jahr. Wovon er lebte – keine Ahnung. Er erzählte uns, er würde für die TASS arbeiten. Ich sagte: »Schwer möglich, die TASS gibt’s schon seit einem Jahr nicht mehr. Es gibt eine Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­tion.« – »Nein, für die nicht, für die TASS.« Es gab auch null Möglich­keiten, aus Afgha­ni­stan etwas nach Rußland zu schicken, also es wäre auch wurscht gewesen, wenn er einen Film drin gehabt hätte.
Der war nicht verrückt. Sondern der versuchte – so habe ich es mir zu erklären versucht – sein Leben weiter­zu­führen, so gut er es konnte; solange sein Ritual mitzu­ma­chen, bis er wieder arbeiten konnte.

artechock: Haben Sie ihn darauf ange­spro­chen, dass er kein Material in der Kamera hat?

Stadler: Nein, ich habe ihn darauf ange­spro­chen, dass es die TASS nicht mehr gibt. Da sagte er: Lass uns darüber nicht reden, lass uns einen trinken gehen. Also es war ihm schon klar. Aber er lebte die Fassade.

artechock: Liegt das daran, dass dieses Leben so faszi­nie­rend ist? Im 20.Jahr­hun­dert ist ja der Jour­na­list, speziell der Kriegs­be­richt­erstatter auch so 'ne fast schon mythische Figur geworden.

Stadler: Ich glaube nicht. Ich glaube es war mangels Alter­na­tiven. Selbst wenn er nach Russland zurück­ge­gangen wäre, hätte er keinen Job gehabt, oder einen, den er nicht wollte. Dort kannte er die Verhält­nisse, weil er seit Jahren da war.

artechock: Es war viel­leicht auch 'nen besseres Leben. Es ist ja auch ein privi­le­giertes Leben, es ist ja auch inter­es­sant, was man sieht.

Stadler: Nicht ganz in seiner Situation. Denn er war für alle Seiten der Idiot. Die Regie­rungs­leute mochten logi­scher­weise die Russen nicht. Die Mudscha­heddin wollten mit den Russen nichts am Hut haben, die wenigen Reporter, die vom Westen kamen, waren so die Stars, die Hitter – rein, zwei Tage photo­gra­phieren, raus –, und er war derjenige, der sich blendend auskannte, aber keine Arbeit hatte. Viel­leicht war es auch einfach nur so ein Gefühl von einer persön­li­chen Inte­grität. Das tun zu müssen, was er kann.
Aber es war eine ähnlich absurde Geschichte, wie die von den beiden Jungs in Vietnam. Und eine Vorge­schichte zu Warshots.

artechock: Wie schätzen Sie diesen Typ Mensch ein, den Kriegs­be­richt­erstatter ?

Stadler: Es gibt nicht „den“ Typen. Es ist jeder für sich sehr verschieden.
Aber es sind ähnliche Exis­tenz­be­din­gungen. Und wenn wir mal annehmen, dass das Sein tatsäch­lich auch das Bewusst­sein und das Verhalten bestimmt, dann muss es sich auch typi­sieren lassen.
Wenn ich vorhin sagte, dass es eine mythische Figur ist – die Tatsache, dass man darüber Filme machen kann, Romane schreiben kann, dass dies auch gut funk­tio­niert, belegt: Es ist eine aben­teu­er­liche Figur. Wie der Detektiv auch, wie der Western­held, der lonely rider, der immer da ist, wo er sein muss, und nach getaner Arbeit wieder einsam aus der Stadt heraus­reitet.

artechock: Die Figur ?

Stadler: Die Figur als Typus. Das sagt nichts über die einzelnen Leute, sondern über die Betrach­tungs­weise, also wie wir hier unter weit­ge­hend fried­li­chen Bedin­gungen so einen Menschen sehen. Sie tun das ja auch. Sie produ­zieren ja auch eine Sicht­weise, in irgend­einer Form. Sie arbeiten damit, viel­leicht produ­zieren sie eine andere, auch gegen übliche Sicht­weisen, aber trotzdem kommen Sie nicht darum herum, daß Sie sich auch mit dem Mythos ausein­an­der­setzen.

artechock: Ich finde sogar, Sie tun das sehr deutlich, wenn Sie nämlich auf solche Geschichten eingehen, Sie zitieren, wie die von der Kamera, die aufs Gewehr montiert wurde.

Stadler: Ja. Ich versuche mir gerade einzelne Leute vorzu­stellen, die ich in dem Genre ein bißchen besser kennen­ge­lernt habe, und mir bei denen Gemein­sam­keiten zu überlegen.
Ich fürchte, die Gemein­sam­keiten entstehen beim Leser, beim Seher der Bilder, beim Zuschauer am Fernseher in deren Vorstel­lungen, was die Leute verbinden könnte.

Im Libanon zum Beispiel gibt’s einen engli­schen Jour­na­listen, David Hearst, schreibt für den „Guardian“, ist ein älterer Herr, der war die ganzen 16 Jahre des Krieges komplett im Libanon. Und er ist jemand, der würde gut als Gymna­si­al­lehrer für Geschichte und Geogra­phie durch­gehen, ein sehr ruhiger, extrem Belesener, der sich dreimal überlegt, bevor er irgend­einen Satz hinschreibt, der Konse­quenzen haben könnte, die er nicht vertreten könnte. Ein Groß­meister der Recherche, hat wie viele von den Englän­dern diese Ironie, die es einfach wunderbar macht seine Artikel zu lesen – das ist die eine Seite.

Dann ein ameri­ka­ni­scher Photo­graph in Somalia – ich hab' mit dem 14 Tage im gleichen Hotel gewohnt, eng zu tun gehabt –, der ist das präzise Gegenteil. Der arbeitet für eine Agentur, kriegt ein Telex, sagt: Jetzt Somalia fertig. Weiter Irak. Dann ist er über­morgen im Irak.
Der hat auf meine Frage, was ihm das Wich­tigste sei, gesagt, er wisse es eigent­lich gar nicht so genau: Im Grunde genommen wär' es der Moment, an dem er die Kamera auslöst, die Kamera ruhig zu halten. Das wäre das Wich­tigste. Weil er ohne diesen kleinen Moment die Arbeit nicht machen könnte. Verwa­ckelte Bilder sind wertlos. Und er braucht 'ne hohe Konzen­tra­tion, um dazu zu kommen, um diesen Moment der Ruhe während des Auslösens auch bringen zu können. Ansonsten wär’s ihm wurscht.
Der wusste politisch extrem wenig Bescheid. Ist drei Tage hier, fünf Tage dort, weiß aller­dings sehr gut Bescheid, wie die kleinen Wege funk­tio­nieren: Wie arran­giert man sich ganz schnell einen Fahrer, wie komme ich ganz schnell zu 'nem Dolmet­scher, woher krieg' ich 'nen Wagen, wer besorgt mir 'ne Akkre­di­tie­rung? In einem halben Tag, wo andere 'ne Woche dafür brauchen. Das sind so Spezi­al­kennt­nisse.

artechock: Das sind Spezia­listen, natürlich. Aber wenn ich diese beiden Kurz­por­traits so verstehe, dass sie mir damit auch sagen: Es gibt diesen Typus nicht in der Realität; man kann da nicht verall­ge­mei­nern, dann scheint mir, dass Sie in Ihrem Film zwar einer­seits sehr verschie­dene Typen vorstellen, ande­rer­seits aber doch Verall­ge­mei­ne­rungen vornehmen. Und auch ein bisschen mit den Stereo­typen arbeiten, die man so kennt: Das Hotel, in dem die hausen, dass das einfach Männer sind, dass die wenigen Frauen, dann besondere Posi­tionen haben – es gibt in fast all diesen Filmen diese Frau­en­ge­schichten, die bei Ihnen dann nur ange­deutet werden, aber doch präsent sind –, das Verhältnis zur einhei­mi­schen Bevöl­ke­rung, der Zynismus natürlich, dieses Outs­i­dertum... Dann natürlich auch diese Vergan­gen­heits­ge­schichten – wie bei ihrer Haupt­figur.
Mir scheint, dass sich aus all dem schon ein Typus destil­lieren lässt. Dass zumindest das, was für uns das Thema inter­es­sant macht, nicht zuletzt darin liegt, daß Sie einen Typus destil­lieren.
Ich weiß nicht, ob sie dem zustimmen?

Stadler: Viel­leicht. Jede Figur, jede filmische oder Roman­figur ist ein Konstrukt aus Erzähltem und Gelesenem. Und wird per se zu einer Kunst­figur. Die darü­ber­ge­stülpte Kunst wäre dann, es so zu erzählen, dass es eine Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­keit gibt.
Mir ist gerade noch etwas einge­fallen, was das Gemein­same sein könnte: Bei Jour­na­listen, die zeitlich begrenzt dort sind – was die meisten sind, im Unter­schied zu Korre­spon­denten, die über Jahre da sind – gibts dieses auto­ma­ti­sche Grup­pen­ver­halten: Die einen sind auf die anderen ange­wiesen. Man kann nicht völlig für sich sein, ist auf die Anderen ange­wiesen. Die Anderen sind gleich­zeitig die Konkur­renten.

artechock: Ein Männer­bund.

Stadler: Ja, absolut.

artechock: Wie Söldner ein bisschen...

Stadler: Ein bisschen so. Wenn man die Spiel­re­geln verletzt, ist man blitz­schnell ein Outcast. In so einer Situation ein Outcast zu sein,...

artechock: ...das Schlimmste...

Stadler: ...ist extreme Einsam­keit.

artechock: Ande­rer­seits sind das ja Indi­vi­duen, also ganz besondere, Indi­vi­dua­listen eigent­lich. Was passiert mit solchen Leuten dann: Indi­vi­dua­listen, zum Teil echten Mimosen, die dann gezwungen werden, sich in so einen Männer­bund einzu­ordnen?

Stadler: ...reus­sieren oder gehen kaputt. Das passiert sicher nicht mit einer Geschichte, sondern über einen längeren Zeitraum.
Ich habe das selber 'mal mitge­kriegt, als ich als Kame­ra­mann bei einem Film über die Polisario gear­beitet habe. Das ist diese Befrei­ungs­be­we­gung in der West­sa­hara. Wir waren zu dritt, außer uns kein Schwein.
Diese Sehnsucht nach anderen Leuten, die das Gleiche teilen, erleben, mit denen man ein Gefühl der Gemein­sam­keit empfinden kann – das ist mir richtig an die Nieren gegangen.
Ich war jetzt zu Recher­chen knappe sechs Wochen in Togo und in Benin – das ist machmal richtig ein Scheiß­ge­fühl.
Das, was sich von außen gesehen ganz exotisch anfühlt, der lonely hero zu sein, der so sein Zeug macht, sich um nichts kümmert, das ist nicht so doll.

artechock: Warum machen Sie das dann trotzdem? Ist es dann nur Mittel zum Zweck, das Scheiß­ge­fühl? Nimmt man das in Kauf?

Stadler: Weil das Scheiß­ge­fühl nicht konti­nu­ier­lich ist. Das sind Momente. Wär’s konti­nu­ier­lich, dann würde das niemand machen.

artechock: Haben Sie denn einen Kitzel, wenn jetzt gerade in Jugo­sla­wien gerade was passiert, daß Sie dann selber auch dort hinwollen?

Stadler: Nein.

artechock: Hatten Sie den je? Ist das eine Frage der Erfahrung, des Alters, oder eine Typfrage?

Stadler: Nein, es ist anders. Ich sehe ab und an Filme und Fotos. Und ich wünschte mir, selber bei der Umsetzung dieser Filme oder Herstel­lung der Fotos beteiligt zu sein. Das ist aber schon eine mediale Umsetzung. Ob meine Vorstel­lung davon, wie das zustande gekommen ist, oder mein Gefühl, das ich dabei empfinde, ob die gerecht­fer­tigt sind, wüsste man nur, wenn man es auspro­biert. Aber dieser Kitzel – nee.

Es sind die Bilder, die mich reizen. Es ist nicht das Flücht­lings­camp, wo andere hinreisen, um es zu foto­gra­fieren. Mich inter­es­siert mehr der Abstand zwischen empfun­dener Wirk­lich­keit und Abbild. Also: Was kann ein Abbild trans­por­tieren? Wie groß ist die Distanz zwischen dem, was einem gelingt in Bilder umzu­setzen, zu dem was man vorher gesehen hat.

artechock: Wie groß ist denn der Abstand?

Stadler: Riesig.

artechock: Ja, denke ich auch. Es gibt ja Leute, Theorien, die sagen auch, dass das Fernsehen, Repor­tagen, Fotos im Prinzip eine eigene Wirk­lich­keit konstru­ieren...

Stadler: Ja aber dieje­nigen, die bewusst damit umgehen – das ist viel­leicht noch weiter von der Realität entfernt –, die aber bewusst diesen Abstand wahr­nehmen, stellen für mein Dafür­halten die besseren Bilder her.
Oder andersrum: wenn ich meine eigene Arbeit ansehe, sind nicht die Einstel­lungen die geglück­testen, die das Gesehene 1:1 abbilden, sondern dieje­nigen die geglück­testen, wo die Umsetzung, die Trans­for­ma­tion aus dem Bild selber wieder sichtbar wird. Das ist ein Vorgang der Abstrak­tion.
Was ein normaler Fern­seh­zu­schauer nicht mitkriegt. Es spielt auch keine Rolle, das muß er nicht wissen. Nur sollte man es nicht dem Zufall über­lassen.

artechock: Was wirklich schwierig ist, weil ja eine Mani­pu­la­tion in die »richtige« Richtung eine Mani­pu­la­tion bleibt, und es ja eigent­lich darum geht, daß man die Mani­pu­la­tion aufdeckt.

Stadler: Ist das so?

artechock: Ja, scheint mir zu sein. Wenn Sie gerade gesagt haben, man muss versuchen, dass man mit dieser Differenz zwischen der Wirk­lich­keit und dem Abbild bewusst umgeht, und viel­leicht auch versucht, sie ein wenig aufzu­heben...
Mir scheint, das Ziel müsste sein, dass man auch ein bisschen die Wirk­lich­keit abbildet, denn die ist ja auch inter­es­sant, die ist ja auch wert, abge­bildet zu werden. Also muss man sich der annähren.

Stadler: Oder man gewinnt irgend­wann den Eindruck, daß die mediale Wieder­gabe der Wirk­lich­keit per se Mani­pu­la­tion ist. Das heißt, dann ging es darum, wie man mit der Erkenntnis umgeht, man selbst sei Mani­pu­lator – der man ist, denke ich...

artechock: Ja. Unbedingt.

Stadler: ...und so wenig fahr­lässig damit umzugehen. Was aber jetzt nicht heißt, daß man so tut, als sei man eine unter­ge­ord­nete Instanz.

artechock: Das Problem dabei ist, dass die Leute, die Zuschauer glauben, dass sie nicht mani­pu­liert werden, und wenn die Zuschauer hören... [STADLER SCHÜTTELT DEN KOPF] ...glauben sie nicht?

Stadler: Ich bin mir sicher, dass die Zuschauer nicht blöde sind. Voll­kommen sicher. Und ich denke, dass man über längere Zeit als Zuschauer ein Gespür dafür bekommt, wo man verarscht wird, und wo nicht.

artechock: Aber es scheint doch nichts daran zu ändern, daß manche offen­sicht­li­chen Verar­schungen sehr beliebt sind.

Stadler: Ja klar. Dieje­nigen sind am belieb­testen, wo der Zuschauer weiß, daß er verarscht wird.

artechock: Ja, genau. Und das Fernsehen versucht ja darum, in seinem Nach­richten – und Infor­ma­ti­ons­teil, immer wieder Reali­täts­be­züge zu erzeugen, um genau da eine Annährung zwischen den Fern­seh­bil­dern und der Wirk­lich­keit herzu­stellen – also immer wieder diese blöden Live-Schal­tungen, die gar nichts bringen, die nur dazu dienen, dass man sieht: da ist einer vor Ort.

Stadler: Ja, Dadurch, dass das gleiche Gesicht am gleichen Ort öfter auftaucht, erweckt es den Eindruck, das sei ein Kompe­tenter. Ich sehe zehnmal vor dem Weißen Haus den gleichen Kopf, zehnmal vor dem Kreml den gleichen Kopf.

artechock: Meinen Sie, es geht um Kompetenz? Nicht um Vertraut­heit ? Ich dachte eigent­lich, es ginge eher um Vertraut­heit. Wie bei einer Soap-Opera: Das Gefühl, da ist einer, der begleitet uns. Auch die Experten, die ihre Rollen spielen. Wie in der Muppet-Show.

Stadler: Ja, das stimmt. Es können natürlich manchmal Pfeifen sein.

artechock: Es geht gar nicht darum, ob sie Pfeifen sind, sondern eher darum, dass sie in Klischees gestanzt werden, aus denen sie nicht raus­kommen, egal ob sie Pfeifen oder Kompe­tente sind. Die dürfen ja ihre 1:30 nicht über­schreiten.

Stadler: Ja, mitt­ler­weile sind es 0:20. Aber wenn die Leute zu oft Unsinn reden, dann merkt es der Zuschauer als erster. Wenn das Klischee überer­füllt wird, ist es tot.
Ich hätte auch kein Vergnügen dran, für Doofe Filme zu machen.

artechock: Nein, machen Sie ja auch nicht, darum kommen Sie ja um 23.00 Uhr. Das ist der Punkt. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob nicht ein Teil der Zuschauer doch doof ist. Aber das ist ein eigenes Feld. Es hat vor allem auch keinen Sinn, den Leuten zu sagen, dass sie doof sind. Was will man damit erreichen?
Ich denke schon, dass man einen Teil auch aufklären kann, und dann wäre viel­leicht das Ziel, ein bisschen ganz klas­si­sche Bildung zu machen.
Was glauben Sie, was ist die Rolle, die Medien, speziell Kriegs­be­richt­erstatter spielen für unsere Gesell­schaft?
Geht es darum, über Wirk­lich­keit zu infor­mieren, geht es um Aufklärung, oder um Beru­hi­gung, oder um Desin­for­ma­tion, oder um ganz andere Dinge ? Wozu brauchen wir die Kriegs­be­richt­erstatter?

Stadler: Manchmal – manchmal! – denke ich, es wäre sehr viel sinn­voller, es gäbe die Bilder, die Filme, die Infor­ma­tionen nicht, weil viele von den Konflikten durch die dauernde Medi­en­prä­senz nicht niedrig gehalten werden, sondern hoch­ge­spielt wurden.
Und ich nehme Leute nicht ernst, die sich für alles, was auf der Welt geschieht, verant­wort­lich fühlen. Die Verant­wor­tung kann nur eine ober­fläch­liche sein. Oder es ist Größen­wahn.
In früheren Konflikten, bis zum begin­nenden Zweiten Weltkrieg, gab es eine Zeit­ver­zö­ge­rung, bis den betei­ligten Völkern erzählt wurde, was an der Front geschieht – sehr ausge­wählt durch die Mili­tär­zensur, klar.
Dadurch, dass heute der Anschein erweckt wird, es sei 1:1, also jeder würde unmit­telbar am Geschehen teilhaben, entsteht so ein Zwang, jeder müsse eine dezi­dierte Meinung dazu haben.
Die dezi­dierte Meinung ist aber eigent­lich nur die Wieder­gabe dessen, was man vorher gesehen hat.
Anders­herum: Es würde einen riesigen Aufwand erfordern, Studien zu betreiben, zu forschen, Leute kennen­zu­lernen, selber hinzu­fahren, den niemand auf sich nehmen wollte.
Also: Dieser Pseu­do­an­spruch der dezi­dierten Stel­lung­nahmen ist für die Katz'. Das führt zu nichts, das ist Stamm­tisch­ge­spräch.
Der eine sagt: »Hau drauf, Serben alles Deppen«, der andere: »Du kannst doch jetzt nicht einfach ein Kran­ken­haus bombar­dieren«.
Ob der Wind pfeift, oder ob diese Sätze fallen, ist völlig egal. Es ändert an dem, was passiert, verdammt wenig.

artechock: Viel­leicht geht’s ja um etwas anderes. Es gibt ja eine Medi­en­theorie, eine Fern­seh­theorie, die besagt, daß die ganz wichtig dafür sind, moderne hoch­kom­plexe, ausdif­fe­ren­zierte Gesel­schaften zu stabi­li­sieren. In dem Sinne:
Früher der Durbridge-Krimi, der berühmte »Straßen­feger« hat funk­tio­niert, weil alle am nächsten Tag darüber reden konnten. Er stiftet Gemein­schaft.
Heute haben wir 50 Kanäle, aber eines ist überall das Gleiche: Das, was in der Welt passiert und dann in allen Nahrichten trans­por­tiert wird. Milosevic kann man auf ARD, auf RTL auf CNN sehen. Also stiftet viel­leicht diese insze­nierte Realität die Gemein­schaft, da es den »Straßen­feger« nicht mehr gibt. Darüber kann man mit seinem Nachbarn reden, obwohl der eine ganz andere Lieb­lings­soap hat.
Ich sage das jetzt nur so ins Blaue, ohne längere Über­le­gung, und frage Sie jetzt auch nur, ob sie dem zustimmen könnten, oder ob das Quatsch ist?

Stadler: Das müsste ich mir ein bisschen länger überlegen, spontan würde ich sagen, ja, genauso ist es.
Sonst könnte es auch nicht sein, was passiert: Ich war relativ lange und relativ häufig in Albanien, dort habe ich drei Doku­men­tar­fime gedreht.
Als ich zum ersten Mal dort war, hieß es: »Was willst Du bei den Maoisten? Das sind Knall­tüten, zerstreiten sich mit der ganzen Welt«. Zu der Zeit stimmte das längst nicht mehr, die hatten sich von China längst getrennt. Aber »der Albaner« war der Radi­kal­sta­li­nist.
Dann bröckelte das dortige System zusammen, da galt »der Albaner« als die arme Sau. Das Armenhaus Europas, dafür müssen wir was tun, die Armen Leute fliehen mit Booten nach Italien rüber... Das ging einige Zeit. Dann war »der Albaner« plötzlich das Ober­schwein, weil er versucht, in Deutsch­land das Nacht­club­system und die Prosti­tu­tion in den Griff zu kriegen.
Jetzt kommt »der Albaner« als Kosovo-Albaner, der arme Flücht­ling, das Opfer. Es wird immer ein Begriff benannt, der Begriffs­in­halt ist aber trans­for­mierbar. Dieje­nigen, die ihn trans­for­mieren, benutzen Klischees. Dieje­nigen, die das nachbeten, kennen die Klischees via Medien. Beides hat mit der Realität nicht zu tun.
Diffe­ren­zie­rung kann in dieser Situation keine Rolle spielen. Um zu dieser Sinn­stif­tung taugen zu können, braucht es die Verall­ge­mei­ne­rung. Verall­ge­mei­ne­rung ist aber per se immer falsch. Verall­ge­mei­ne­rung kann das Einzelne nie richtig begreifen.

artechock: Welche Funktion hat dann in diesem Zusam­men­hang Ihr Film ?

Stadler: Womöglich, ein bisschen an den Vorur­teilen zu knapsen. Wenn Sie aber jetzt sagen, dass die Geschichte natürlich auch wieder mit den einge­fah­renen Klischees spielt, dann ist das wieder eine Gefahr: Dass das, was da ist, wieder auf einer anderen Ebene repro­du­ziert wird.

artechock: Ich glaube, dass er sich weniger in den Klischees bewegt, als andere. Es ist ein unty­pi­scher Film, auch einer, der es dem Zuschauer weniger leicht macht, als andere In dem Sinn spielt er eben mit den Klischees, und repro­du­ziert sie nicht einfach, aber sie spielen auch eine Rolle.

Stadler: Zwangs­läufig. Denn egal wie man jetzt die Konstel­la­tion und die Figuren darstellen wollte, existiert jenseits davon ja ohnehin das Bild als Klischee. Insofern verhält es sich dazu, insofern muß es auch ein Teil davon sein.
Aber wenn Leute so genau hingucken: es gab eine Festi­val­vor­stel­lung in Montreal, wo hinterher ein älteres Ehepaar eine Frage stellte: Was damit bezweckt würde, dass der Jour­na­list, in dem Moment, wo er bei dem Hecken­schützen sitzt, israe­li­sches Mine­ral­wasser trinke. Das kann kein Zufall sein, muss eine Bedeutung haben. Aber ich wusste das nicht. Der Ausstatter hat das Wasser besorgt. Ich wusste nicht, dass Israel Mine­ral­wasser in den Libanon liefert.
Solange Leute so genau hingucken, sind wir ziemlich gefeit davor, völlig mani­pu­liert zu werden. Aber es gucken sicher nicht alle so genau hin.