25.12.2025
Cinema Moralia – Folge 371

»Wo bleiben die Sensationen?«

The Smashing Machine
Es gibt viele Gründe für einen Flop. Einer kann auch diese Art der Bildinszenierun sein: The Smashing Machine
(Foto: Leonine)

Es hilft nichts, die Filme müssen besser werden: Gefahr, Schönheit und die dritte Schiene der Realität. Das Kino braucht Spektakel und Ekstase, und muss raus aus der wohltemperierten Arthouse-Welt; und 20 sind die neuen 50 – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 371. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Zukunft, heißt es am Schluss, entzieht sich uns und weicht vor uns zurück. Aber morgen werden wir schneller rennen, unsere Arme weiter ausstre­cken. Und den 'Großen Gatsby' noch einmal lesen.« – Claudius Seidl

»If ticket sales for dramas are so bad, why do studios keep trying?« – New York Times

Fast 25 Jahre lang war er bei der FAZ, aber jetzt ist er ja endlich wieder da, wo er mit seiner Münchner Lässig­keit und seinem baye­ri­schen Sound eigent­lich immer hingehört hat, jeden­falls nach meiner Meinung: Seit September schreibt Claudius Seidl wieder für die »Süddeut­sche Zeitung«.
Der letzte Text, den ich von ihm in der FAZ finden kann, stammt schon vom 7.3. und ist der Abdruck seines Nachworts zur Manesse-Ausgabe von »The Great Gatsby«. Es sei keiner von dessen vier Verfil­mungen gelungen, schreibt Seidl, »sich vor den Text zu drängen oder die Wahr­neh­mung des Romans zu bestimmen.«

In seinem ersten Text für die SZ geht es um Kultur­kampf und die dummen Seiten Deutsch­lands. Es ist insgesamt ein trauriger Befund, und ich könnte mir denken, dass da Seidl auch etwas von eigenen Erleb­nissen in einem immer dümmer werdenden Medi­en­be­trieb erzählt, und von der eigenen Enttäu­schung, dass das, was früher, also in den Neun­zi­gern mal »Jour­na­lismus« und »Feuil­leton« und »Film­kritik« war, heute nur noch ein verblasster Mythos ist.
Aber er vergisst nicht, uns, wie im Text über den »Great Gatsby«, daran zu erinnern, in den Spiegel zu schauen: »Kultur­kämpfer sind immer die anderen.« Leider nicht.
Aber zum Spie­gel­blick gehört auch, dass wir den Raum hinter uns sehen: Das, was Medien mal waren; das Verspre­chen, was sie sein könnten, das sich nie ganz erfüllt hat, aber das zur Zeit gerade von der Öffent­lich­keit und auch von vielen Medi­en­ak­teuren – von den Finan­ziers gar nicht erst zu reden – komplett vergessen worden ist.
Es ist vieles anders geworden, seit Claudius Seidl im Jahr 2000 von der SZ weg ging, und wenig zum Besseren. Eine Filmseite gibt es auch nicht mehr. Aber er wird sich seinen Platz schon nehmen, auch für Film, und die SZ darf sich freuen.

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»Mit dem Untergang des Kinos ist es wie mit den meisten guten Sachen, die irgend­wann zu Ende gehen: Der Bruch erfolgt nicht dann, wenn man es am meisten erwartet, sondern erst viel später. Als man gerade erleich­tert aufge­atmet hat, weil man dachte, das Unheil wäre noch einmal an einem vorbei­ge­zogen.«
In einen sehr inter­es­santen, klugen Text resümiert Marie-Luise Goldmann in der »Welt« das Filmjahr 2025 und versucht zu erklären, warum es mit dem Kino womöglich bergab geht, obwohl es doch die Pandemie über­standen hatte.
Aber viele Zuschauer bleiben dauerhaft weg. Warum? Handelt es sich um ein kultu­relles Post-Covid-Syndrom? Nein, folgert Goldmann: »Es lohnt sich einfach nicht. After the Hunt, Die My Love, Fran­ken­stein, Bugonia, Senti­mental Value, Keeper, alle höchstens mittel­mäßig. Ein angeb­li­cher Oscar-Anwärter nach dem anderen sorgt für Frus­tra­tion. Wo bleiben die Sensa­tionen der Saison?«

Die Qualität der Filme tauge einfach nicht.

Man könne dafür jetzt viele Gründe anführen: Vor allem die Spar­maß­nahmen, der Hollywood-Streik und die böse KI. »Dass selbst Block­buster manchmal schon nach 17 Tagen auf Streaming-Platt­formen auftau­chen, statt wie früher erst nach 90 Tagen, schwächt die Kinos genauso wie das breite Angebot an Alter­na­tiv­un­ter­hal­tung«.

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All diese Gründe sind wichtig, aber nicht zurei­chend. Kino braucht das Spektakel, das Ereignis. Kino ist kein gedämpfter Spaß, sondern Ekstase, High und Low. Der wohl­tem­pe­rierte Akade­mismus und das Manu­factum-hafte vieler heutiger Filme, ihre Furcht, irgendwo anzuecken, inter­es­siert statt­dessen nur die Minder­heiten des univer­si­tären Spektrums und das, was vom Bildungs­bür­gertum noch übrig ist. Wirkungs­volle Filme über­schreiten aber Klas­sen­grenzen.
»Um heute im Kino Erfolg zu haben, müssen Dramen und Komödien Ereig­nis­cha­rakter haben«, erklärt Hollywood-Kenner Kevin Goetz in der »New York Times«.
Und in »Variety« wird darauf hinge­wiesen, Hollywood produ­ziere »zu wenig Horror-Filme«, während der Arthouse-Catcher-Film The Smashing Machine floppte.

Ökono­misch sieht es noch schlechter aus: Der Kino­sommer war auch in den USA der am schwächsten Besuchte seit 1981. After the Hunt, Kriti­ker­lieb­ling in Europa, war trotz Julia Roberts eine Kata­strophe: Der Film kostete 70 Millionen Dollar und spielte in den USA und Kanada im ersten Monat zusammen gerade mal 3,3 Millionen ein.
Das Neue seien nicht die Miss­erfolge, schreibt die »New York Times«, sondern ihre Dimension, und die Tatsache, dass es die großen Stars trifft: Margot Robbie, Colin Farrell, Dwayne Johnson, Julia Roberts, Jennifer Lawrence, Jennifer Lopez, Austin Butler, Keanu Reeves, Emma Stone, Russell Crowe…

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Auch »Variety« beklagt das Ausbleiben der »Indie-Hits«:

»Noch vor gar nicht allzu langer Zeit ergab die Reihe der viel disku­tierten, von der Kritik gefei­erten Prestige-Filme, die im Herbst starteten, so etwas wie die Indie-Variante der Block­buster-Saison. Dafür gab es einen guten Grund: Kriti­ker­lieb­linge kamen meist im letzten Teil des Jahres ins Kino – weil sie genau dann besonders erfolg­reich waren.
Dieser Trend verfes­tigte sich in den 1990er-Jahren, als Harvey Weinstein die frühere, über­schau­bare Award-Saison in einen regel­rechten Oscar-Indus­tri­ellen-Komplex verwan­delte (will­kommen im Leben der Schau­spie­le­rinnen, Schau­spieler, Regis­seu­rinnen und Regis­seure, die heute fünf Monate lang auf der ›Road-to-the-Oscars‹-Kampagnen-Karawane unterwegs sein müssen).«

All das gehöre der Vergan­gen­heit an. Heute gebe es eine immer weitere Schere zwischen dem Vorschusslob eines Films innerhalb der Branche, unter Festi­val­gän­gern und Film­kri­ti­kern und der Realität der Aufnahme beim normalen Publikum: Festi­val­lieb­linge wie Tár, Anatomie eines Falls und Anora krebsten im unteren Einnah­me­be­reich. »In der Indiewelt« komen­tierte »Variety« süffisant, »sind 20 Millionen Einnah­me­dollar die neuen 50 Millionen.«

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In diesem Herbst nun wächst der Eindruck, als würde das ganze System ins Wanken geraten. Ein hoch­karä­tiger und äußerlich pres­ti­ge­träch­tiger Film nach dem anderen ist an den Kino­kassen gefloppt, und die Fehl­schläge sind so unter­schied­lich, dass jeder Film meist mit seiner ganz eigenen, aufwendig zuge­schnit­tenen Ausrede daher­kommt.

Nochmal »Variety«:
»After the Hunt? Das Publikum wollte keinen anti-woken akade­mi­schen Thriller sehen, in dem Julia Roberts als nerv­tö­tende Profes­sorin auftritt.
The Smashing Machine? Niemand wollte Dwayne Johnson in einer ernsten Rolle sehen, aussehend wie der rampo­nierte Cousin des Hulk, in einem Film, der sich wie eine insze­nierte Doku­men­ta­tion anfühlte.
Springsteen: Deliver Me from Nowhere? Offenbar hatte auch niemand Lust auf ein Arthouse-Musik­biopic über die Entste­hung des sprö­desten Albums des Boss.«

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Owen Glei­berman, Chef­kri­tiker von »Variety« folgert, all das läge nicht an Streamern und häss­li­chen Kinos und guten Serien, sondern die Filme müssten einfach wieder besser werden:

»Ich glaube, in all dem steckt eine zentrale Botschaft – aber sie hat nichts mit Festivals, Streaming oder irgend­einem der oben genannten Faktoren zu tun. Es geht um die Art von Filmen, die gemacht werden.
In diesem Jahr gab es nur eine kleine Handvoll mutiger und origi­neller Filme, die tatsäch­lich Erfolge waren, und zusam­men­ge­nommen erzählen sie eine Geschichte. Eine Geschichte über das Erzählen von Geschichten. ... In einer Welt schwin­dender Aufmerk­sam­keits­spannen und einer durch Block­buster abge­stumpften Wahr­neh­mung müssen Indie-Filme­ma­cher wieder stärker an das Publikum denken. Nicht auf vorsich­tige, lahme oder anbie­dernde Weise, sondern mutig und aben­teu­er­lich. Sie müssen ernst nehmen, was der Markt ihnen signa­li­siert. Sie müssen wieder anfangen, wie Enter­tainer zu denken.«

Das mag so klingen, als würde ich ein reak­ti­onäres Argument vorbringen oder eine dieser anti-Arthouse-Polemiken liefern. Aber das tue ich nicht. Genau dafür stand Hollywood in seinen besten Zeiten. Dafür stand das New Hollywood der 1970er-Jahre. Dafür stand die Indie-Film-Revo­lu­tion der 1990er, verkör­pert durch Quentin Tarantino.

Es muss Platz geben für kleine, hoch­gradig eigen­sin­nige Filme. Ohne Frage. Aber wenn der Inde­pen­dent-Film sich selbst retten will, muss er sich daran erinnern, dass Filme vor allem eines tun müssen: uns aus uns selbst heraus­heben. Sie müssen nach Gefahr greifen, nach Schönheit, nach der dritten Schiene der Realität, nach einer höheren Form von Liebe. Und sie müssen damit jetzt anfangen.
Der Einsatz ist zu hoch.

Es hilft also nichts: Das Kino braucht ein bisschen mehr Spektakel, Ekstase – und wohl­ver­stan­denen Popu­lismus.