09.06.2022

»Und dann sagte er: ›Oh, lass uns drehen!‹«

Tim Roth
Tim Roth, Denker des Kinos
(Foto: 2021 Bleecker Street)

Tim Roth beeindruckt in Sundown mit lethargischer Trauerarbeit. Die meiste Zeit sitzt er am Strand und macht – gar nichts. Ein Interview über die Freude am Drehen und das Entdecken von Projekten

Tim Roth ist seit Jahr­zehnten einer der gefrag­testen und viel­schich­tigsten Charak­ter­dar­steller Holly­woods. Neben seinen Rollen in Filmen wie Reservoir Dogs, Pulp Fiction, Vincent & Theo (1990) und Meantime (1983) wurde er 1995 für seinen Auftritt in Rob Roy für den Oscar als bester Neben­dar­steller nominiert.

Wir sprachen mit ihm über seinen neuen Film Sundown, moderne Stumm­filme, bekannte und unbe­kannte Filme­ma­cher.

Das Gespräch führte Anna Edelmann

artechock: Ihr erster Film mit Michel Franco, Chronic, beginnt trostlos und steigert sich zu einem totalen Schlag in die Magen­grube. Im Gegensatz dazu hat Sundown eine gewisse Leich­tig­keit, einen subtilen Sinn für Humor. Wie haben Sie die Balance zwischen der harschen Darstel­lung des Wohl­stands­ge­fälles auf der einen, und dem trockenen Humor auf der anderen Seite gefunden?

Tim Roth: Ich freue mich, dass Sie das sagen. Ich habe den Film noch nicht gesehen.

Denn ich möchte ihn so sehen, wie er gesehen werden sollte: mit einer Gruppe von Fremden in einem dunklen Raum. Das werde ich also tun. Norma­ler­weise sehe ich mir meine Sachen nicht an. Aber alles, was ich mit Michel mache, werde ich mir ansehen. Ich liebe seine Filme.

Es ist inter­es­sant, weil manche das nicht sehen. Einige Personen, mit denen ich gespro­chen habe, haben den Film gesehen und sagten: »Er ist so lustig. Er ist düster, aber es ist wirklich lustig.« Andere halten die Figur, die ich spiele, für einen Sozio­pa­then. Und das spricht für die Art, wie Michel arbeitet und was er an Film mag. In der Hinsicht, dass er großen Respekt vor dem Publikum hat. Er füllt die Zeit nicht mit Dialogen. Er sagt einem nicht, was man denken soll. Wenn ich am Strand spaziere, muss ich nicht sagen: »Hier gehe ich am Strand entlang.« Wir haben Kameras. Also macht er das nicht. Und er über­la­gert es nicht mit Musik, damit man weiß, was man in jedem Moment denken oder fühlen soll. Das Publikum wird mit unglaub­li­chem Respekt behandelt und das hat zur Folge, dass jeder Zuschauer einen anderen Film sieht. Ich weiß also nicht, welchen Film ich sehen werde, wenn ich ihn sehe. Es wird eine persön­liche Erfahrung sein.

Die Dreh­ar­beiten hatten jedoch eine sehr impro­vi­sa­to­ri­sche Atmo­sphäre. Wir waren uns von Tag zu Tag darüber im Klaren, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt vermit­teln wollten, aber dennoch war er sehr offen für Verän­de­rungen, wenn sich Dinge ergaben. Wenn sich zum Beispiel am Strand etwas ergab, sah er es und sagte: »Oh, lass uns das drehen.« Wir haben chro­no­lo­gisch gedreht. Es hatte tatsäch­lich ein Leben und entwi­ckelte sich immer weiter. Wir waren ziemlich strikt darauf bedacht, von diesem Punkt zu jenem Punkt zu gelangen. Wie wir jedoch dorthin kommen, das ist ein Abenteuer, und das ist sehr mutig von einem Regisseur. Es ist modern, aber auch sehr altmo­disch. Es spricht vom alten Kino, vom Stummfilm. Selbst an den lautesten Orten gibt es Raum für Stille, und so gibt es auch dieses Element des Erzählens. Und dann hat natürlich die Tatsache, dass ein männ­li­cher Weißer an diesem Ort ist, ihre eigene Geschichte, die es zu erzählen gilt.

artechock: Sie begannen Ihre Karriere in den Filmen von Alan Clarke und Mike Leigh, und Sie bewundern Ken Loach.

Roth: Oh mein Gott, ja! Ich war ein Statist in einem Film von Ken Loach. Er kam nach Amerika, um einen Film namens BREAD & ROSES über den Streik zu drehen, der hier stattfand (Die Streiks im Rahmen der „Justice For Janitors“ Kampagne in Los Angeles; Anm. d. Red.) und Benicio Del Toro und ich waren Statisten. Wir haben in einer Szene uns selbst gespielt.

Wann immer ich in London bin, gehe ich mit ihm essen oder plaudere mit ihm. Er hat mein Leben verändert, als ich als kleines Kind Kes gesehen habe. Es war über­wäl­ti­gend, dass man Filme über reale Themen und nicht nur über Fanta­sie­ge­schichten drehen konnte. Deshalb liebe ich ihn.
Aber ja, ich habe mit Mike gear­beitet, ich habe mit Stephen Frears gear­beitet, das war mein erster Spielfilm. Aber Alan Clarke ist derjenige, der mich auf diesen Pfad gebracht hat.

artechock: Sehen Sie eine Art Geis­tes­ver­wandt­schaft zwischen diesen Regis­seuren und den Werken von Michel Franco?

Roth: Definitiv. Das ist aller­dings schwierig einzu­ordnen, denn ich glaube, Michel ist einzig­artig. Wie würde ich ihn denn beschreiben... er ist viel­leicht eine Mischung aus Pasolini und Ken Loach mit einem Hauch von... nein, das will ich nicht sagen. [Kichert.] Mit einer Prise Fellini als Zugabe. Das ist eine fantas­ti­sche Mischung. Er ist wahn­sinnig originell. Meine erste Begegnung mit ihm war, als ich in Cannes war. Ich war der Präsident von „Certain Regard“ und gab ihm einen Preis für Después de Lucía, einem äußerst schwie­rigen, aber wunder­baren Film. Er hat keine Angst, Michel. Und dann habe ich ihn um einen Job gebeten, und daraus wurde Chronic. Als Filme­ma­cher ist er unge­wöhn­lich. Ich glaube, das sind alle der besten Filme­ma­cher.

artechock: Sie haben mit vielen jungen Regis­seuren oder Regie­de­bü­tanten zusam­men­ge­ar­beitet. Nach welchen Kriterien wählen Sie diese Projekte aus?

Roth: Nun, es ist genau wie damals, als ich mit Quentin (Tarantino; Anm. d. Red.) gear­beitet habe. Er hat mir einfach das Drehbuch geschickt, weil er noch keinen Film gedreht hatte. Und es war mir egal, dass er noch keinen Film gedreht hatte. Ich habe das Drehbuch gelesen und dachte: »Ja!« So ist das eben und deshalb mache ich mir darüber auch keine Gedanken. Gerade habe ich in Luxemburg mit einer Regis­seurin gear­beitet, die zum ersten Mal bei einem Spielfilm Regie geführt hat (Poison von Desirée Nosbusch; Anm. d. Red.). Die ich geliebt habe. Es war unglaub­lich. Trina (Dyrholm; Anm. d. Red.) ist einfach verrückt. Ich habe Trina geliebt. Und es gibt in diesem Film nur uns beide.

Und für James Gray (Little Odessa, 1994; Anm. d. Red.) war das damals sein erster Spielfilm. Aber das ist mir egal. Ich inter­es­siere mich für die Geschichten, die sie zu erzählen haben. Es muss noch nicht einmal eine Haupt­rolle sein, es kann eine kleine Rolle sein. Es geht nur darum: Wie ist die Geschichte, wie ist das Drehbuch, und dann will ich sie kennen lernen und mit ihnen auf eine Reise gehen. Sehen, was sie drauf haben!

artechock: Es scheint ein großes Vertrauen zwischen Ihnen und Michel Franco zu herrschen. Wie beginnen Sie die Arbeit an Ihren Filmen? Starten Sie mit einem fertigen Drehbuch?

Roth: Nein, es gibt kein Drehbuch. So wie wir es machen [lacht], zumindest denke ich, dass es norma­ler­weise so abläuft. Er ruft mich an, er hat mich erst neulich angerufen. Er filmt gerade. Dann tele­fo­niert er mit mir und sagt: »Tim...« und schon geht es los. Er fängt mit einer Idee an und dann reden wir und reden und reden und werfen die Idee hin und her, fragen uns »was wäre, wenn« und all das Zeug. Und dann zieht er sich irgend­wann zurück und fängt an zu schreiben. Dann geht es schnell, dann hat man plötzlich ein Drehbuch und dann zerreißt man es und spielt herum und kommt allmäh­lich zu dem Punkt, an dem man mit dem Drehen beginnen kann. Es entwi­ckelt sich weiter und dann heißt es: »Okay, wir sind bereit.« Wir fangen an zu filmen und es entwi­ckelt sich weiter und verändert sich, und dann führt es ein Eigen­leben. Bis zu dem Punkt, an dem er »fertig« sagt, ist es also eine Sache, die sich ständig weiter­ent­wi­ckelt. Wir wissen den Plan für den Hand­lungs­ab­lauf, aber der kann sich noch ändern. Wenn etwas passiert, hält er die Kamera drauf, und es wird sich etwas ändern. Das ist wirklich mutiges Filme­ma­chen. Und dann, wenn ich fertig bin, geht es wieder los, in der Post­pro­duk­tion. Aber der Prozess dauert so lange, bis er es sagt. »Okay, das war’s. Rüber zum Publikum.« Und dann sehen Sie ihn und entscheiden, worum es in dem Film geht. Und soweit ich weiß, haben die Menschen, die den Film gesehen haben, unter­schied­liche Vorstel­lungen davon, worum es in dem Film geht. Ich finde das fantas­tisch.

artechock: Es ist eine sehr eindring­liche Erfahrung, den Film im Kino zu sehen.

Roth: Ja, ich glaube, das ist die Art und Weise, wie er es sich wünscht, dass der Film gesehen wird und ich respek­tiere das. Ich werde warten, bis ich den Film in einem Kino sehen kann. Denn Covid hat zuge­schlagen. Als wir zu drehen begannen, fing auch Covid an und damit war es das für eine Weile.

artechock: Sie erwähnten, dass seine Filme mit Ihnen leicht impro­vi­siert sind. Dabei wirken seine Filme so präzise, wo ein Wort oder eine Geste alles verändern kann.

Roth: Die impro­vi­sierte Qualität liegt in der Produk­tion. Es ist eine der schwie­rigsten Aufgaben, einer Figur die Insze­nie­rung zu nehmen. Die Zuschauer sollen das Gefühl haben, dass sie mir zusehen und mich auf dieser Reise begleiten. Ich versuche, die »vierte Wand« zu durch­bre­chen, die Trennung zwischen dem Publikum und dem Schau­spieler oder der Geschichte aufzu­heben und das Publikum auf diese Reise mitzu­nehmen. Sie werden nicht dazu gezwungen, in eine bestimmte Richtung zu denken. Es steht ihnen frei, diese Reise auf viele verschie­dene Arten zu sehen und zu gehen.

artechock: Ihr Sohn wird im Abspann von Sundown als Mitwir­kender genannt.

Roth: Ja, er war bei der Produk­tion dabei, er war einer der Regie­as­sis­tenten. Er hat bei Chronic ange­fangen. Er war nur der Typ, der den Tee holt. [Lacht.] Nur damit er das Filmset erleben konnte. Mein Sohn ist ein Filme­ma­cher, studiert aber noch. Er sollte einen echten Filme­ma­cher bei der Arbeit sehen. Ich habe mich sehr darauf gefreut, mit Michel zu arbeiten, als wir Chronic gemacht haben, und deswegen kam er zu uns. Er war der Typ, der versucht hat, den Verkehr anzu­halten [Roth ahmt die hekti­schen Bewe­gungen eines Verkehrs­po­li­zisten nach]. Das Gleiche hat er auch bei Sundown gemacht, aber noch viel mehr. Er war nun in der Hier­ar­chie höher ange­sie­delt und half Michel auch manchmal beim Schreiben, beim Ausdenken von Szenen und Ideen, während das Projekt lief. Er steht Michel also sehr nahe. Michel ist wie eine Familie für uns.

artechock: Haben Sie nach Ihrem Debütfilm The War Zone erwogen, erneut Regie zu führen? Harold Pinter hat für Sie »King Lear« adaptiert. Arbeiten Sie noch an diesem Projekt?

Roth: Nein, ich glaube, die Sache hat sich erledigt. Das Drehbuch wird aber nicht in den Müll wandern, ich will einen guten Regisseur dafür finden. Ich hatte zwei Dreh­bücher, die ich mir angesehen habe. Das eine war Harolds Adaption von »King Lear«. Aber zu diesem Zeitpunkt war es sehr schwierig, Geld für eine Shake­speare-Verfil­mung zu bekommen, wenn man nicht gerade Kenneth Branagh oder jemand ähnliches war. Aber das Leben geht weiter. Es ist ein erstaun­li­ches Drehbuch, ein bril­lantes Stück Arbeit. Ich weiß es nicht, viel­leicht doch noch, zu einem späteren Zeitpunkt... Aber ich werde sicher­lich ein neues Heim dafür finden, denn es ist unglaub­lich... es ist Harold! Pinter trifft auf Shake­speare! Es gehört verfilmt.