82. Filmfestspiele von Venedig 2025
Das Weltkino in der babylonischen Gefangenschaft |
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Hoch die Tassen! Jarmusch gewinnt den Goldenen Löwen | ||
(Foto: La Biennale di Venezia · Jim Jarmusch) |
»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« – Friedrich Nietzsche
Welches Monster wird gewinnen? Putin, Frankenstein, eine heilige Jungfrau oder ein arabisches Unschuldslamm? Das schienen die einzigen Fragen zu sein vor der Preisverleihung in Venedig am Samstagabend.
Danach, gegen halb neun Uhr abends war klar: Die Monster haben verloren, und beim ältesten Filmfestival der Welt gewinnt einer der ältesten Regisseure. Mit Father Mother Sister Brother gewinnt der 72-Jährige US-amerikanische Altmeister des
Independent-Films Jim Jarmusch den Goldenen Löwen von Venedig und damit seinen allerersten Hauptpreis bei einem der drei großen A-Festivals.
Ein stiller, loser Episodenfilm, der die schwierigen spannungsgeladenen Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern zum Thema hat, siegt damit über politisch brisante Werke.
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Es war eine Enttäuschung. Jarmusch’ Sieg sei ihm persönlich gegönnt, aber eine solche Auszeichnung hätte er vor 30 Jahren bekommen müssen. Jetzt bringt sie dem Mann nicht mehr viel, und ist im Konkreten unverdient, denn nicht nur gab es viele bessere Filme im Wettbewerb, auch Jarmusch hat schon viel bessere Filme gemacht. Sowohl beim Publikum wie bei den professionellen Filmkritikern und Einkäufern war der Film bestenfalls als durchschnittlich bewertet
worden.
»Einfach ein weiterer Jarmusch-Film«, kommentierte gestern auch »Die Zeit« und klagte: »Die verwegenen Filme seiner US-Kollegen gingen leer aus.«
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»Oh, Shit«, kommentierte Jarmusch selbst hörbar den Moment der Preisverkündung, bedankte sich. »As filmmakers we’re not motivated by competition, but this is something I truly appreciate.« Er erwähnte seine Liebe zu Venedig, »the city of Casanova, Vivaldi and Terence Hill« und betonte, dass Kunst Politik nicht direkt ansprechen müsse, um politisch zu sein: »Art does not have to address politics directly to be political. It can engender empathy which is the first step toward solving our problems.«
Vielleicht war das auch ein bisschen auf The Voice of Hint Rajab der Tunesierin Kaouther Ben Hania gemünzt, den einzigen prämierten Film, den man als »politisch« bezeichnen könnte, und der in jeder Hinsicht das Gegenteil des Kinos repräsentiert, für das Jarmusch steht.
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Weil alle stilistisch herausragenden Favoriten leer ausgingen, und bis auf die tunesische Palästina-Doku auch die vielen politischen Filme des Festival fast völlig unberücksichtigt blieben, liegt der Verdacht sehr nahe, dass es sich hier um den faulen Kompromiss einer Jury handelt, die sich nicht auf gemeinsame Positionen einigen konnte, und dass sich die Jury zudem politisch zerstritt. Am Samstagvormittag hatten Gerüchte die Runde gemacht, der Jury stehe – so wörtlich
– die »Kernschmelze« bevor. Offenbar hatte die brasilianische Schauspielerin ihren Austritt aus der Jury gedroht, sollte The Voice of Hint Rajab nicht den Hauptpreis bekommen, und ein anderes Jurymitglied wiederum gedroht, genau in diesem Fall die Jury zu sprengen.
Auch wenn Jurypräsident Alexander Payne am Abend solchen Gerüchten widersprach, erscheinen sie wie ihre Quellen sehr glaubwürdig.
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Tatsächlich ist die tunesische Doku, die palästinensische Medien unverzüglich für sich vereinnahmten, zu weiten Teilen für schrilles, tränendrüsiges Überwältigungskino, von arabischer politischer Propaganda dominiert.
Das Massaker der Hamas und anderer Terroristen in Israel am 7. Oktober 2023, als Auslöser der israelischen Verteidigungsmaßnahmen gegen die Terror-Angriffe aus Gaza, spielt im Film keine Rolle. Zentrales Element ist ein nach Angaben der
Regisseurin echter Audiomitschnitt: Während das Mädchen im bereits beschossenen Wagen zwischen getöteten Familienmitgliedern festsaß, telefonierte es rund drei Stunden lang immer wieder mit Freiwilligen des Palästinensischen Roten Halbmonds und flehte um Hilfe, bevor es möglicherweise von israelischen Streitkräften getötet wurde. Das Werk, das den Kontext nicht thematisiert, war der umstrittenste Film im Wettbewerb. Manche sprachen nach dem Film von Kalkül und
emotionaler Geiselnahme.
Stilistisch ist das alles jedenfalls ein Machwerk auf dem Niveau einer TV-Reportage und voller perfide verbrämtem Antisemitismus, das von Brad Pitt und Joaquim Phoenix mitproduziert wurde und in seiner Kombination aus selektiver Empörung, unpolitischer Gefühlsduselei und Moralismus mehr über die geistige Lage der Champagner-Linken in Hollywood verrät als über den Nahostkonflikt.
So blieb am Ende offenbar nur der kleinste gemeinsame Nenner der Jury übrig.
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Zur Eröffnungsveranstaltung hatte Jurypräsident Alexander Payne noch gesagt, die Existenz des Kinos sei ein Wunder. Er werde mit den Augen eines Professionellen auf die Filme schauen, aber auch mit den Augen eines Kindes. Davon war am Samstag nichts übrig als Erschöpfung.
Das Weltkino ist durch die Ereignisse im Nahen Osten in eine Art babylonische Gefangenschaft genommen: Bekenntnisse werden verlangt, aber nur akzeptiert, wenn sie den Ansichten einer so kleinen wie lautstarken Minderheit der Filmszene gefallen.
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Filmpreise bedeuten Sichtbarkeit. Darum sind sie wichtig. Sie heben Filme heraus aus der Masse des Einerlei tausender neuer Filme pro Jahr. Und darum ist es nicht ganz egal, wer bei einem der wichtigsten Filmfestivals der Welt die Preise bekommt.
Dass jetzt so bedeutende Filmemacher wie Kathryn Bigelow, Yorgos Lanthimos, Park Chan-wook, Olivier Assayas, Paolo Sorrentino, aber auch herausragende Newcomer wie Mona Fastvold und überhaupt junge Regisseurinnen und avantgardistische Stile bei der Preisverleihung beim diesjährigen Filmfestival von Venedig noch nicht einmal mit Nebenpreisen abgespeist wurden, sondern komplett leer ausgingen, wirft kein gutes Licht auf die Mostra di Cinema und ihre Zukunft.
Zwar ist das älteste Filmfestival der Welt noch kein Altherrenereignis – denn es liefen ja viele gute Filme. Aber wie in den Vorjahren finden sie in den Jurys immer weniger eine Mehrheit. Denn diese sind von Alberto Barbera auf das Mostra-Alleinstellungsmerkmal »Oscar-Chance« hin kuratiert, also US-lastig und altmodisch.
In den letzten neun Festivaljahren gewann vier Mal ein US-Amerikaner, weitere vier Mal ein von Hollywood bzw. US-Streaming-Diensten produzierter Film, darunter dreimal ein englischsprachiger. Lediglich eine große Ausnahme gibt es: Audrey Diwans L’événement im Pandemiejahr 2021.
Nach dem Goldenen Löwen für den 75-jährigen Pedro Almodóvar (und seinen ersten englischsprachigen in den USA produzierten Film) im Vorjahr und Jarmusch jetzt muss man am Lido aufpassen, dass nicht immer nur diejenigen Altmeister hier gewinnen, die wie Almodóvar 2024 und Jarmusch in diesem Jahr (im letzten Moment) bei den Filmfestspielen in Cannes abgelehnt wurden. Auch in Venedig sollte wieder die Zukunft des Kinos stattfinden.
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»Sei vorsichtig, wenn du deine Dämonen austreibst, dass du nicht das Beste von dir selbst wegwirfst.«
– Friedrich Nietzsche
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Vielleicht gerade, weil es bis in die Nebenreihen ein Festival des Politischen gewesen ist, war die diesjährige Venedig-Ausgabe auch ein Filmfestival der Monster – manchmal im ganz konkreten Sinn (Frankenstein), manchmal eher im übertragenen oder symbolischen, manchmal in seinen Dokumentarfilmen – Filme über den US-amerikanischen Investigativjournalisten Seymour Hersh (Cover-Up von Laura Poitras), über indigene Landnahme in Argentinien (Nuestra Tierra von Lucrecia Martel), und über fiktionale Zugänge zur Shoa (Holofiction) von Michael Kosakowski konzentrierten sich naturgemäß auf die Abgründe der Gegenwart.
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Es war so traurig wie erwartbar, dass die besten drei Filme des Wettbewerbs nichts gewannen. Sie schieden aus unterschiedlichen Gründen aus: Olivier Assayas’ faszinierend-schlüssiges Portrait eines Putinflüsterers und des »neuen Russland« provoziert europäische und nordamerikanische Gemüter zu sehr in seiner moralismuskritischen Ironisierung westlicher Selbstgerechtigkeit und in seinem treffenden Bild der Doppelmoral des außenpolitischen Idealismus in Gestalt des Internationalen Strafgerichtshof, des Nato-Völkerrechts und kalter US-Interessenspolitik.
Nicht weniger unwahrscheinlich war von Anfang an ein Preis für Kathryn Bigelows ideologisch auf der anderen Seite der Fahnenstange angesiedeltem Atomkriegs-Thriller A House of Dynamite.
Der Film ist bei aller Perfektion zu US-zentriert in seiner Sichtweise und in einem gewissen Sinn stilistisch zu gut, zu sehr erfüllt von der Ästhetisierung des Militärisch-Politischen-Komplexes in Washington und der Behauptung
letztendlicher Menschlichkeit der Akteure – so perfekt Bigelows Film ist, so wenig traut sie sich, wenigstens einen handfesten Zyniker und dämonischen Apokalyptiker zu zeigen. Kein harter amoralischer Verteidiger des Leviathan, des Rechts des Stärkeren und des Tötens von Menschen einfach, weil sie Feinde sind, oder gar der apokalyptischen Vernichtung des Anderen im universalen Höllenfeuer trüben das Bild skrupulöser Handwerker der Macht. Stattdessen sind alle
Protagonisten und Figuren ihres Films wertegeleitet und verantwortungsvoll in ihrem Handeln. Und bestätigen damit noch einmal den längst zerplatzten amerikanischen Traum, obwohl dessen verfaulter Kadaver bereits zum Himmel stinkt.
Und Mona Fastvolds The Testament of Ann Lee, der im Vorfeld noch der chancenreichste der drei besten Filme des Wettbewerbs zu sein schien, war zu versponnen, zu uneindeutig und vielleicht auch zu »weiblich«, um in dieser Jury aus Filmemachern des altmodischen Realismus Unterstützung zu finden.