08.09.2025
82. Filmfestspiele von Venedig 2025

Das Weltkino in der babylonischen Gefangenschaft

Father Mother Sister Brother
Hoch die Tassen! Jarmusch gewinnt den Goldenen Löwen
(Foto: La Biennale di Venezia · Jim Jarmusch)

Kino von gestern statt Kinozukunft: Wandelt sich das älteste Filmfestival der Welt in ein Altherrenereignis? Eine Bilanz der diesjährigen Mostra – Notizen aus Venedig, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wer mit Unge­heuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« – Friedrich Nietzsche

Welches Monster wird gewinnen? Putin, Fran­ken­stein, eine heilige Jungfrau oder ein arabi­sches Unschulds­lamm? Das schienen die einzigen Fragen zu sein vor der Preis­ver­lei­hung in Venedig am Sams­tag­abend.
Danach, gegen halb neun Uhr abends war klar: Die Monster haben verloren, und beim ältesten Film­fes­tival der Welt gewinnt einer der ältesten Regis­seure. Mit Father Mother Sister Brother gewinnt der 72-Jährige US-ameri­ka­ni­sche Altmeister des Inde­pen­dent-Films Jim Jarmusch den Goldenen Löwen von Venedig und damit seinen aller­ersten Haupt­preis bei einem der drei großen A-Festivals.
Ein stiller, loser Episo­den­film, der die schwie­rigen span­nungs­ge­la­denen Bezie­hungen zwischen erwach­senen Kindern und ihren Eltern zum Thema hat, siegt damit über politisch brisante Werke.

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Es war eine Enttäu­schung. Jarmusch’ Sieg sei ihm persön­lich gegönnt, aber eine solche Auszeich­nung hätte er vor 30 Jahren bekommen müssen. Jetzt bringt sie dem Mann nicht mehr viel, und ist im Konkreten unver­dient, denn nicht nur gab es viele bessere Filme im Wett­be­werb, auch Jarmusch hat schon viel bessere Filme gemacht. Sowohl beim Publikum wie bei den profes­sio­nellen Film­kri­ti­kern und Einkäu­fern war der Film besten­falls als durch­schnitt­lich bewertet worden.
»Einfach ein weiterer Jarmusch-Film«, kommen­tierte gestern auch »Die Zeit« und klagte: »Die verwe­genen Filme seiner US-Kollegen gingen leer aus.«

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»Oh, Shit«, kommen­tierte Jarmusch selbst hörbar den Moment der Preis­ver­kün­dung, bedankte sich. »As film­ma­kers we’re not motivated by compe­ti­tion, but this is something I truly appre­ciate.« Er erwähnte seine Liebe zu Venedig, »the city of Casanova, Vivaldi and Terence Hill« und betonte, dass Kunst Politik nicht direkt anspre­chen müsse, um politisch zu sein: »Art does not have to address politics directly to be political. It can engender empathy which is the first step toward solving our problems.«

Viel­leicht war das auch ein bisschen auf The Voice of Hint Rajab der Tune­sierin Kaouther Ben Hania gemünzt, den einzigen prämierten Film, den man als »politisch« bezeichnen könnte, und der in jeder Hinsicht das Gegenteil des Kinos reprä­sen­tiert, für das Jarmusch steht.

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Weil alle stilis­tisch heraus­ra­genden Favoriten leer ausgingen, und bis auf die tune­si­sche Palästina-Doku auch die vielen poli­ti­schen Filme des Festival fast völlig unberück­sich­tigt blieben, liegt der Verdacht sehr nahe, dass es sich hier um den faulen Kompro­miss einer Jury handelt, die sich nicht auf gemein­same Posi­tionen einigen konnte, und dass sich die Jury zudem politisch zerstritt. Am Sams­tag­vor­mittag hatten Gerüchte die Runde gemacht, der Jury stehe – so wörtlich – die »Kern­schmelze« bevor. Offenbar hatte die brasi­lia­ni­sche Schau­spie­lerin ihren Austritt aus der Jury gedroht, sollte The Voice of Hint Rajab nicht den Haupt­preis bekommen, und ein anderes Jury­mit­glied wiederum gedroht, genau in diesem Fall die Jury zu sprengen.
Auch wenn Jury­prä­si­dent Alexander Payne am Abend solchen Gerüchten wider­sprach, erscheinen sie wie ihre Quellen sehr glaub­würdig.

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Tatsäch­lich ist die tune­si­sche Doku, die paläs­ti­nen­si­sche Medien unver­züg­lich für sich verein­nahmten, zu weiten Teilen für schrilles, tränen­drü­siges Über­wäl­ti­gungs­kino, von arabi­scher poli­ti­scher Propa­ganda dominiert.
Das Massaker der Hamas und anderer Terro­risten in Israel am 7. Oktober 2023, als Auslöser der israe­li­schen Vertei­di­gungs­maß­nahmen gegen die Terror-Angriffe aus Gaza, spielt im Film keine Rolle. Zentrales Element ist ein nach Angaben der Regis­seurin echter Audio­mit­schnitt: Während das Mädchen im bereits beschos­senen Wagen zwischen getöteten Fami­li­en­mit­glie­dern festsaß, tele­fo­nierte es rund drei Stunden lang immer wieder mit Frei­wil­ligen des Paläs­ti­nen­si­schen Roten Halbmonds und flehte um Hilfe, bevor es mögli­cher­weise von israe­li­schen Streit­kräften getötet wurde. Das Werk, das den Kontext nicht thema­ti­siert, war der umstrit­tenste Film im Wett­be­werb. Manche sprachen nach dem Film von Kalkül und emotio­naler Geisel­nahme.

Stilis­tisch ist das alles jeden­falls ein Machwerk auf dem Niveau einer TV-Reportage und voller perfide verbrämtem Anti­se­mi­tismus, das von Brad Pitt und Joaquim Phoenix mitpro­du­ziert wurde und in seiner Kombi­na­tion aus selek­tiver Empörung, unpo­li­ti­scher Gefühls­du­selei und Mora­lismus mehr über die geistige Lage der Cham­pa­gner-Linken in Hollywood verrät als über den Nahost­kon­flikt.

So blieb am Ende offenbar nur der kleinste gemein­same Nenner der Jury übrig.

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Zur Eröff­nungs­ver­an­stal­tung hatte Jury­prä­si­dent Alexander Payne noch gesagt, die Existenz des Kinos sei ein Wunder. Er werde mit den Augen eines Profes­sio­nellen auf die Filme schauen, aber auch mit den Augen eines Kindes. Davon war am Samstag nichts übrig als Erschöp­fung.

Das Weltkino ist durch die Ereig­nisse im Nahen Osten in eine Art baby­lo­ni­sche Gefan­gen­schaft genommen: Bekennt­nisse werden verlangt, aber nur akzep­tiert, wenn sie den Ansichten einer so kleinen wie laut­starken Minder­heit der Filmszene gefallen.

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Film­preise bedeuten Sicht­bar­keit. Darum sind sie wichtig. Sie heben Filme heraus aus der Masse des Einerlei tausender neuer Filme pro Jahr. Und darum ist es nicht ganz egal, wer bei einem der wich­tigsten Film­fes­ti­vals der Welt die Preise bekommt.

Dass jetzt so bedeu­tende Filme­ma­cher wie Kathryn Bigelow, Yorgos Lanthimos, Park Chan-wook, Olivier Assayas, Paolo Sorren­tino, aber auch heraus­ra­gende Newcomer wie Mona Fastvold und überhaupt junge Regis­seu­rinnen und avant­gar­dis­ti­sche Stile bei der Preis­ver­lei­hung beim dies­jäh­rigen Film­fes­tival von Venedig noch nicht einmal mit Neben­preisen abge­speist wurden, sondern komplett leer ausgingen, wirft kein gutes Licht auf die Mostra di Cinema und ihre Zukunft.

Zwar ist das älteste Film­fes­tival der Welt noch kein Alther­ren­er­eignis – denn es liefen ja viele gute Filme. Aber wie in den Vorjahren finden sie in den Jurys immer weniger eine Mehrheit. Denn diese sind von Alberto Barbera auf das Mostra-Allein­stel­lungs­merkmal »Oscar-Chance« hin kuratiert, also US-lastig und altmo­disch.

In den letzten neun Festi­val­jahren gewann vier Mal ein US-Ameri­kaner, weitere vier Mal ein von Hollywood bzw. US-Streaming-Diensten produ­zierter Film, darunter dreimal ein englisch­spra­chiger. Lediglich eine große Ausnahme gibt es: Audrey Diwans L’événement im Pande­mie­jahr 2021.

Nach dem Goldenen Löwen für den 75-jährigen Pedro Almodóvar (und seinen ersten englisch­spra­chigen in den USA produ­zierten Film) im Vorjahr und Jarmusch jetzt muss man am Lido aufpassen, dass nicht immer nur dieje­nigen Altmeister hier gewinnen, die wie Almodóvar 2024 und Jarmusch in diesem Jahr (im letzten Moment) bei den Film­fest­spielen in Cannes abgelehnt wurden. Auch in Venedig sollte wieder die Zukunft des Kinos statt­finden.

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»Sei vorsichtig, wenn du deine Dämonen austreibst, dass du nicht das Beste von dir selbst wegwirfst.«
– Friedrich Nietzsche

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Viel­leicht gerade, weil es bis in die Neben­reihen ein Festival des Poli­ti­schen gewesen ist, war die dies­jäh­rige Venedig-Ausgabe auch ein Film­fes­tival der Monster – manchmal im ganz konkreten Sinn (Fran­ken­stein), manchmal eher im über­tra­genen oder symbo­li­schen, manchmal in seinen Doku­men­tar­filmen – Filme über den US-ameri­ka­ni­schen Inves­ti­ga­tiv­jour­na­listen Seymour Hersh (Cover-Up von Laura Poitras), über indigene Landnahme in Argen­ti­nien (Nuestra Tierra von Lucrecia Martel), und über fiktio­nale Zugänge zur Shoa (Holo­fic­tion) von Michael Kosa­kowski konzen­trierten sich natur­gemäß auf die Abgründe der Gegenwart.

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Es war so traurig wie erwartbar, dass die besten drei Filme des Wett­be­werbs nichts gewannen. Sie schieden aus unter­schied­li­chen Gründen aus: Olivier Assayas’ faszi­nie­rend-schlüs­siges Portrait eines Putin­flüs­te­rers und des »neuen Russland« provo­ziert europäi­sche und nord­ame­ri­ka­ni­sche Gemüter zu sehr in seiner mora­lis­mus­kri­ti­schen Ironi­sie­rung west­li­cher Selbst­ge­rech­tig­keit und in seinem tref­fenden Bild der Doppel­moral des außen­po­li­ti­schen Idea­lismus in Gestalt des Inter­na­tio­nalen Straf­ge­richtshof, des Nato-Völker­rechts und kalter US-Inter­es­sens­po­litik.

Nicht weniger unwahr­schein­lich war von Anfang an ein Preis für Kathryn Bigelows ideo­lo­gisch auf der anderen Seite der Fahnen­stange ange­sie­deltem Atom­kriegs-Thriller A House of Dynamite.
Der Film ist bei aller Perfek­tion zu US-zentriert in seiner Sicht­weise und in einem gewissen Sinn stilis­tisch zu gut, zu sehr erfüllt von der Ästhe­ti­sie­rung des Mili­tärisch-Poli­ti­schen-Komplexes in Washington und der Behaup­tung letzt­end­li­cher Mensch­lich­keit der Akteure – so perfekt Bigelows Film ist, so wenig traut sie sich, wenigs­tens einen hand­festen Zyniker und dämo­ni­schen Apoka­lyp­tiker zu zeigen. Kein harter amora­li­scher Vertei­diger des Leviathan, des Rechts des Stärkeren und des Tötens von Menschen einfach, weil sie Feinde sind, oder gar der apoka­lyp­ti­schen Vernich­tung des Anderen im univer­salen Höllen­feuer trüben das Bild skru­pulöser Hand­werker der Macht. Statt­dessen sind alle Prot­ago­nisten und Figuren ihres Films werte­ge­leitet und verant­wor­tungs­voll in ihrem Handeln. Und bestä­tigen damit noch einmal den längst zerplatzten ameri­ka­ni­schen Traum, obwohl dessen verfaulter Kadaver bereits zum Himmel stinkt.

Und Mona Fastvolds The Testament of Ann Lee, der im Vorfeld noch der chan­cen­reichste der drei besten Filme des Wett­be­werbs zu sein schien, war zu versponnen, zu unein­deutig und viel­leicht auch zu »weiblich«, um in dieser Jury aus Filme­ma­chern des altmo­di­schen Realismus Unter­s­tüt­zung zu finden.