28.08.2025

Retten Anmut und Gnade das Kino?

Werner Herzog
Werner Herzog – Fels im Gebirge des Filmschaffens
(Foto: La Biennale di Venezia · Werner Herzog Stiftung)

Oder muss es einfach von Werner Herzog lernen? – Notizen aus Venedig, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Im Nachtzug über München und Öster­reich nach Venedig. Man steigt aus, und die Welt ist eine andere. Die Luft ist zwar schwül, aber erfüllt von herr­li­chen Meeres­düften. Venedig beginnt! Das zweite große Film­fes­tival des Jahres, das einzige A-Festival, das sich trotz Locarnos Piazza, San Sebas­tians Concha und Berlins Bemühungen um Anschluss mit Cannes' Croisette bemühen kann.

In diesem Jahr gibt es hier unter anderem die neuen Filme von László Nemes, Yorgos Lanthimos, Luca Guad­a­gnino, Gus Van Sant, Sofia Coppola, Guillermo del Toro und vielen mehr. Mit solchen Namen muss man sich am Lido nicht hinter Cannes verste­cken.

Als einziger deutscher Beitrag läuft Funeral Casino Blues der Berliner Produk­ti­ons­firma The Barri­cades von Regisseur Roderick Warich, den man bislang vor allem als Dreh­buch­autor von Timm Krögers Die Theorie von Allem kennt.

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Drei Jahre, nachdem er den Großen Preis der Jury mit Die Hand Gottes gewonnen hat, kehrt Paolo Sorren­tino nun an den Lido zurück. Mit seinem neuen Film La Grazia eröffnet er den Wett­be­werb um den Goldenen Löwen. Dieses Werk ist auch die achte Zusam­men­ar­beit mit Sorren­tinos Lieb­lings­schau­spieler Toni Servillo.

In einem dezidiert spiri­tu­ellen Sinn ist Grazie, also Anmut auch das, was den Prot­ago­nisten des Films, der die Reihe »Orizzonti« eröffnet, berührt: Mother, bei dem die maze­do­ni­sche Filme­ma­cherin Teona Strugar Mitevska Regie führt. Die Mutter, um die es hier geht, ist Mutter Teresa von Kalkutta, die hier von Noomi Rapace gespielt wird – ein ziem­li­cher Unter­schied zu ihren Auftritten als Lisbeth Salander in der Mill­en­nium-Trilogie.
Hoch­wer­tiges Autoren­kino, ein spiri­tu­elles und immersives Erlebnis.

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Das passt wie Sorren­tinos Filmtitel ganz gut zum Rest, denn die Gnade Gottes, die hat das zeit­genös­si­sche Kino dringend nötig, sowie Anmut und Gnade – inter­es­sant, dass wir in mehreren Filmen solche Gedan­ken­fi­guren haben.
Das Inter­es­sante daran ist natürlich, dass dies genau das ist, was auch das Kino gerade braucht. Das Kino braucht einen Anstoß von außen, einen Aufbruch zu Neuem, es braucht ein bisschen mehr Liebe, ein bisschen mehr Offenheit; es ist gerade in der ganzen Welt, insbe­son­dere im Westen und im Norden, in Hollywood und im klas­si­schen europäi­schen Autoren­film über­wie­gend in einem Zustand, der nicht gut ist: Manie­riert, mutlos, dominiert vom Wieder­holen des Immer­glei­chen. Längst haben die Finanz­con­troller und Normierer überall die Macht über­nommen.

Das bleibt nicht ohne Folgen für die Filme selbst: Inzwi­schen schreiben schon Film­wis­sen­schaftler über die »Blöd­ma­schinen« (Georg Seeßlen) und den »Objekt­ver­lust« (Lars Henrik Gass) des inter­na­tio­nalen Autoren­films und es wird über diese Zustände debat­tiert – die Filme, die wir in den nächsten Tagen sehen werden, das zeigen schon die Eröff­nungs­filme von heute, die werden diese Diskus­sion weiter­führen und das Kino öffnen und diesen inneren Panzer, der es einge­zwängt hält, aufzu­sprengen versuchen.

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Der Eröff­nungstag beginnt aber unter dem Zeichen des Löwen von San Marco: mit dem Ehren­löwen für das Lebens­werk an einen der großen europäi­schen Autoren­filmer, den 82-jährigen Werner Herzog: Einen »Soldaten des Kinos«, wie er sich selber definiert, aber auch ein Entdecker, ein Extremist im besten Sinn, der sich um poli­ti­sche Correct­ness nicht schert und die große Leinwand als Raum des Aben­teuers fruchtbar macht.

Herzog gehört immer noch zu den unbe­kann­testen der großen deutschen Filme­ma­cher seiner Gene­ra­tion. Der Film­kri­tiker Wolfram Schütte nannte ihn den »außer­or­dent­lichsten Filme­ma­cher des Neuen Deutschen Films«, obwohl Herzog sich selbst gar nicht so »deutsch« fühlt, »eher bayrisch wie Fass­binder auch«. Er lebt vorwie­gend in Los Angeles – und in den ganz beson­deren und ganz persön­li­chen Welten seines Kinos.

Das ist darum ein über­fäl­liger Preis, denn Werner Herzog ist zwar über 80 Jahre alt, aber er ist einer der jüngsten Filme­ma­cher der Welt – er ist wirklich immer noch hellwach, und er ist in der Lage zu dem, was viele Jüngere nicht schaffen, nämlich dazu, sich immer wieder neu zu erfinden. Er ist der ästhe­ti­sche Extremist des Kinos, ein Erkunder und er ist längst schon kein deutscher Filme­ma­cher mehr, denn er war schon in der goldenen Zeit des Neuen Deutschen Films derjenige unter den deutschen Filme­ma­chern, der immer schon am weitesten über den Teller­rand hinaus geblickt hat: Er hat Filme in Latein­ame­rika gemacht, an den Polar­kappen, in Wüsten, ihm war Deutsch­land viel zu klein und viel­leicht die ganze Welt zu klein. Darum hat er diesen Preis unbedingt verdient und auch so ein Mega­lo­mane wie Francis Ford Coppola war genau der Richtige, um ihm diesen Preis in Venedig zu übergeben – ja: 'alte weiße Männer', von denen sich die ganzen Jungen mehr als eine Scheibe abschneiden können. Vor allem von den Filmen und der furcht­losen Haltung, die ihnen zugrunde liegt.