Ehrenrettung für Doktor Frankenstein |
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Frankenstein und sein Monster – gesehen von Guillermo del Toro | ||
(Foto: La Biennale di Venezia · Guillermo del Toro) |
»Wolves are no beasts. They are the guardians of the forrest.«
– Dialog aus: »Le Mage du Kremlin«
Das Festival ist ein hungriger Drache. Er schleicht um uns herum, belauert uns, und fordert regelmäßig Tribute. Wer noch schlafen, essen, und Freude sehen will, gar Lohnarbeit verrichten muss, der kann, jedenfalls bis zum Ende dieses Wochenendes, nicht wirklich nachdenken und Eindrücke »sacken lassen«, muss darum hinschreiben, was als erstes in den Sinn kommt, muss der eigenen Intuition vertrauen.
Es sind darum weiterhin nur erste provisorische Eindrücke, die wir hier
festhalten, lose, stichwortartig, ein Tagebuch. Sagt nicht, wir hätten Euch nicht gewarnt! Und ausdrücklich möchte ich jeden Anspruch auf Vollständigkeit zurückweisen – trotzdem ist vor dem Wochenbeginn, wenn alles hier entspannter wird, einiges mitzuteilen. Dazu gehört unter anderem die Tatsache, dass es bisher zwei bis drei Leitmotive gibt, Väter-Eltern-Kind-Beziehungen zuerst, dysfunktionale Familien, und die Rückkehr der Monster.
Zweitens die Tatsache, dass die
Qualität des Wettbewerbs bis zum Wochenende medioker war, es zwar keine völligen Reinfälle gibt, aber auch wenig Herausstechendes.
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Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster (»El sueño de la razón produce monstruos«) – dieses berühmte Bild des Spaniers Francisco Goya kann auch den ersten Tagen der Filmfestspiele von Venedig den Titel geben: Denn in Zeiten von Krieg, Katastrophen und jener universalen Unsicherheit, die derzeit vor allem die Demokratien des Westens, doch nicht nur sie, durchzieht, reflektieren die Filme diesen Zustand – und bringen die Monster auf die Einwände des anspruchsvollen Kinos zurück.
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Am Sonntagabend war es vor allem Jude Law als Wladimir Putin, der das Publikum am Lido mit dem Portrait eines realen vermeintlichen Monsters in Bann zog: Sein neuer Film ist ein herausragend inszenierter Parforceritt durch die russische Geschichte, ein genialer Kino-Coup. Denn Olivier Assayas' Le Mage du Kremlin (The Wizard of the Kremlin) erzählt gleichzeitig vom Russland der letzten 35 Jahre, wie von unser Gegenwart, und davon, wie diese wurde, was sie heute ist.
Basierend auf dem gleichnamigen, offenbar ziemlich interessanten Roman des italienischen Schriftstellers und zeitweiligen Politkberaters Giuliano da Empoli (deutsch bei Beck: »Der Magier im Kreml«) und damit lose auch auf der realen Biographie des 1964 geborenen Wladislaw Surkow, des ehemaligen Chefideologen des Kreml, zudem mit Drehbuchbeteiligung von Emmanuel Carrère – des Autors jenes atemberaubenden »Limonow«-Romans, der 2024 vom Exilrussen Kiril Serebrennikov verfilmt wurde – bietet der Film eine schlüssige Innenansicht der russischen Macht und Politszene ohne einfache Erklärungen, ohne Küchenpsychologie und vor allem ohne jene billige Polemik der bekannten »Russlandexperten« unserer Medien, die oft mehr Meinungs- und Parteipolitik spiegeln als Forschungsergebnisse. Assayas – der Regisseur von (u.a.) Carlos und Die Wolken von Sils Maria – zeigt stattdessen lieber Ereignisse und die Medien- und PR-Diskurse um sie herum. Vor allem aber zeigt der Franzose, was Putins Aufstieg alles möglicherweise über uns selbst verrät.
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Jude Law spielt einen Mann, der auf eine gewisse Weise den ganzen zweieinhalbstündigen Film über ungreifbar bleibt, ein Nichts in der Mitte des Films. Wir verstehen nicht, was ihn antreibt, was er letztendlich will, außer an der Macht zu bleiben und nicht getötet oder verbannt zu werden, wie so viele russische Herrscher in den Jahrhunderten vor ihm. Was wir stattdessen sehen, ist, wie das »System Putin« funktioniert, und warum. Denn alle Erklärungen, die einfach nur mit den Worten
»Angst«, »Einschüchterung« und »Diktatur« arbeiten, sind zu einfach und bestätigen bequeme westliche Selbstbilder, nach denen wir im Westen sowieso in der besten aller Welten leben. Dieser Film zeigt, dass Russland vor allem anders ist als der Westen: »Wenn man im Westen Politiker verhaftet, finden es alle richtig, wenn es Geschäftsleute trifft, empören sich alle«, sagt einmal die Hauptfigur, »in Russland ist es genau umgekehrt.«
Liegt der Unterschied zwischen den USA und Russland
vielleicht doch nur darin, dass in Moskau die Willkür der Macht regiert, in Washington die Willkür des Kapitals?
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Paul Dano spielt diesen an Surkow angelehnten Vadim Baranov, jenen Kreml-Flüsterer, der auf den Trümmern des Jelzin-Ausverkaufs und des neoliberalen Raubtierkapitalismus der wilden 90er Jahre »das Unerwartete erwartbar« macht, eine »vertikale Demokratie« errichtet, und der seinen Mitarbeitern einbläut: »Stop Making Up Stories. Start Inventing Realities« und damit fast alles vorwegnimmt, was den auch den Populismus der westlichen Demokratien heute prägt.
Die kommen in Assayas’ Film insgesamt nicht sonderlich gut weg. Der Regisseur von Après mai gönnt sich das Vergnügen, seine Figuren in den 90ern darauf hinzuweisen, dass der Kommunismus über 70 Jahre auch ein Bewahrer der bürgerlichen Ästhetik, Kultur und Poesie war, und dass der westliche Neoliberalismus diese Bürgerlichkeit zerstören wird – sowie dies tatsächlich nicht nur in
Russland, sondern seit den 90er Jahren auch in westlichen Gesellschaften unter dem Mantel der Digitalisierung und der Publikumsfreundlichkeit längst tagtägliche Erfahrung ist.
Baranov mag so wirken, ist aber kein russischer Forrest Gump, sondern ein cooler Medienstrippenzieher, den Alicia Vikander als seine Frau noch menschlicher macht.
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Das »Geschöpf«, wie die namenlose Kreatur im Roman von Mary Shelley heißt, ist weder Mensch noch Biest.
Mehr als ein Dutzend mal wurde »Frankenstein« bereits seit 1913 fürs Kino verfilmt – warum es sich trotzdem lohnt, diese Geschichte nochmal zu erzählen, beweist der Mexikaner Guillermo del Toro (Pans Labyrinth) bereits in den ersten Minuten seines großartigen Films. Er hat
die Vorlage an einigen Stellen behutsam und geradezu zärtlich, voller Skrupel verändert, ohne sie zeitgeisthörig zu »aktualisieren«.
Die Liebe dieses Regisseurs zu Monstern ist bekannt und unbestreitbar. Trotzdem dominiert in diesem Film, dass del Toro vor allem daran erinnert und erinnern will, dass der Romantitel ja nicht den gruseligen künstlichen Menschen bezeichnet, sondern seinen Schöpfer. In diesem Sinn wurde die Metapher »Frankenstein« vom (Kino-)Publikum immer
missverstanden. Die britische Romantikerin war ja gerade nicht an »Achtsamkeit« und am heute so zeitgeistgerechten »Mitleid für das Monster« interessiert, sondern an der modernen Wissenschaft und ihren Träumen zwischen Fortschritt und Hybris. Oscar Isaac spielt hier den genialen Doktor Frankenstein, der selbst traumatisiert ist und vor allem dem Leben dienen will, indem er den Tod besiegt. Als er erkennt, dass er seine Schöpfung nicht kontrollieren kann, will er sie zerstören
– wenn es nicht dafür schon zu spät ist.
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Doch nicht diese Konfrontation interessiert del Toro, sondern der Schöpfungsprozess, den er mit einer Liebeswalzermusik begleitet – und die Filmmusik gehört zu den großen Stärken dieses Films – das 19. Jahrhundert und die moderne Wissenschaft mit ihren Abgründen. Christoph Waltz spielt die dunkle Seite im Teufelspakt dieses »modernen Prometheus«, einen deutschen Munitionsfabrikanten, der seine ganz eigenen Interessen verfolgt. Jacob Elordi als Monster ist dagegen zu schön und mild und auch zu woke, um auch nur ein bisschen zu ängstigen, und in der Ambivalenz der Figur an den berühmten Boris Karloff heranzureichen.
Eine Ehrenrettung für Doktor Frankenstein. Del Toros Film, seit zwei Jahrzehnten das Herzensprojekt des Regisseurs, ist einer seiner besten Filme. Doch er spaltete das Publikum in Venedig: Für die einen ein »Meisterwerk«, hätten sich andere noch mehr Konsequenz vorstellen können. Oder sie sehen im produzierenden Netflix-Studio das wahre Monster.
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Vor allem aber ist Guillermo del Toro ein zwingender Gegenentwurf zum affektierten Kasperltheater gelungen, mit dem der Grieche Yorgos Lanthimos seit einigen Jahren die Arthouse-Kino-Szene spaltet. Im Gegensatz zu dessen Poor Things nimmt del Toro die Monster ernst. Und liebt sie, nicht nur sich selbst.
Natürlich weiß del Toro auch, dass das Goya-Zitat »El sueño de la razón produce monstruos« auch anders übersetzt werden kann: Der Traum der Vernunft gebiert Monster. Hierin liegt die ganze Ambivalenz der Aufklärung, die dieser Regisseur nicht verraten, sondern romantisch erweitern will.
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Netflix hat auch Jay Kelly produziert, eine stargespickte Komödie von Noah Baumbach. George Clooney spielt einen alternden Hollywoodstar, also sich selber. Der Titel des Films ist der Name der Figur. Obwohl er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere befindet, ist er von einer Traurigkeit gezeichnet, wie sie typisch für jemanden ist, der einen hohen Preis in Form verlorener Zuneigungen bezahlt.
Der Mann steckt in der Midlifekrise, und will sein Leben ändern. Darum reist er seiner Tochter nach Italien hinterher, um ausgerechnet dort aus der Filmblase auszubrechen und das »echte Leben« kennenzulernen. Doch wenn ein Hollywoodstar das tut, ist er von seiner Entourage begleitet: Adam Sandler, Laura Dern und Greta Gerwig spielen Manager und Presseagenten, Alba Rohrwacher eine italienische Festivaldirektorin.
Aber all das reicht nicht aus, um den Film zum Abheben zu bringen – weder die schöne Plansequenz am Anfang, mitten auf einem Filmset, noch der abschließende Tribut an den echten George Clooney, in einem Spiel der Spiegelungen seiner besten Interpretationen. Dies ist ein insgesamt nicht ganz gelungener Film, der den Wettbewerb vielleicht nicht verdient hätte – und belegt, dass Noah Baumbach als Regisseur überschätzt ist.
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Zugleich ist dieser Film aber auch eine Parodie der Filmbranche und ein selbstironischer Blick in den Spiegel durch das Festival. Vor allem aber ein Vehikel, um den Wahlitaliener George Clooney wieder einmal an den Lido zu bringen. Zumindest dieser Plan ging schief, denn der 64-jährige war von einer schweren Erkältung geplagt zu krank für den Roten Teppich oder die von der 'Yellow Press' sehnsüchtig erwartete Pressekonferenz.