15.04.2010

»Gegen das Rohe und Brutale steht die Verfei­ne­rung«

Werner Schroeter
Werner Schroeter auf der Viennale 2008
(Foto: dpa)

Zum Tod von Werner Schroeter: Ein spätes Gespräch mit dem Regisseur, Bomberpilot und Rosenkönig über Kunst, Politik, Schönheit, Marianne Hoppe und 1968

2008 kehrte er an die Lido zurück, begrüßt wie ein alter Bekannter und doch in der heutigen Filmwelt fast ein Debütant: Werner Schroeter, in Geor­gen­thal geboren und in Mannheim aufge­wachsen, gehört zu den wich­tigsten und einfluss­reichsten Künstlern der Bundes­re­pu­blik und des Nach­kriegs­kinos. Zusammen mit Alexander Kluge, Rainer Werner Fass­binder, Werner Herzog und Volker Schlön­dorff ist er eine Schlüs­sel­figur des »Neuen Deutschen Films« zwischen 1970 und 1980.

»Ich suche in meiner Arbeit nach den vitalen Kräften Liebe, Tod und Leben, ich benutze Phan­tas­ma­go­rien und Utopien« – Schroeter begann mit Expe­ri­men­tal­filmen über Maria Callas auf Super 8 und eignete sich schon früh seinen unver­wech­sel­baren Stil an: Stili­sierte, melo­dra­ma­ti­sche, in ihrer hoch­ge­radig gekün­s­telten Ästhetik, in der Bilder, Musik und Sprache gleich­be­rech­tigt exis­tieren, erinnern seine Filme die Beob­achter an Opern, obwohl Schroeter dies, wie auch den Bezug auf die Idee des Gesamt­kunst­werks, immer zurück­ge­wiesen hat. Am ehesten vergleichbar mit und ein europäi­sches Pendant zum Werk Andy Warhols hat Schroeter seinen eigenen, sonam­bulen Kosmos erschaffen, der seinen eigenen Ort in Zeit und Raum hat, nur nach eigenen Regeln funk­tio­niert, phan­tas­ti­sche Filme in der Tradition des frühen Kinos. Aber diese erträumte Welt ist nur eine Seite von Schroe­ters Sehn­suchts-Kino: Die andere ist gekenn­zeichnet durch radikalen Realismus, eine fast doku­men­ta­ri­sche Direkt­heit und Welt­erfah­rung.

Neurasia (1968), Argila (1968), Der Bomber­pilot (1970), Neapo­li­ta­ni­sche Geschwister (1978), Palermo oder Wolfsburg (1980), für den er den Goldenen Bär gewann, Das Liebes­konzil (1981), Der Rosen­könig (1986), Malina (1990) mag man in unserer Gesell­schaft des Kurz­zeit­ge­dächt­nisses kaum noch kennen – seiner­zeit waren sie berühmt, preis­ge­krönt und größere Publi­kums­er­folge.

Zuletzt ist er mit der Verfil­mung einer Erzählung des Urugu­ayers Juan Carlos Onetti ins Kino zurück­ge­kehrt: Para esta noche (Nuit de chien oder Diese Nacht). »Meiner Ansicht nach« sagte Schroeter zu diesem Projekt, »hat das Kino die Aufgabe, Utopien zu errichten, unsere inneren Tiefen auszu­loten, und die Komple­xität der Natur zu erkunden.« Es ist ihm oft gelungen, und des war immer spannend. Mit 65 Jahren ist Schroeter, bis zuletzt aktiv in der Arbeit stehend, am Montag gestorben. Das nach­fol­gende Interview ist der erste Teil eines mehr­tä­gigen Gesprächs über Schroe­ters Werk und Kunst­auf­fas­sung, das im März 2009 begann, und im Juni und September weiter­ge­führt wurde. Weitere Teile werden in nächster Zeit an dieser Stelle folgen. Von Rüdiger Suchsland.

artechock: Herr Schroeter, beim Festival von Venedig haben Sie im Herbst 2008 für Para esta noche einen Preis gewonnen – wie war die Erfahrung für Sie, auf die Festi­val­bühne zurück­zu­kehren?

Werner Schroeter: Weiß ich nicht. Ich war auf so vielen Festivals in meinem Leben – hab sie fast immer gewonnen übrigens – ich war sehr krank zu dem Zeitpunkt. Deswegen war das natürlich grau­en­haft anstren­gend.

artechock: Sie leiden seit Jahren an Krebs. Wie geht es Ihnen zur Zeit?

Schroeter: Besser. Der Krebs scheint zum Still­stand gekommen zu sein. Aber Krebs ist eine chro­ni­sche Erkran­kung – man weiß nie. Das schlum­mert dann irgendwo. Ich arbeite halt dauernd und das ist ein bisserl viel. Anstren­gend. Aber mir macht Arbeit auch sehr viel Freude, meine Arbeit jeden­falls. Nein, mir geht’s viel besser.

artechock: War die Krankheit schuld, dass man so lange keinen Film von Ihnen gesehen hat?

Schroeter: Auch. Ich war praktisch drei Jahre im Kran­ken­haus. Aber nicht zu vergessen: Wer finan­ziert solche Filme? Niemand. Das ist auch ein Punkt. Ich habe einfach keine Lust, durch diese Gremien-Vorzimmer zu gehen. Mein letzter Film Deux, ein in der Form sehr extremer Film mit einer groß­ar­tigen Isabelle Huppert, ist in Deutsch­land gar nicht gelaufen. Die Produk­ti­ons­lage für Filme wie meine ist sehr schwer. Aber der portu­gie­si­sche Produzent Paulo Branco, einer der wenigen, die wirklich immer nur das machen, was sie künst­le­risch wichtig finden, und der immer am Grabes­rand mit seinen Produk­tionen schwebt, hat mir noch während der Krankheit angeboten, wieder einen Film zu machen. So entstand mein neuer Film Para esta noche. Aber ich mache einfach auch wahn­sinnig gern Theater.

artechock: Sie haben Opern und Thea­ter­s­tücke insze­niert, eine Menge Filme gemacht. Begreifen Sie diese Arbeit überhaupt als einen konti­nu­ier­li­chen Zusam­men­hang, ein Werk?

Schroeter: Ja. Völlig organisch hat sich das entwi­ckelt, eines aus dem anderen, aufein­ander aufbauend. Und das Theater hatte zeitweise enorm Übermacht da bin ich bei 76 Insze­nie­rungen ange­kommen. Filme habe ich nur 35 gemacht.

artechock: Wie sind Sie auf Onetti gekommen, dessen Buch Sie jetzt verfilmt haben?

Schroeter: Ich habe eine gewisse Vergan­gen­heit mit Latein­ame­rika. 1983 habe ich in Buenos Aires unter­richtet. Das war noch zur Zeit der Mili­tär­dik­tatur. Da passierten furcht­bare Sachen. Onetti kannte ich schon länger. Eigent­lich hatte ich Branco „Giovannis Room“ aus den 50er Jahren vorge­schlagen – war extrem teuer. Dann kam er mit diesem Buch an. Das habe ich gelesen und sofort machen wollen.

artechock: Wie würden Sie die Haupt­figur, die der Pascal Gregory spielt, charak­te­ri­sieren?

Schroeter: Das ist eine Mischung aus Candide, dem Mann ohne Eigen­schaften und Che Guevara. Ein Frei­heits­held, der hat ja gekämpft. Wobei man wissen muss: Das Buch ist ja inspi­riert worden durch den Besuch von zwei spani­schen Exilanten, Repu­bli­ka­nern aus dem Bürger­krieg, die Onetti 1942 in Monte­video besuchten. Er hat das dann zu einer Metapher univer­sa­li­siert. Das ist das Schöne daran: Dass er sich nicht kolpor­ta­ge­haft am Zweiten Weltkrieg fest­klam­mert. Was auf der Hand gelegen hätte.

artechock: Wie war Ihre eigene Erfahrung der Diktatur?

Schroeter: Ich war einge­laden von der Univer­sität. Es war ein auf drei Monate geplantes Seminar mit dem schönen Titel »Tango und Realität in Argen­ti­nien«. Da haben die schon gemerkt: Da stimmt was nicht. Die haben die Studenten bedroht, und riefen täglich an mit dem Spruch: »Hier spricht der Tod.« Dann wurde beschrieben, wie sie massa­kriert würden. Schreck­lich. Dann musste ich das Land verlassen – in meinem Kopf hat sich der furcht­bare Satz fest­ge­fressen: Ich weiche der Gewalt. Dann fiel die Diktatur in sich zusammen und man hat mich 1984 gebeten, zurück zu kommen. Später habe ich den Film darüber gemacht: Por ejemplo Argentina.

artechock: Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Politik, die Bedeutung und Rolle von Politik in den letzten Jahr­zehnten verändert?

Schroeter: Es löst sich so auf. Es ist ein extremer Mate­ria­lismus. Ein Faktum, das nicht verwun­dern kann nach 1989. Aber das Gegenbild zum Beste­henden, dieser Kontrast fehlt enorm. Ich bin ja auch der Fall eines christ­li­chen Sozia­listen.

Wir wissen ja, das es scheitern musste. Aber indem es da war, war es ein denkbarer Kontrast. Dieses Gegen­mo­dell, wie es sich grandios auch äußert in solchen Büchern wie Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ fehlt enorm. Damit ist eine Verkars­tung einge­treten. Das ist natürlich eine Kata­strophe.

Das mate­ri­elle Denken. Als wenn die Materie, wenn ich sie bloß festhalte, mir ein ewiges Leben garan­tierte. Das ist eine Wahnidee, der reichen Schi­ckeria zumal. Aber auch bei kleinen Leuten hat sich dieser Gedanke so fest­ge­fressen.

artechock: Auch die Reichen hatten früher mehr Ideen ist mein Eindruck… Was dann heute so in Talkshows passiert, was in Boulevard-Zeitungen für ein Dreck steht… Hatte nicht selbst das Kapital früher auf seine Art Moral? Oder ist das eine Idea­li­sie­rung?

Schroeter: Das ist eine Idea­li­sie­rung.

artechock: War das Kapital nicht früher so einer bürger­li­chen Vorstel­lung verhaftet: Wenn ich in den Spiegel gucke, möchte ich mich nicht schämen?

Schroeter: Doch. So weit könnte die Selbst­lüge gegangen sein. Das ist klar: Im Untergang eines Systems liegt immer auch eine Tragödie. Sozia­lismus ist leider Gottes nicht so haltbar gewesen, wie das Chris­tentum, das ja die Verbre­chen der Kirche überlebt hat. Mir als Christ ist völlig bewusst, dass da die Schwäche des Menschen viele Schwei­ne­reien ange­richtet hat. Aber deswegen ist es trotzdem enorm wertvoll. Das Chris­tentum hat über­dauert. Aber wenn Sie überlegen, was vom Kommu­nismus übrig geblieben ist: Nordkorea, eine tragische Gespens­ter­bal­lade.

artechock: China rechnen Sie nicht zu den Über­le­benden?

Schroeter: Das ist eine Mischform. Alle negativen Punkte des Kapi­ta­lismus und des Kommu­nismus auf einem Haufen. Das ist auch eine Tragödie.

artechock: Wirklich?

Schroeter: Ich empfinde das so. Dass diese wunder­bare Kultur versaut ist. Ich habe mich früher sehr viel mit chine­si­scher Literatur beschäf­tigt.

artechock: Sie sind auch mal in China gewesen…

Schroeter: Einmal, nur kurz. Einer meiner Filme, den ich sehr gern mag, ist Der lachende Stern. Den habe ich auf den Phil­ip­pinen gedreht. Das war sehr inter­es­sant. So korrupt das dort alles sein mag, hat es die Leute nicht zerstört.

artechock: Ich wusste nicht, dass Sie sich als christ­li­cher Sozialist bezeichnen. Können Sie mir erklären, was das für Sie heißt?

Schroeter: Ja, doch. Für mich ist das gar kein Wider­spruch. Weil ich kein Mate­ria­list bin. Ich trage zwar den Schmuck der Eltern, weil ich der letzte Über­le­bende bin; die Sachen sind alle alt. Und ziehe mich gern elegant an. Aber ich bin nicht ange­wiesen auf Besitz­tümer. Ich brauche kein Auto und kein Haus, und nix. Eleganz steht zu Anti-Mate­ria­lismus auch nicht im Wider­spruch. Und als Christ wird man, glaube ich, geboren.

artechock: Es kommt wohl auch darauf an, was man genau darunter versteht. Man kann unter Chris­tentum vor allem ein prak­ti­sches Tun verstehen. Man könnte unter Chris­tentum auch eine bestimmte Vorstel­lung von Jensei­tig­keit, von Tran­szen­denz verstehen. Die nun bietet der Sozia­lismus bestimmt erst mal nicht…

Schroeter: Das ist eine Ergänzung. Das ist genau das Wort: Das sozial gelebte Leben und der christ­liche Gedanke ergänzen sich. Bloch zum Beispiel hätte ja gesagt, dass Christus auch ein Sozialist war. Dass das so ist, daran gibt es für mich keinen Zweifel. In das Thema Tran­szen­denz kann man jetzt nicht so schnell einsteigen. Auf jeden Fall ist es eine Frage des Glaubens. Der Sozia­lismus ist aber keines­wegs eine Glau­bens­frage, sondern eine Sache des Verstandes. Er scheitert an der Psycho­logie des Menschen.

artechock: Wo steht, wenn wir diese beiden Pole Verstand und Glauben nehmen, wo steht da die Kunst? Bei der Kunst geht es um Schönheit…

Schroeter: Kunst und Kultur ist die einzige Waffe gegen die Barbarei. Gegen das Rohe und Brutale steht die Verfei­ne­rung. Die Phantasie des Menschen. Und Kunst ist gleich­zeitig die schutz­lose Behaup­tung eines Anderen. Man kann das kreative Moment gar nicht genug fördern. Das ist das einzige, was die Seele und das Herz, und den Geist und den Körper in Bewegung hält. Mir ist das selbst­ver­s­tänd­lich. Für mich war es immer eine innere Notwen­dig­keit, mich künst­le­risch auszu­drü­cken. Da habe ich gar nicht drüber nach­ge­dacht. Das war da und ich habe es gemacht.

artechock: Ist Kunst eine Über­le­bens­hilfe?

Schroeter: Ich kann mir gar nicht vorstellen, ein anderer zu sein, als der, der ich bin. So naiv bin ich nicht. Ich finde, das Geschenk, das man kreativ sein darf, ist ein enormes Geschenk. Das ist ein Privileg, das hat man nicht verdient, das hat man geschenkt bekommen. Und das kreative Leben ist das Schönste, was es gibt. Das überträgt sich auch zurück auf die Beziehung zum Menschen. Die Phantasie in der Gestal­tung von Beziehung wächst ja auch wenn man sich dauernd beschäf­tigt mit diesem ausdrü­cken-müssen, mit diesem zuein­ander-finden. Diesem – nicht Zwang –, dieser Dring­lich­keit. »Una necessitá interiore.« Und es ist einfach schön. Man soll das nicht verklau­su­lieren oder codieren: Es ist einfach eine wunder­bare Aufgabe.

artechock: Kunst kann einen stark machen, ande­rer­seits macht sie einen aber ja auch – oder ist das eine Täuschung – verletz­lich…

Schroeter: Extrem. Das ist ja auch gut so. Die Offenheit, die erzwungen wird. Man muss sehr sehr sehr offen sein, man darf kein Selbst­mit­leid haben, man darf sich nicht sehr schützen. Braucht man auch nicht, wenn man ehrlich mit sich ist. Warum muss man sich dann so schützen?

artechock: Weil man schwach ist, weil die anderen stark scheinen…

Schroeter: Ich musste so lachen, als ich neulich einen Text über mich gelesen habe. Der war geschrieben wie von einem enttäuschten Liebhaber. Und über­schrieben: »Der Unnahbare«. Da hat der Autor unfrei­willig einen Geniekult geschaffen. Ich fand das witzig. Aber wenn da jemand empfind­lich ist… Na gut.

artechock: Ist es denn eine Legende, dass Rausch­zu­stände verschie­dener Art der Kunst helfen?

Schroeter: Das kommt darauf an, wie man reagiert. Ich hab auf Alkohol zu meinen besten Zeiten paradox reagiert. Das heißt, ich war luzide, ener­gie­ge­laden, ganz leicht, ganz konzen­triert, ein bisschen so wie Heiner Müller. Der konnte ja die Leute untern Tisch trinken, und war immer luzide. Wenn man merkt, dass man ohne Alkohol depressiv wird, dann muss man aufhören.

artechock: Mir scheint auch, dass Ihre Gene­ra­tion mit Drogen ganz anders umge­gangen ist, als dieje­nigen, die heute jung sind, oder zumindest unter 40. Die Jüngeren heute sind doch oft sehr bieder, auf Sicher­heit bedacht,

Schroeter: Bei meiner nicht. Ich bin ja gleich alt wie Fass­binder. Wir haben ja losgelegt. Man hat damals gar nicht darüber nach­ge­dacht. Mir kommt das heute immer so steril vor. Oder es sind alles heimliche Alko­ho­liker. Das ist natürlich scheuß­lich. Es war ja nach 1968 auch ein Gefühl in der Gesell­schaft: Man fühlte sich gut am Platze. Freier, dazu aufge­rufen, offener zu sein. Es war eigent­lich ein gesell­schaft­li­ches Verhalten mit weniger Lügen.

artechock: Aus heutiger Sicht würden viele entge­gen­halten: Die Lüge hat etwas Thera­peu­ti­sches. Die Wahr­heits­suche seiner­zeit war sehr ange­strengt, ener­vie­rend…

Schroeter: Aber das ist ja Quatsch. Ich kannte kaum verkrampfte Leute. Es gab 68er, die haben mich als deka­denten Bourgeois beschimpft. Aber diese Wider­sprüch­lich­keit war ja auch toll. Frag­würdig mag sie sein, auf jeden Fall führte es zu einem anderen Lebens­ge­fühl. Zu einer höheren Lebens­qua­lität im Umgang mitein­ander. Und der erotische Austausch war viel inten­siver. Es ging aber nicht um Ficken im Darkroom – diese Art von Freiheit kam später. Nach 1980.

artechock: Was waren die Entste­hungs­be­din­gungen dieser Freiheit?

Schroeter: Das Bürger­liche. Ich hab es am eigenen Leib erlebt. 1975/76 war ich Professor in Berkeley an der Univer­sität, einem Ursprungsort der 68er-Bewegung. Zu jener Zeit war nichts mehr davon zu bemerken. Das waren alles unbegabte Kinder von reichen Leuten, verklemmt. Der Wind war durch­ge­huscht, ohne Spuren zu hinter­lassen. Warum die Freiheit so schnell wieder wegge­worfen wird, kann ich nicht erklären. Ein Phänomen: Das kost­barste Gut außer der Liebe, die Freiheit wird über Bord geworfen, sobald es eben geht. Das zeigt auch die Geschichte in unserem Land. Um so deut­li­cher unter­streicht diese Vergan­gen­heit, die Notwen­dig­keit von 1968.

artechock: Muss man erst wieder Repres­sion und Krieg erleben, um die Freiheit schätzen zu lernen?

Schroeter: Ich halte das für absurd. Man braucht Herzens­bil­dung, einen gesell­schaft­li­chen Erkennt­nis­pro­zess. Bildung und Kultur sind so wichtig. Es ärgert mich immer wieder, wenn ich sehe, dass nicht einmal Sprachen gelernt werden. Wie wollen Sie Europa vereinen, wenn keiner den anderen versteht? Ich glaube, die Angst vorm Tod, überhaupt Angst ist das größte Macht­mittel. Die Leute haben ja schon beim Anblick einer Zigarette Angst vorm Tod.

artechock: Nun kann ja Angst auch produktiv sein. Oder glauben Sie das nicht?

Schroeter: Nein, Angst kann nie produktiv sein. Sie kann zu Panik­taten führen. Und manchmal sind solche Panik­taten sinnvoll. Einen Diktator zu erschießen zum Beispiel. Aber wenn der Diktator gar nicht da ist…

artechock: Was vermissen Sie neben der Freiheit am meisten?

Schroeter: Indem man älter wird, ist es schwie­riger, Partner zu finden. Mir fällt auf, dass viele junge Leute viel schüch­terner sind. Wenn die kommen und um Auto­gramme bitten. Als hätten sie kein Selbst­wert­ge­fühl. Und dann gibt es umgekehrt die Über­stei­ge­rung von Tölpeln.

artechock: Sie haben Opern und Thea­ter­s­tücke insze­niert, eine Menge Filme gemacht. Begreifen Sie diese Arbeit überhaupt als einen konti­nu­ier­li­chen Zusam­men­hang, ein Werk?

Schroeter: Völlig organisch hat sich das entwi­ckelt, eines aus dem anderen, aufein­ander aufbauend. Und das Theater hatte zeitweise enorm Übermacht da bin ich bei 76 Insze­nie­rungen ange­kommen. Filme habe ich nur 35 gemacht.

artechock: Wenn Sie ein neues Stück oder einen Film beginnen, wie fangen Sie dann an?

Schroeter: Man muss immer ganz leer anfangen. Es ist eh immer noch genug drin in der Erin­ne­rung. Aber besser, sich vorher innerlich zu entleeren. Man ist immer noch der Gleiche. Aber nicht der Selbe. Das ist wichtig: Der Gleiche sein aber nicht der Selbe. Das ist der feine Unter­schied.

artechock: Können Sie das erklären?

Schroeter: Isabelle Huppert hat sich mal beschrieben als eine Leinwand: Die wird dann gefüllt. So sehe ich mich auch.

artechock: Gibt es einen Maßstab dafür, wann etwas geglückt ist, und wann nicht?

Schroeter: Das spürt man. Im Fall meines neuen Films habe ich gespürt, dass er sehr geglückt ist.

artechock: Bei welchem Film oder welcher Insze­nie­rung haben Sie das Gefühl: Das ist mir am aller­meisten geglückt?

Schroeter: Der Film Rosen­könig. Im Theater: Medea von Jahn. Von Labiche Petit Matin. Und von Mishima: Der tropische Baum. Natürlich fallen mir noch andere Sachen ein. Aber ich kann Ihnen auch sagen, was ich am furcht­barsten fand: Im Film ist das Der schwarze Engel, das finde ich sehr gemischt. Und im Theater Die Perser in Köln am Schau­spiel – puh! Das sind so die Tief­punkte.

artechock: Woran lag das?

Schroeter: Die Kraft­frage. Weil ich in dem Moment nicht die Kraft hatte, das richtig durch­zu­ziehen. Und im Fall der Perser ist mir klar, warum das miss­lungen ist: Ich habe mir den Stoff aufdrängen lassen. Das sollte man nie. Ich wollte die Antigone insze­nieren. Da wusste ich, wie ich das machen würde.

artechock: Neulich habe ich Deutsch­land im Herbst wieder­ge­sehen. Und ich habe mich gefragt, warum Sie eigent­lich nicht dabei waren?

Schroeter: Hab ich mich auch gefragt. Hat Fass­binder sich auch gefragt.

artechock: Aber Kluge oder Schlön­dorff haben Sie nicht ange­spro­chen?

Schroeter: Nö. der Kluge fragt mich zwar dauernd etwas aber damals nicht. Das hat den Rainer Werner auch gewundert.

artechock: Schade.

Schroeter: Ja finde ich auch. Das wäre ein guter Kontrast gewesen. Der Film ist gut.

artechock: Wissen Sie, was Sie gemacht hätten?

Schroeter: Nein, das ist jetzt zu lange her. Der Film ist gut. Was hätte ich gemacht? Ich hätte mich wahr­schein­lich mit Lessing ausein­an­der­ge­setzt. Ich halte Lessing ja für einen progres­siven Mann, keines­wegs für den Kinder­buch­autor, zu dem er heute erklärt wird. Ich finde Emilia Galotti progres­siver, als viele Bücher von Bataille. 1977 habe ich insze­niert Miss Sara Sampson von Lessing. Da hätte ich sicher mit Deutsch­land und Lessing irgend­etwas gemacht.

artechock: Lesen Sie eigent­lich Kritiken zu Ihren Filmen?

Schroeter: Wenn man Sie mir schickt.

artechock: Was erwarten Sie von einer Kritik?

Schroeter: Intel­li­gente Schreibe. Deswegen war mir ein Verriss von Benjamin Henrichs lieber als irgendein positives Gesulze. Das liebe ich: Wenn jemand in der eigenen Sache sich äußert, und gut schreiben kann, eine essay­is­ti­sche Qualität hat. Wolfram Schütte steht dafür, der hat den deutschen Film begleitet. Das war einfach schön zu lesen.

artechock: Einer Ihrer schönsten Filme ist Die Königin mit und über Marianne Hoppe…

Schroeter: Die mochte ich so gern! Sie lebte auch im Alter noch gerne – wenn man sich um sie kümmerte. Ich habe mit ihr in Berlin viel Zeit verbracht – im schwulen Stri­ch­lokal mit einer 90-jährigen! Für den Film habe ich viele Inter­views mit ihr gedreht, es gibt noch viel mehr Material. Aber das werde ich nicht veröf­fent­li­chen. Mir gefällt nicht, wie das Publikum mit ihr umge­gangen ist. Sie wurde noch in öffent­li­chen Gesprächen aus dem Publikum als „Nazisau“ beschimpft, weil sie nach Hitlers Macht­an­tritt nicht ins Exil gegangen war. Dabei liegen die Dinge doch kompli­zierter, und derartige Vorwürfe werden ihr überhaupt nicht gerecht. Und Marianne Hoppe selbst sagt ja in meinem Film auch auf die Frage, warum sie geblieben ist: Es sei „unver­zeih­lich“, das sie dage­blieben ist.

Das ist eh eine drollige Geschichte: Denn Marianne hat ja eigent­lich mehr die Frauen geliebt. Aber es gab drei oder vier große Männer­lieben in ihrem Leben. Und einer davon war Ödon von Horvath. Als der nach Paris ins Exil gegangen ist, hat er Marianne beschworen mitzu­kommen. Sie wollte, aber sie konnte nicht – wegen der Sprache, ihrem Instru­ment. Aber wie dem auch sei… Es gab viel­leicht viele andere Gründe, wer weiß?

artechock: Auch Feigheit?

Schroeter: Die war nicht feige. Eine weniger feige Person kenne ich nicht. Feige war Marianne nie.

artechock: Sie haben auch mit ihr auf der Bühne gear­beitet. Wie haben Sie sie kennen­ge­lernt?

Schroeter: Als ich 13 war. Indem ich sie auf der Bühne gesehen habe und faszi­niert war. Bei einer schreck­li­chen Thea­ter­auf­füh­rung, einem Gastspiel des Burg­thea­ters in Bielefeld. Da spielten solche furcht­baren Damen wie Paula Wessely und ihr Mann, der Hörbiger. Und auf einmal trat von rechts hinten Frau Hoppe auf – und damit wurde das auf einmal Kunst. Dann habe ich mir hinter der Bühne ein Autogramm geholt. Wir waren sehr gut befreundet. Am meisten liebte ich ihren bein­hartem Humor.