11.09.2025

In einer Zeit, in der man noch nicht gelebt hat

Projektorenrausch
Bildrausch der Projektoren
(Foto: Benedikt Guntentaler)

Milena Gierke und die Subjektivität auf dem 5. exf f. – Tage des experimentellen Films Frankfurt

Von Benedikt Guntentaler

Unter den 61 Filmen, die auf dem dies­jäh­rigen »exf f. – tage des expe­ri­men­tellen films frankfurt« gezeigt wurden, stach ein Programm ob seiner extra­va­ganten Struktur besonders hervor: »Frank­furter Formen: Milena Gierkes New York Filme«.

Weniger eine gewöhn­liche Vorfüh­rung als eine Live-Perfor­mance stellt dieses zwei­ge­teilte Programm dar, das über sich hinaus auf eines der großen Themen des Festivals verweist: Der subjek­tive Blick, die touris­ti­sche Kamera, die ihre Darstel­lungs­ob­jekte völlig für sich verein­nahmt, das objektiv Doku­men­ta­ri­sche aufbricht für einen singulären, persön­li­chen Zugang zur Welt.

New York Film Diary

Im ersten, bestim­menden Teil dieses Programms wurde Gierkes Film-Tagebuch »New York Film Diary Sep. 3, 1994 – Oct. 3 1995« gezeigt. 96 Minuten, die ein ganzes Jahr umspannen, zeigen eine junge Künst­lerin, die New York entdeckt, sich selbst eman­zi­piert, ihren Körper genauso erkundet wie diese fremde Stadt – alles mit der Kamera, alles durch einen nicht repro­du­zier­baren, einma­ligen Blick. Gedreht wurde auf Super 8, geschnitten wurde der Film in der Kamera. Es gibt also keine nach­träg­liche Montage, die Länge und Abfolge der Aufnahmen wird noch während dem Filmen fest­ge­legt, der Film selbst muss erst im Kopf entstehen, dann über­tragen werden, fest­ge­halten, verwirk­licht. Keinen Ton gibt es, nur die analogen Bilder, die singulären Eindrücke einer Zeit, einer Stadt, die es so nicht mehr gibt.

An diese perfor­ma­tive Subjek­ti­vität knüpft das Konzept der Vorfüh­rung des Films an: Ursprüng­lich zeigte Gierke ihre Filme stets selbst, legte die Rollen (vier Stück sind es, es gibt also unre­gel­mäßige Pausen im Film, Unter­bre­chungen) eigens in den Projektor, war ausfüh­rende Künst­lerin im Sinne des Schauens, Filmens, Zeigens.

Diesmal ist es anders: Gierke ist erneut anwesend, gibt eine kurze Einfüh­rung, überlässt die Projek­tion aber einem jungen Mann aus dem Team. Sie sei sick, krank, selbst kann sie nicht mehr vorführen. Es ist tragisch, natürlich, doch gewis­ser­maßen verstärkt diese Bege­ben­heit die Wirkung des Films, der Perfor­mance. Gut gelaunt, ein wenig zurück­ge­nommen, aber zwei­fellos glücklich über die Vorstel­lung steht und sitzt Gierke neben dem Projektor, gibt während den Rollen­wech­seln kurze Hinweise, lobt den Vorführer, erklärt die Schwie­rig­keiten einer Super-8-Projek­tion.

Ein eigen­tüm­li­ches Gefühl entsteht, eine Liveness, die den Film beständig trans­for­miert, heraus­löst aus seinen ursprüng­li­chen Betrach­tungen, diese zwar konser­viert, aber doch immer neu denkt, untrennbar mit unserer Gegenwart verknüpft. Was wir sehen, ist gewis­ser­maßen eine »Zeit­kapsel«, das Erfor­schen einer Stadt, das Sich-Erkennen in dieser Stadt, durch diese Stadt, durch das Filmen dieser Stadt. Bewusst unsicher wirkt dieser Film, mal gibt es Spie­le­reien (eine schnell aufein­ander folgende Montage von Wasser­tanks, Aquarien, die minu­ten­lang gefilmt werden), immer wieder schleicht sich aber Gierkes Privat­leben in den Film, so unmit­telbar, dass jede Symbolik verschwindet. Szenen mit ihrem (man muss mutmaßen) Liebes­partner, Wochen­end­aus­flüge, Essen mit Freunden. Und, noch direkter: Die umge­drehte Kamera, die von New York wegführt, hin zu Gierke selbst, die ihr Gesicht filmt, mal glücklich, mal als hätte sie Sekunden davor geweint. Oft schwebt der Blick über ihren Körper, dann, wenn sie nackt im Bett liegt. Nie ausge­stellt wirken diese Momente, selten kommt ihnen ein drama­tur­gi­scher Nutzen zu. Sie reflek­tieren rein auf sich selbst, sind ein schüch­ternes, vorsich­tiges Befragen des eigenen Körpers, des eigenen Zustands zu einem präzise fest­ge­hal­tenen Augen­blick.

So rauscht dieser wunder­volle Film förmlich durch, nur wenige Sequenzen scheinen wirklich zusam­men­zu­gehören, eine defi­ni­tive Stimmung zu entfalten. Der Rest ist ein unauf­hör­li­ches Expe­ri­ment, eine skiz­zen­hafte Reflexion über diesen Abschnitt im Leben.

Mit Gierke im Raum wieder­holt sich die damalige Unsi­cher­heit, führt weg von der Künst­lerin hin zum Publikum. Eine Verket­tung verschie­dener Momente der Zeit­lich­keit entsteht: Zunächst natürlich der Film, 1994 in NYC, dann Milena Gierke selbst, die zurück­blickt, gleich­zeitig völlig in der Gegenwart steht, den Film schließ­lich präsen­tiert. Dann der Vorführer, ein Stell­ver­treter, der immer wieder (man hört es ganz deutlich) auf den Projektor sprayt, die Rollen wechselt, die selbst natürlich eine eigene Zeit­lich­keit besitzen, zufällige Abnut­zungen aufweisen, die ganzen Jahre selbst erlebt haben. Und dann natürlich – wie immer, bei jeder Vorstel­lung – das Publikum, das seine eigene Historie, die eigenen Erleb­nisse auf den Film proji­ziert, ihn über­la­gert mit der eigenen Geschichte.

Durchaus melan­cho­lisch drückt sich dieses Zusam­men­spiel aus, seltsam gliedert es das eigene Leben. Die Augen­blick­lich­keit und eben Subjek­ti­vität dieses wirklich persön­li­chen Films rückt immer mehr in den Hinter­grund, wird Schablone für eigene Refle­xionen.

Hat sich Gierke vor 30 Jahren mit diesem Film noch selbst befragt, besitzt er nun längst ein Eigen­leben, hat sich gewis­ser­maßen gelöst von der unbe­dingten Beziehung zu seiner Regis­seurin. Und doch muss sie da sein, im Raum, um diese Trennung zu vers­tärken, um »New York Film Diary Sep. 3, 1994 – Oct. 3 1995« zu anti­quieren und zu erneuern. Mit jeder Vorstel­lung wird er anders wirken, wird der Zugang ein neuer sein, jedes mal performt er sich selbst, performt Gierke ihn durch ihre bloße Präsenz, verändert sich die anfangs so undurch­dringbar wirkende Subjek­ti­vität, wird zu eigenen Erin­ne­rungen, eigenen Unsi­cher­heiten, die natürlich nie an jene Gierkes heran­rei­chen. Der eigene Traum wird ein anderer, das eigene New York ein fremdes, trans­for­miert lediglich, weil sich eine Kamera vor das Auge geschoben hat, Gedanken und Blicke festhält, die sich nicht wieder­holen lassen, die immer neu wirken, trotz des Alters, trotz des anderen Vorfüh­rers. Das Persön­liche weicht einem kollek­tiven Raum des Denkens, und doch ist jeder darin allein, sieht etwas anderes, sieht nicht einmal das, was diese Kamera vor Jahren festhielt. Was für eine schöne Vorstel­lung, das eigene Leben wieder­holen zu können, in stummen Bildern, die man selbst noch nie gesehen hat, aufge­nommen in einer Stadt, in der man noch nie war, gedreht in einer Zeit, in der man noch nicht gelebt hat.