Cinema Moralia – Folge 371
»Wo bleiben die Sensationen?« |
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| Es gibt viele Gründe für einen Flop. Einer kann auch diese Art der Bildinszenierun sein: The Smashing Machine | ||
| (Foto: Leonine) | ||
»Die Zukunft, heißt es am Schluss, entzieht sich uns und weicht vor uns zurück. Aber morgen werden wir schneller rennen, unsere Arme weiter ausstrecken. Und den 'Großen Gatsby' noch einmal lesen.« – Claudius Seidl
»If ticket sales for dramas are so bad, why do studios keep trying?« – New York Times
Fast 25 Jahre lang war er bei der FAZ, aber jetzt ist er ja endlich wieder da, wo er mit seiner Münchner Lässigkeit und seinem bayerischen Sound eigentlich immer hingehört hat, jedenfalls nach meiner Meinung: Seit September schreibt Claudius Seidl wieder für die »Süddeutsche Zeitung«.
Der letzte Text, den ich von ihm in der FAZ finden kann, stammt schon vom 7.3. und ist der Abdruck seines Nachworts zur Manesse-Ausgabe von »The Great Gatsby«. Es sei keiner von dessen vier
Verfilmungen gelungen, schreibt Seidl, »sich vor den Text zu drängen oder die Wahrnehmung des Romans zu bestimmen.«
In seinem ersten Text für die SZ geht es um Kulturkampf und die dummen Seiten Deutschlands. Es ist insgesamt ein trauriger Befund, und ich könnte mir denken, dass da Seidl auch etwas von eigenen Erlebnissen in einem immer dümmer werdenden Medienbetrieb erzählt, und von der eigenen Enttäuschung, dass das, was früher, also in den Neunzigern mal »Journalismus« und »Feuilleton« und »Filmkritik« war, heute nur noch ein verblasster Mythos ist.
Aber er vergisst nicht, uns, wie im
Text über den »Great Gatsby«, daran zu erinnern, in den Spiegel zu schauen: »Kulturkämpfer sind immer die anderen.« Leider nicht.
Aber zum Spiegelblick gehört auch, dass wir den Raum hinter uns sehen: Das, was Medien mal waren; das Versprechen, was sie sein könnten, das sich nie ganz erfüllt hat, aber das zur Zeit gerade von der Öffentlichkeit und auch von vielen Medienakteuren – von den Finanziers gar nicht erst zu reden – komplett vergessen worden ist.
Es ist
vieles anders geworden, seit Claudius Seidl im Jahr 2000 von der SZ weg ging, und wenig zum Besseren. Eine Filmseite gibt es auch nicht mehr. Aber er wird sich seinen Platz schon nehmen, auch für Film, und die SZ darf sich freuen.
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»Mit dem Untergang des Kinos ist es wie mit den meisten guten Sachen, die irgendwann zu Ende gehen: Der Bruch erfolgt nicht dann, wenn man es am meisten erwartet, sondern erst viel später. Als man gerade erleichtert aufgeatmet hat, weil man dachte, das Unheil wäre noch einmal an einem vorbeigezogen.«
In einen sehr interessanten, klugen Text resümiert Marie-Luise Goldmann in der »Welt« das Filmjahr 2025 und versucht zu erklären, warum es mit dem Kino womöglich bergab geht, obwohl es
doch die Pandemie überstanden hatte.
Aber viele Zuschauer bleiben dauerhaft weg. Warum? Handelt es sich um ein kulturelles Post-Covid-Syndrom? Nein, folgert Goldmann: »Es lohnt sich einfach nicht. After the Hunt, Die My Love, Frankenstein, Bugonia, Sentimental Value, Keeper, alle höchstens mittelmäßig. Ein angeblicher Oscar-Anwärter nach dem anderen sorgt für
Frustration. Wo bleiben die Sensationen der Saison?«
Die Qualität der Filme tauge einfach nicht.
Man könne dafür jetzt viele Gründe anführen: Vor allem die Sparmaßnahmen, der Hollywood-Streik und die böse KI. »Dass selbst Blockbuster manchmal schon nach 17 Tagen auf Streaming-Plattformen auftauchen, statt wie früher erst nach 90 Tagen, schwächt die Kinos genauso wie das breite Angebot an Alternativunterhaltung«.
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All diese Gründe sind wichtig, aber nicht zureichend. Kino braucht das Spektakel, das Ereignis. Kino ist kein gedämpfter Spaß, sondern Ekstase, High und Low. Der wohltemperierte Akademismus und das Manufactum-hafte vieler heutiger Filme, ihre Furcht, irgendwo anzuecken, interessiert stattdessen nur die Minderheiten des universitären Spektrums und das, was vom Bildungsbürgertum noch übrig ist. Wirkungsvolle Filme überschreiten aber Klassengrenzen.
»Um heute im Kino Erfolg
zu haben, müssen Dramen und Komödien Ereignischarakter haben«, erklärt Hollywood-Kenner Kevin Goetz in der »New York Times«.
Und in »Variety« wird darauf hingewiesen, Hollywood produziere »zu wenig Horror-Filme«, während der Arthouse-Catcher-Film The Smashing Machine floppte.
Ökonomisch sieht es noch schlechter aus: Der Kinosommer war auch in den USA der am schwächsten Besuchte seit 1981. After the Hunt, Kritikerliebling in Europa, war trotz Julia Roberts eine Katastrophe: Der Film kostete 70 Millionen Dollar und spielte in den USA und Kanada im ersten Monat zusammen gerade mal 3,3 Millionen ein.
Das Neue seien nicht die Misserfolge, schreibt die »New York
Times«, sondern ihre Dimension, und die Tatsache, dass es die großen Stars trifft: Margot Robbie, Colin Farrell, Dwayne Johnson, Julia Roberts, Jennifer Lawrence, Jennifer Lopez, Austin Butler, Keanu Reeves, Emma Stone, Russell Crowe…
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Auch »Variety« beklagt das Ausbleiben der »Indie-Hits«:
»Noch vor gar nicht allzu langer Zeit ergab die Reihe der viel diskutierten, von der Kritik gefeierten Prestige-Filme, die im Herbst starteten, so etwas wie die Indie-Variante der Blockbuster-Saison. Dafür gab es einen guten Grund: Kritikerlieblinge kamen meist im letzten Teil des Jahres ins Kino – weil sie genau dann besonders erfolgreich waren.
Dieser Trend verfestigte sich in den 1990er-Jahren, als Harvey Weinstein die frühere, überschaubare Award-Saison in einen
regelrechten Oscar-Industriellen-Komplex verwandelte (willkommen im Leben der Schauspielerinnen, Schauspieler, Regisseurinnen und Regisseure, die heute fünf Monate lang auf der ›Road-to-the-Oscars‹-Kampagnen-Karawane unterwegs sein müssen).«
All das gehöre der Vergangenheit an. Heute gebe es eine immer weitere Schere zwischen dem Vorschusslob eines Films innerhalb der Branche, unter Festivalgängern und Filmkritikern und der Realität der Aufnahme beim normalen Publikum: Festivallieblinge wie Tár, Anatomie eines Falls und Anora krebsten im unteren Einnahmebereich. »In der Indiewelt« komentierte »Variety« süffisant, »sind 20 Millionen Einnahmedollar die neuen 50 Millionen.«
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In diesem Herbst nun wächst der Eindruck, als würde das ganze System ins Wanken geraten. Ein hochkarätiger und äußerlich prestigeträchtiger Film nach dem anderen ist an den Kinokassen gefloppt, und die Fehlschläge sind so unterschiedlich, dass jeder Film meist mit seiner ganz eigenen, aufwendig zugeschnittenen Ausrede daherkommt.
Nochmal »Variety«:
»After the Hunt? Das Publikum wollte keinen anti-woken akademischen Thriller sehen, in dem Julia Roberts als nervtötende Professorin auftritt.
The Smashing Machine? Niemand wollte Dwayne Johnson in einer ernsten Rolle sehen, aussehend wie der ramponierte Cousin des Hulk, in einem Film, der sich
wie eine inszenierte Dokumentation anfühlte.
Springsteen: Deliver Me from Nowhere? Offenbar hatte auch niemand Lust auf ein Arthouse-Musikbiopic über die Entstehung des sprödesten Albums des Boss.«
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Owen Gleiberman, Chefkritiker von »Variety« folgert, all das läge nicht an Streamern und hässlichen Kinos und guten Serien, sondern die Filme müssten einfach wieder besser werden:
»Ich glaube, in all dem steckt eine zentrale Botschaft – aber sie hat nichts mit Festivals, Streaming oder irgendeinem der oben genannten Faktoren zu tun. Es geht um die Art von Filmen, die gemacht werden.
In diesem Jahr gab es nur eine kleine Handvoll mutiger und origineller Filme, die tatsächlich Erfolge waren, und zusammengenommen erzählen sie eine Geschichte. Eine Geschichte über das Erzählen von Geschichten. ... In einer Welt schwindender Aufmerksamkeitsspannen und
einer durch Blockbuster abgestumpften Wahrnehmung müssen Indie-Filmemacher wieder stärker an das Publikum denken. Nicht auf vorsichtige, lahme oder anbiedernde Weise, sondern mutig und abenteuerlich. Sie müssen ernst nehmen, was der Markt ihnen signalisiert. Sie müssen wieder anfangen, wie Entertainer zu denken.«
Das mag so klingen, als würde ich ein reaktionäres Argument vorbringen oder eine dieser anti-Arthouse-Polemiken liefern. Aber das tue ich nicht. Genau dafür stand Hollywood in seinen besten Zeiten. Dafür stand das New Hollywood der 1970er-Jahre. Dafür stand die Indie-Film-Revolution der 1990er, verkörpert durch Quentin Tarantino.
Es muss Platz geben für kleine, hochgradig eigensinnige Filme. Ohne Frage. Aber wenn der Independent-Film sich selbst retten will, muss er sich daran erinnern, dass Filme vor allem eines tun müssen: uns aus uns selbst herausheben. Sie müssen nach Gefahr greifen, nach Schönheit, nach der dritten Schiene der Realität, nach einer höheren Form von Liebe. Und sie müssen damit jetzt anfangen.
Der Einsatz ist zu hoch.
Es hilft also nichts: Das Kino braucht ein bisschen mehr Spektakel, Ekstase – und wohlverstandenen Populismus.