04.04.2019

»Es erschreckt mich immer wieder, dass ich bald schon ein Erwach­sener bin«

Marcus H. Rosenmüller
Marcus H. Rosenmüller
(Foto: © Manuela Theobald)

Marcus H. Rosenmüller über seinen mit der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ produzierten Schüler-Film Unheimlich perfekte Freunde, das deutsche Schulsystem, seine eigene Schulzeit und das Erwachsenwerden, das Elend mit der Selbstoptimierung, die Arbeit mit Kinderschauspielern und den Film, den er immer schon drehen wollte, aber bislang noch nicht gedreht hat

Nach seiner über­zeu­genden Film­bio­grafie Trautmann, die vor einem Monat in unsere Kinos kam, startet diese Woche ein weiterer Film von Marcus H. Rosen­müller in den deutschen Kinos. Rosen­mül­lers Kinder­film Unheim­lich perfekte Freunde ist in Koope­ra­tion mit der Initia­tive „Der besondere Kinder­film“ entstanden, die bereits für so unge­wöhn­liche Produk­tionen wie Auf Augenhöhe und Ente gut! verant­wort­lich war.

Auf den ersten Blick mag Rosen­müller kein klas­si­scher Kinder­film­re­gis­seur sein, doch im Grunde ist sein als „neuer Heimat­film“ charak­te­ri­siertes Werk nicht nur an einem immer wieder über­ra­schenden und radikalen Umschreiben des Heimat­be­griffes inter­es­siert gewesen, sondern waren viele seiner Filme immer auch Coming-of-Age Geschichten von Kindern und Jugend­li­chen – sei es Sebastian Schneider in Wer früher stirbt ist länger tot, Kati und Jo in Rosen­mül­lers Coming-of-Age Trilogie Beste Zeit, oder Lili und Fabian in Sommer in Orange.

In Unheim­lich perfekte Freunde, das sich in Teilen wie eine Variante von Penny Marshalls Big oder die kinder­kon­forme Version von Jordan Peels Wir ansieht, richtet sich Rosen­müller und das bissige Drehbuch von Simone Höft und Nora Lämmer­mann aber auch gegen das marode, fanta­sie­lose deutsche Schul­system und eben­solche Eltern, die in ihrem elitären Denken nicht mehr zwischen ihrem eigenen Leben und dem ihrer Kinder unter­scheiden können.

Das Gespräch führte Axel Timo Purr.

artechock: Herr Rosen­müller, ich bin noch ganz durch den Wind. Ich habe mir gerade Ihren Trautmann angesehen.

Marcus H. Rosen­müller: Dann sind Sie ja gut vorbe­reitet für das Interview.

artechock: Na ja, eigent­lich sollte es ja hier um Ihren Kinder­film Unheim­lich perfekte Freunde gehen. Aber ich muss sagen, Trautmann hat mich über­rascht. Weil ich befürchtet hatte, dass es ein bisschen zu rührselig werden könnte, zu rührselig für diese Thematik.

Rosen­müller: Ich bin aber auch ein sehr rühr­se­liger Mensch. Das kann bei mir schon passieren.

artechock: Bin ich auch und mag ich auch. Aber gerade bei dem Thema hätte ich gedacht, es könnte zuviel zuviel sein. Aber ich fand es gut. Ich fand auch die Schuld­frage inter­es­sant heraus­ge­ar­beitet. Wie sieht Schuld aus, wie groß ist der Komplex in einem Leben? Wie kann man das wieder gutmachen?

Rosen­müller: Ja, das war ein großes Projekt, das ist der Hammer und jetzt bin ich auch froh, dass er erscheint.

artechock: Ich finde Trautmann auch deshalb inter­es­sant, weil er so wie Ihr Kinder­film Unheim­lich perfekte Freunde wie eine Eman­zi­pie­rung von Ihrem bishe­rigen Werk aussieht. Weg von dem beson­deren Heimat­film. Weg auch in andere Rich­tungen. Alleine vom Setting der Orte her. In Trautmann ist es England, in Unheim­lich perfekte Freunde befinden wir uns in Leipzig.

Rosen­müller: Das ist eher ein schöner Zufall als gewollt, kein Konzept. Es war immer schon so, dass ich mich auf Sachen einge­lassen habe, die mir ange­tragen wurden. Oder mich hat die Geschichte inter­es­siert, dann habe ich es gerne gemacht. Und es war immer das Thema im Film, das ich inter­es­sant fand. Und das war halt bei Trautmann eine Geschichte, die in England spielt. Und das war bei dem Kinder­film eine Geschichte, die nicht nur in München, sondern in einer anderen Stadt spielt. Die die Auto­rinnen auch aus gutem Grund auf hoch­deutsch geschrieben haben. Und von dem her haben wir in Leipzig und München gedreht, und Wien.

artechock: Bad Tölz war auch mit dabei...

Rosen­müller: Stimmt, da waren wir auch. Da war das Schwimmbad. Aber es ging nicht um eine baye­ri­sche Erdung.

artechock: Da gab es bei Ihnen kein Fremdeln? Wie entstand eigent­lich die Zusam­men­ar­beit mit der Initia­tive, dem beson­derem Kinder­film? Sie sind ja eigent­lich kein desi­gnierter Kinder­film­re­gis­seur. Obwohl viele Ihrer Themen durchaus Coming-of-Age-Themen verhan­deln.

Rosen­müller: Ja, das waren immer ein paar Kinder­prot­ago­nisten mit dabei. Wer früher stirbt ist länger tot, Die Perl­mut­ter­farbe war ein Jugend­film...

artechock: Und Sommer in Orange hat ebenfalls Anteile...

Rosen­müller: Stimmt, aber da gab es natürlich auch viele Erwach­sene. Doch insgesamt waren die Kinder in meinen Filmen schon das Ausschlag­ge­bende dafür, dass die Produk­tion und die Auto­rinnen sich mich gewünscht haben. Weil sie das Gefühl hatten, ich kann das warm­herzig insze­nieren, die Kinder vor allem. Das habe ich auch versucht. Die haben mir einfach das Drehbuch geschickt. Das dann auch deswegen für mich inter­es­sant war, weil ich selber an einem ähnlichen Thema, einem eigenen Drehbuch gear­beitet hatte. Mit dem ich aber nicht zufrieden war, weil es mir ein bisschen zu sehr mit erhobenem Zeige­finger daher­kommt. Da werde ich auch dran­bleiben, das dauert bloß bei mir immer etwas länger. Und es ist ja eine tolle Kombi­na­tion, das Thema Leis­tungs­druck und dann noch eine Aben­teu­er­ge­schichte. Und mit sowohl ernsten als auch lustigen Anteilen.

artechock: Hatten Sie andere, deutsche Kinder­filme im Kopf? In denen es ja bei allem Ernst meist nicht ohne Klamauk geht, und Ernst meist ausge­schaltet ist?

Rosen­müller: Ich habe natürlich andere Sachen gesehen. Aber es gibt kein konkretes Vorbild. Es gibt da einen italie­ni­schen Film mit Kindern, der ist aber auch kein Kinder­film und der geht ästhe­tisch in eine ganz andere Richtung. Nein, ich lese einfach das Buch, ich sehe die Geschichte und ich denke mir, eigent­lich müssten wir es so umsetzen. Ich wollte aber vor allem, dass auch der Dreck im Film zu sehen ist. Nicht diese sterile Welt...

artechock: Das fand ich super, dass es nicht schon wieder der Entwurf einer weiteren Lego­land­welt ist, eine leider typische Heran­ge­hens­weise im gegen­wär­tigen deutschen Kinder­film.

Rosen­müller: Das ist überhaupt nicht mein Geschmack. Mir war es wichtig, dass es trotz dem Fantas­ti­schen authen­tisch ist und dass ich das selbst auch spüre. Deswegen wollten wir auch unbedingt in Sied­lungen drehen, wo man lebt. Wo eine allein­er­zie­hende Mutter mit ihrem Sohn lebt, gerade, weil sie sich nichts anderes leisten kann. Uns war wichtig, dass wir gerade nicht nach den scheinbar ästhe­tisch schönsten Motiven gesucht haben. Stimmig sollten sie sein. Das war wichtig.

artechock: Ente gut! spielt ja in Halle. Und Krebitz‘ Wild. Gleich neben Leipzig. Und wie aufregend so ein Drehort sein kann, zeigt auch Thomas Stubers In den Gängen, der ebenfalls in Leipzig spielt. Und dennoch ist es weiterhin unge­wöhn­lich, das in einem Kinder­film zu sehen. Haben Sie das entschieden?

Rosen­müller: Nein, das war eine gemein­same Entschei­dung. Auch weil der MDR mit an Bord ist. Und wir da auch gerne was gedreht haben. Man hätte sich natürlich für andere Motive dort entscheiden können. Aber die Sied­lungs­szenen haben wir in München gedreht.

artechock: Kaum zu glauben, aber wenn man genau hinsieht, hat natürlich auch München seinen Anteil Leipzig.

Rosen­müller: Das ist schon lustig. Aber ich mag das. Und es ging uns unbedingt darum, authen­ti­sche Motive zu finden. Und nicht so Hoch­glan­ze­cken zu zeigen. Das alles bunt und besonders bunt ist. Wir haben die Farben schon drama­tur­gisch einge­setzt. Zu Beginn war es bunter um die Wildheit und das Lebendige zu unter­s­tützen. Und als die Doppel­gänger erscheinen, wird es unifor­mierter, farbloser. Es ist schon so, dass die Großs­tädte, die Zentren sich immer mehr ähneln, immer unifor­mierter und glanz­loser werden. Bezie­hungs­weise wir nur denken in ihrem Glanz, den sie verbreiten, es wäre Glanz. Dabei wird es halt immer lebloser.

artechock: Ich musste bei den Jahr­markt­szenen an Big mit Tom Hanks denken; da wird eine sehr ähnliche Geschichte erzählt. Er will erwachsen werden, um alle Möglich­keiten im Leben abschöpfen zu können. In Unheim­lich perfekte Freunde ist das ja sehr ähnlich. Und vor allem deshalb sehr aktuell, weil viele Kinder und Jugend­liche mitt­ler­weile so perfek­tio­nis­tisch und selbst­op­ti­mie­rungs­mäßig denken und handeln – ohne das unbedingt die Eltern dahinter stehen.

Rosen­müller: Na ja, das Thema ist schon ein Thema, in dem ich mich auch selbst wieder­finde. Jetzt bin ich erwachsen, erinnere mich einer­seits an mich als Kind und im nächsten Moment an die Rolle, die die eigenen Kinder antreibt. Und deswegen stelle ich mich mit dieser Geschichte auch gerne dagegen. Ein bisschen Chaos, auch ein bisschen Klamauk. Auch ein bisschen sich wieder daran zu erinnern, ein bisschen Dadaismus, deswegen diese Schriften am Anfang. Ein bisschen diese Einsprengsel bei der Musik. Dass allein das Sein schon wertvoll ist. Und das man mal raus aus diesem Denken kommt – dieses Das, was ich jetzt gerade mache, ist wichtig für irgend­wann. Diese ganze Selbst­op­ti­mie­rung. Dieser Druck, dieses Nach­außen­schielen, sich selber nicht so zu akzep­tieren. Einfach mal zu kapieren, dass man nicht perfekt ist, dass das schon passt. Und dass es den anderen genauso ergeht.

artechock: Früher hat man sich ja geschämt für seine guten Noten, heute scheint es mir genau anders herum zu sein...

Rosen­müller: Ich war gar nicht so dabei bei den Guten und erinnere das anders. Ich glaube, ich habe mich schon ein bisschen geschämt, bei meinen Deutsch­noten. Da war es schon so, dass ich mir gewünscht habe, dass mir doch besser wer anders den Aufsatz geschrieben hätte, so wie in unserem Film. Aber es stimmt schon, heute kommt der Druck nicht nur von den Eltern, sondern kommt von den Kindern selbst. Weshalb man auch selbst erkennen muss, dass es wichtig ist, mal mit sich zufrieden zu sein. Das ist tatsäch­lich ein bisschen Arbeit, sich einzu­ge­stehen und zufrieden zu sein, dass ich jetzt mal nichts gemacht habe. So wie als Kind, wie du im Bach stehend Forellen beob­achtet hast. Einfach nur das. Und das war es. Und das war erfüllend. Das geht mir ja selbst immer wieder so, wenn ich ein paar Stunden an einem Werktag mal nichts tue, dann habe ich immer ein schlechtes Gewissen. Ich versuche dann, daran zu arbeiten, und denke mir, lass es doch gut sei... Aber diese Selbst­op­ti­mie­rung, dass es immer einen Sinn haben muss, die kommt einem immer in die Quere.

artechock: Es ist brutal schwer, sinnlos zu leben. Deshalb ist ihr Film ein schönes Statement gegen diese herr­schende Moral.

Rosen­müller: Es braucht dazu dann einfach noch die Neugierde, auf die mache ich ja auch aufmerksam, die einem dabei hilft, sich dagegen anzu­stemmen. Der Antrieb für die Neugierde, neugierig am Leben zu sein, ist das Wich­tigste überhaupt.

artechock: Ohne Neugierde ist das Leben vorbei...

Rosen­müller: Und die trau­rigste Sache überhaupt: Dann hat es dich plötzlich doch erwischt. Und das hat auch was mit Über­ar­bei­tung zu tun. Und mit dem, was unsere Ziele in der Gesell­schaft sind.

artechock: Weil natürlich in unserem Schul­system mit den langen Schul­tagen die Zeit für Lange­weile fehlt. Und Neugierde entsteht ja auch in diesen Momenten totaler Lange­weile. Dass man plötzlich fokus­siert ist auf etwas, das vorher überhaupt nicht im Kopf gewesen ist.

Rosen­müller: Und wenn es doch mal klappt, man die Langweile nicht mehr zulässt.

artechock: Warum funk­tio­niert es so gut mit den Kinder­schau­spie­lern bei Ihnen?

Rosen­müller: Das Casting ist schon einmal wichtig. Das ist einfach wichtig, da einen Blick zu haben, dass derjenige, der vor dir hockt, auch authen­tisch ist. Und eine gute Casterin ist immer Gold wert. Und dann ist es für mich schon so, dass ich die Mädels und Buben da als Kumpel sehe. Also dass ich die nicht von oben herab betrachte, sondern dass ich schon auf Augenhöhe mit denen sein möchte. Ich will Spaß haben, und die Kinder sollen weniger den Druck spüren, sondern die Freude am Spiel erleben. Denn das ist ja ein Spiel. Schau­spieler, das wollen sie sein und das sollen sie auch spielen. Und ich versuche, ihnen die Angst zu nehmen. Die kann ich ihnen natürlich nicht ganz nehmen. Weil dann da plötzlich ein Kame­ra­mann ist und so. Aber durch viel Auspro­bieren, auch Blödelei mit meinem Kame­ra­mann, mögen sie auch den, weil er auch spie­le­risch an die Sache herangeht. Die haben dann Vertrauen in uns und gemeinsam versuchen wir, das dann zu wuppen.

artechock: Das hört sich fast wie der ideale Lehrer an...

Rosen­müller: Das sind dann auch meine Vorbilder, so wie der, der mir die Angst in Mathe genommen hat. Solche Leute. Lehrer, die das auch so gemacht haben. Und die dennoch gesagt haben: »Freunde, jetzt müssen wir arbeiten, jetzt hör auf mit deinem Schmarrn«. Wo sie dann auch drauf hören, weil es gab ja dann auch Lehrer, wo du nicht mehr hingehört hast. Also so eine Mischung ist es. Witzig halt. Aber ich mache es auch schon wahn­sinnig gerne. Filme mit Kindern zu drehen.

artechock: Es zieht sich ja auch durch Ihr ganzes Werk. Es ist immer auch Entwick­lungs­roman. Es geht immer irgendwo hin und ist nicht statisch. Haben Sie das mal hinter­fragt? Woran das eigent­lich liegt?

Rosen­müller: Da gibt es für mich wahr­schein­lich drei Gründe. Erstmal weil ich das Glück einer tollen Kindheit hatte. Nicht finan­ziell toll, sondern durch Abenteuer und Natur und Freunde. Und das zweite sind die Filme, die mich geprägt haben, so etwas wie Pippi Langs­trumpf. Auch da gab es diese Freiheit, dieses fröhliche, diese positive Weltsicht. Und das dritte ist, dass ich philo­so­phisch und überhaupt Welt­fragen so naiv durch Kinder­augen angehen kann. Dass ich mir auch das Kind in mir bewahren möchte, ich weiß es auch nicht. Es erschreckt mich immer wieder, wenn ich höre, dass ich jetzt schon 45 bin, dass ich irgendwo bald schon, eventuell in wenigen Jahren, ein Erwach­sener bin. Das ist sehr gruselig.

artechock: Gibt es bei Ihnen ein Projekt, einen Film, den Sie schon immer mal reali­sieren wollten, das aber nie geklappt hat?

Rosen­müller: Ich würde wahn­sinnig gerne eine richtig lustige, groß­ar­tige und sehr diffizile Komödie machen. Richtig physisch. Also fast Klamauk, Slapstick, das ist sehr große Kunst. Das kommt immer hoch, wenn ich Charlie Chaplin oder Stan Laurel sehe, und die Marx Brothers. Das ist zwar auch nicht immer perfekt, aber manche Sachen sind so großartig, dass man denkt, ja, so einen Film möchte ich mal drehen. Das Glück, lachen zu können. Kollektiv sich hinsetzen und nicht verlet­zend Lachen zu lassen. Sondern da zu sitzen und raus zu lachen, als Familie, als Gesell­schaft. Das finde ich großartig. Und das, ja das würde ich gerne machen.