01.09.2025

Ehrenrettung für Doktor Frankenstein

Frankenstein
Frankenstein und sein Monster – gesehen von Guillermo del Toro
(Foto: La Biennale di Venezia · Guillermo del Toro)

Guillermo del Toros zwingender Gegenentwurf zum Lanthimos-Kino ist auch eine Ehrenrettung für eine wagende, riskierende Wissenschaft. Das wahre Monster sitzt aber auch nicht im Kreml – Notizen aus Venedig, 2. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wolves are no beasts. They are the guardians of the forrest.«
– Dialog aus: »Le Mage du Kremlin«

Das Festival ist ein hungriger Drache. Er schleicht um uns herum, belauert uns, und fordert regel­mäßig Tribute. Wer noch schlafen, essen, und Freude sehen will, gar Lohn­ar­beit verrichten muss, der kann, jeden­falls bis zum Ende dieses Wochen­endes, nicht wirklich nach­denken und Eindrücke »sacken lassen«, muss darum hinschreiben, was als erstes in den Sinn kommt, muss der eigenen Intuition vertrauen.
Es sind darum weiterhin nur erste provi­so­ri­sche Eindrücke, die wir hier fest­halten, lose, stich­wort­artig, ein Tagebuch. Sagt nicht, wir hätten Euch nicht gewarnt! Und ausdrück­lich möchte ich jeden Anspruch auf Volls­tän­dig­keit zurück­weisen – trotzdem ist vor dem Wochen­be­ginn, wenn alles hier entspannter wird, einiges mitzu­teilen. Dazu gehört unter anderem die Tatsache, dass es bisher zwei bis drei Leit­mo­tive gibt, Väter-Eltern-Kind-Bezie­hungen zuerst, dysfunk­tio­nale Familien, und die Rückkehr der Monster.
Zweitens die Tatsache, dass die Qualität des Wett­be­werbs bis zum Wochen­ende medioker war, es zwar keine völligen Reinfälle gibt, aber auch wenig Heraus­ste­chendes.

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Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster (»El sueño de la razón produce monstruos«) – dieses berühmte Bild des Spaniers Francisco Goya kann auch den ersten Tagen der Film­fest­spiele von Venedig den Titel geben: Denn in Zeiten von Krieg, Kata­stro­phen und jener univer­salen Unsi­cher­heit, die derzeit vor allem die Demo­kra­tien des Westens, doch nicht nur sie, durch­zieht, reflek­tieren die Filme diesen Zustand – und bringen die Monster auf die Einwände des anspruchs­vollen Kinos zurück.

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Am Sonn­tag­abend war es vor allem Jude Law als Wladimir Putin, der das Publikum am Lido mit dem Portrait eines realen vermeint­li­chen Monsters in Bann zog: Sein neuer Film ist ein heraus­ra­gend insze­nierter Parforce­ritt durch die russische Geschichte, ein genialer Kino-Coup. Denn Olivier Assayas' Le Mage du Kremlin (The Wizard of the Kremlin) erzählt gleich­zeitig vom Russland der letzten 35 Jahre, wie von unser Gegenwart, und davon, wie diese wurde, was sie heute ist.

Basierend auf dem gleich­na­migen, offenbar ziemlich inter­es­santen Roman des italie­ni­schen Schrift­stel­lers und zeit­wei­ligen Politk­be­ra­ters Giuliano da Empoli (deutsch bei Beck: »Der Magier im Kreml«) und damit lose auch auf der realen Biogra­phie des 1964 geborenen Wladislaw Surkow, des ehema­ligen Chef­ideo­logen des Kreml, zudem mit Dreh­buch­be­tei­li­gung von Emmanuel Carrère – des Autors jenes atem­be­rau­benden »Limonow«-Romans, der 2024 vom Exil­russen Kiril Sere­bren­nikov verfilmt wurde – bietet der Film eine schlüs­sige Innen­an­sicht der russi­schen Macht und Polit­szene ohne einfache Erklärungen, ohne Küchen­psy­cho­logie und vor allem ohne jene billige Polemik der bekannten »Russ­land­ex­perten« unserer Medien, die oft mehr Meinungs- und Partei­po­litik spiegeln als Forschungs­er­geb­nisse. Assayas – der Regisseur von (u.a.) Carlos und Die Wolken von Sils Maria – zeigt statt­dessen lieber Ereig­nisse und die Medien- und PR-Diskurse um sie herum. Vor allem aber zeigt der Franzose, was Putins Aufstieg alles mögli­cher­weise über uns selbst verrät.

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Jude Law spielt einen Mann, der auf eine gewisse Weise den ganzen zwei­ein­halb­stün­digen Film über ungreifbar bleibt, ein Nichts in der Mitte des Films. Wir verstehen nicht, was ihn antreibt, was er letzt­end­lich will, außer an der Macht zu bleiben und nicht getötet oder verbannt zu werden, wie so viele russische Herrscher in den Jahr­hun­derten vor ihm. Was wir statt­dessen sehen, ist, wie das »System Putin« funk­tio­niert, und warum. Denn alle Erklärungen, die einfach nur mit den Worten »Angst«, »Einschüch­te­rung« und »Diktatur« arbeiten, sind zu einfach und bestä­tigen bequeme westliche Selbst­bilder, nach denen wir im Westen sowieso in der besten aller Welten leben. Dieser Film zeigt, dass Russland vor allem anders ist als der Westen: »Wenn man im Westen Politiker verhaftet, finden es alle richtig, wenn es Geschäfts­leute trifft, empören sich alle«, sagt einmal die Haupt­figur, »in Russland ist es genau umgekehrt.«
Liegt der Unter­schied zwischen den USA und Russland viel­leicht doch nur darin, dass in Moskau die Willkür der Macht regiert, in Washington die Willkür des Kapitals?

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Paul Dano spielt diesen an Surkow ange­lehnten Vadim Baranov, jenen Kreml-Flüsterer, der auf den Trümmern des Jelzin-Ausver­kaufs und des neoli­be­ralen Raub­tier­ka­pi­ta­lismus der wilden 90er Jahre »das Uner­war­tete erwartbar« macht, eine »vertikale Demo­kratie« errichtet, und der seinen Mitar­bei­tern einbläut: »Stop Making Up Stories. Start Inventing Realities« und damit fast alles vorweg­nimmt, was den auch den Popu­lismus der west­li­chen Demo­kra­tien heute prägt.

Die kommen in Assayas’ Film insgesamt nicht sonder­lich gut weg. Der Regisseur von Après mai gönnt sich das Vergnügen, seine Figuren in den 90ern darauf hinzu­weisen, dass der Kommu­nismus über 70 Jahre auch ein Bewahrer der bürger­li­chen Ästhetik, Kultur und Poesie war, und dass der westliche Neoli­be­ra­lismus diese Bürger­lich­keit zerstören wird – sowie dies tatsäch­lich nicht nur in Russland, sondern seit den 90er Jahren auch in west­li­chen Gesell­schaften unter dem Mantel der Digi­ta­li­sie­rung und der Publi­kums­freund­lich­keit längst tagtäg­liche Erfahrung ist.
Baranov mag so wirken, ist aber kein russi­scher Forrest Gump, sondern ein cooler Medi­en­strip­pen­zieher, den Alicia Vikander als seine Frau noch mensch­li­cher macht.

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Das »Geschöpf«, wie die namenlose Kreatur im Roman von Mary Shelley heißt, ist weder Mensch noch Biest.
Mehr als ein Dutzend mal wurde »Fran­ken­stein« bereits seit 1913 fürs Kino verfilmt – warum es sich trotzdem lohnt, diese Geschichte nochmal zu erzählen, beweist der Mexikaner Guillermo del Toro (Pans Labyrinth) bereits in den ersten Minuten seines groß­ar­tigen Films. Er hat die Vorlage an einigen Stellen behutsam und geradezu zärtlich, voller Skrupel verändert, ohne sie zeit­geis­thörig zu »aktua­li­sieren«.
Die Liebe dieses Regis­seurs zu Monstern ist bekannt und unbe­streitbar. Trotzdem dominiert in diesem Film, dass del Toro vor allem daran erinnert und erinnern will, dass der Roman­titel ja nicht den gruse­ligen künst­li­chen Menschen bezeichnet, sondern seinen Schöpfer. In diesem Sinn wurde die Metapher »Fran­ken­stein« vom (Kino-)Publikum immer miss­ver­standen. Die britische Roman­ti­kerin war ja gerade nicht an »Acht­sam­keit« und am heute so zeit­geist­ge­rechten »Mitleid für das Monster« inter­es­siert, sondern an der modernen Wissen­schaft und ihren Träumen zwischen Fort­schritt und Hybris. Oscar Isaac spielt hier den genialen Doktor Fran­ken­stein, der selbst trau­ma­ti­siert ist und vor allem dem Leben dienen will, indem er den Tod besiegt. Als er erkennt, dass er seine Schöpfung nicht kontrol­lieren kann, will er sie zerstören – wenn es nicht dafür schon zu spät ist.

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Doch nicht diese Konfron­ta­tion inter­es­siert del Toro, sondern der Schöp­fungs­pro­zess, den er mit einer Liebes­walz­ermusik begleitet – und die Filmmusik gehört zu den großen Stärken dieses Films – das 19. Jahr­hun­dert und die moderne Wissen­schaft mit ihren Abgründen. Christoph Waltz spielt die dunkle Seite im Teufels­pakt dieses »modernen Prome­theus«, einen deutschen Muni­ti­ons­fa­bri­kanten, der seine ganz eigenen Inter­essen verfolgt. Jacob Elordi als Monster ist dagegen zu schön und mild und auch zu woke, um auch nur ein bisschen zu ängstigen, und in der Ambi­va­lenz der Figur an den berühmten Boris Karloff heran­zu­rei­chen.

Eine Ehren­ret­tung für Doktor Fran­ken­stein. Del Toros Film, seit zwei Jahr­zehnten das Herzens­pro­jekt des Regis­seurs, ist einer seiner besten Filme. Doch er spaltete das Publikum in Venedig: Für die einen ein »Meis­ter­werk«, hätten sich andere noch mehr Konse­quenz vorstellen können. Oder sie sehen im produ­zie­renden Netflix-Studio das wahre Monster.

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Vor allem aber ist Guillermo del Toro ein zwin­gender Gegen­ent­wurf zum affek­tierten Kasperl­theater gelungen, mit dem der Grieche Yorgos Lanthimos seit einigen Jahren die Arthouse-Kino-Szene spaltet. Im Gegensatz zu dessen Poor Things nimmt del Toro die Monster ernst. Und liebt sie, nicht nur sich selbst.

Natürlich weiß del Toro auch, dass das Goya-Zitat »El sueño de la razón produce monstruos« auch anders übersetzt werden kann: Der Traum der Vernunft gebiert Monster. Hierin liegt die ganze Ambi­va­lenz der Aufklärung, die dieser Regisseur nicht verraten, sondern roman­tisch erweitern will.

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Netflix hat auch Jay Kelly produ­ziert, eine star­ge­spickte Komödie von Noah Baumbach. George Clooney spielt einen alternden Holly­wood­star, also sich selber. Der Titel des Films ist der Name der Figur. Obwohl er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere befindet, ist er von einer Trau­rig­keit gezeichnet, wie sie typisch für jemanden ist, der einen hohen Preis in Form verlo­rener Zunei­gungen bezahlt.

Der Mann steckt in der Midli­fe­krise, und will sein Leben ändern. Darum reist er seiner Tochter nach Italien hinterher, um ausge­rechnet dort aus der Filmblase auszu­bre­chen und das »echte Leben« kennen­zu­lernen. Doch wenn ein Holly­wood­star das tut, ist er von seiner Entourage begleitet: Adam Sandler, Laura Dern und Greta Gerwig spielen Manager und Pres­se­agenten, Alba Rohr­wa­cher eine italie­ni­sche Festi­val­di­rek­torin.

Aber all das reicht nicht aus, um den Film zum Abheben zu bringen – weder die schöne Plan­se­quenz am Anfang, mitten auf einem Filmset, noch der abschließende Tribut an den echten George Clooney, in einem Spiel der Spie­ge­lungen seiner besten Inter­pre­ta­tionen. Dies ist ein insgesamt nicht ganz gelun­gener Film, der den Wett­be­werb viel­leicht nicht verdient hätte – und belegt, dass Noah Baumbach als Regisseur über­schätzt ist.

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Zugleich ist dieser Film aber auch eine Parodie der Film­branche und ein selbst­iro­ni­scher Blick in den Spiegel durch das Festival. Vor allem aber ein Vehikel, um den Wahlita­liener George Clooney wieder einmal an den Lido zu bringen. Zumindest dieser Plan ging schief, denn der 64-jährige war von einer schweren Erkältung geplagt zu krank für den Roten Teppich oder die von der 'Yellow Press' sehn­süchtig erwartete Pres­se­kon­fe­renz.