Retten Anmut und Gnade das Kino? |
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Werner Herzog – Fels im Gebirge des Filmschaffens | ||
(Foto: La Biennale di Venezia · Werner Herzog Stiftung) |
Im Nachtzug über München und Österreich nach Venedig. Man steigt aus, und die Welt ist eine andere. Die Luft ist zwar schwül, aber erfüllt von herrlichen Meeresdüften. Venedig beginnt! Das zweite große Filmfestival des Jahres, das einzige A-Festival, das sich trotz Locarnos Piazza, San Sebastians Concha und Berlins Bemühungen um Anschluss mit Cannes' Croisette bemühen kann.
In diesem Jahr gibt es hier unter anderem die neuen Filme von László Nemes, Yorgos Lanthimos, Luca Guadagnino, Gus Van Sant, Sofia Coppola, Guillermo del Toro und vielen mehr. Mit solchen Namen muss man sich am Lido nicht hinter Cannes verstecken.
Als einziger deutscher Beitrag läuft Funeral Casino Blues der Berliner Produktionsfirma The Barricades von Regisseur Roderick Warich, den man bislang vor allem als Drehbuchautor von Timm Krögers Die Theorie von Allem kennt.
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Drei Jahre, nachdem er den Großen Preis der Jury mit Die Hand Gottes gewonnen hat, kehrt Paolo Sorrentino nun an den Lido zurück. Mit seinem neuen Film La Grazia eröffnet er den Wettbewerb um den Goldenen Löwen. Dieses Werk ist auch die achte Zusammenarbeit mit Sorrentinos Lieblingsschauspieler Toni Servillo.
In einem dezidiert spirituellen Sinn ist Grazie, also Anmut auch das, was den Protagonisten des Films, der die Reihe »Orizzonti« eröffnet, berührt: Mother, bei dem die mazedonische Filmemacherin Teona Strugar Mitevska Regie führt. Die Mutter, um die es hier geht, ist Mutter Teresa von Kalkutta, die hier von Noomi Rapace gespielt wird – ein ziemlicher Unterschied zu ihren Auftritten als Lisbeth Salander in der Millennium-Trilogie.
Hochwertiges Autorenkino, ein spirituelles und immersives Erlebnis.
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Das passt wie Sorrentinos Filmtitel ganz gut zum Rest, denn die Gnade Gottes, die hat das zeitgenössische Kino dringend nötig, sowie Anmut und Gnade – interessant, dass wir in mehreren Filmen solche Gedankenfiguren haben.
Das Interessante daran ist natürlich, dass dies genau das ist, was auch das Kino gerade braucht. Das Kino braucht einen Anstoß von außen, einen Aufbruch zu Neuem, es braucht ein bisschen mehr Liebe, ein bisschen mehr Offenheit; es ist gerade in der
ganzen Welt, insbesondere im Westen und im Norden, in Hollywood und im klassischen europäischen Autorenfilm überwiegend in einem Zustand, der nicht gut ist: Manieriert, mutlos, dominiert vom Wiederholen des Immergleichen. Längst haben die Finanzcontroller und Normierer überall die Macht übernommen.
Das bleibt nicht ohne Folgen für die Filme selbst: Inzwischen schreiben schon Filmwissenschaftler über die »Blödmaschinen« (Georg Seeßlen) und den »Objektverlust« (Lars Henrik Gass) des internationalen Autorenfilms und es wird über diese Zustände debattiert – die Filme, die wir in den nächsten Tagen sehen werden, das zeigen schon die Eröffnungsfilme von heute, die werden diese Diskussion weiterführen und das Kino öffnen und diesen inneren Panzer, der es eingezwängt hält, aufzusprengen versuchen.
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Der Eröffnungstag beginnt aber unter dem Zeichen des Löwen von San Marco: mit dem Ehrenlöwen für das Lebenswerk an einen der großen europäischen Autorenfilmer, den 82-jährigen Werner Herzog: Einen »Soldaten des Kinos«, wie er sich selber definiert, aber auch ein Entdecker, ein Extremist im besten Sinn, der sich um politische Correctness nicht schert und die große Leinwand als Raum des Abenteuers fruchtbar macht.
Herzog gehört immer noch zu den unbekanntesten der großen deutschen Filmemacher seiner Generation. Der Filmkritiker Wolfram Schütte nannte ihn den »außerordentlichsten Filmemacher des Neuen Deutschen Films«, obwohl Herzog sich selbst gar nicht so »deutsch« fühlt, »eher bayrisch wie Fassbinder auch«. Er lebt vorwiegend in Los Angeles – und in den ganz besonderen und ganz persönlichen Welten seines Kinos.
Das ist darum ein überfälliger Preis, denn Werner Herzog ist zwar über 80 Jahre alt, aber er ist einer der jüngsten Filmemacher der Welt – er ist wirklich immer noch hellwach, und er ist in der Lage zu dem, was viele Jüngere nicht schaffen, nämlich dazu, sich immer wieder neu zu erfinden. Er ist der ästhetische Extremist des Kinos, ein Erkunder und er ist längst schon kein deutscher Filmemacher mehr, denn er war schon in der goldenen Zeit des Neuen Deutschen Films derjenige unter den deutschen Filmemachern, der immer schon am weitesten über den Tellerrand hinaus geblickt hat: Er hat Filme in Lateinamerika gemacht, an den Polarkappen, in Wüsten, ihm war Deutschland viel zu klein und vielleicht die ganze Welt zu klein. Darum hat er diesen Preis unbedingt verdient und auch so ein Megalomane wie Francis Ford Coppola war genau der Richtige, um ihm diesen Preis in Venedig zu übergeben – ja: 'alte weiße Männer', von denen sich die ganzen Jungen mehr als eine Scheibe abschneiden können. Vor allem von den Filmen und der furchtlosen Haltung, die ihnen zugrunde liegt.