14.08.2025

Die Sehnsucht und das Ende der Welt

Im Lauf der Zeit
Im Lauf der Zeit…
(Foto: Wim Wenders · Im Lauf der Zeit)

Mit dem Schlüssel zur Freiheit: Wim Wenders wird 80 Jahre alt

Von Rüdiger Suchsland

»Mitunter gelingt es, ganz in der Gegenwart aufzu­gehen. Das ist dann Glück.«
Wim Wenders über seine Film­ar­beit

Eigent­lich hätte ich Lust, heute Abend mal wieder Der Himmel über Berlin zu sehen – gerade weil dies einer der Filme von Wim Wenders ist, mit denen ich meine Schwie­rig­keiten habe, und man ihm ande­rer­seits seinen Rang, seine Bedeutung, seine Einma­lig­keit und – ja! – seine Magie nicht abspre­chen kann.

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So geht es einem mit seinen Filmen: Sie haben einen Sog. Sie haben etwas, mit dem man nie ganz fertig wird und das man immer wieder neu entdecken und sehen möchte.

Es ist eine große Kunst darin, wie Wenders immer wieder das Aller­ein­fachste zeigt, das aber nur er zeigen kann. »Er will nur genauer kompro­miss­loser sehen, was alles noch sichtbar ist in der Welt, bevor alles verschwindet«, schrieb Norbert Grob. Wenders nutzt seine Kamera als Instru­ment des Aufbe­wah­rens, als Möglich­keit, die Existenz der Dinge, der Menschen, der Land­schaften zu retten. »Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will«, zitiert er Paul Cézanne.

Und scheint doch alle Zeit der Welt zu haben. Wenn man ihn inter­viewt, braucht er manchmal eine Minute, bis die Antwort kommt.

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Was für ein seltsamer Mensch. Für die »Berliner Zeitung« hat er einmal als Forrest Gump posiert, und das, finde ich, passt unglaub­lich gut. Ein Zeitrei­sender, der sich seinen aus der Zeit gefal­lenen Blick bewahrt. Damit aber also doch auch nicht ganz so gegen­wärtig ist, wie er sein möchte.

Aber auch ein sehr netter, freund­li­cher Mensch. Das erste Mal bin ich ihm begegnet, da war ich noch kein Film­kri­tiker. Ich ging in ein Konzert in der Muff­at­halle in München und fast alle Plätze waren schon besetzt. Da saß irgendwo Wim Wenders, den ich natürlich aus der Zeitung kannte, und winkte mir zu: »Komm! Wir rücken zusammen«, sagte er zu mir und seiner Beglei­terin und machte noch einen Platz frei.

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Wim Wenders erzählt uns etwas von der verlo­renen Unschuld. Nicht die des Kinos, sondern von der Unschuld, die wir verloren haben. Die Begegnung mit seinen Filmen ist nämlich nicht einfach die mit unserer eigenen Jugend, die vergangen ist und mit jener Naivität, mit der wir einst auf Filme schauten und das Werk von Wim Wenders auch als einschüch­ternd empfanden – das soll also Kunst sein? Ist das wirklich das best­mög­liche modernste Kino? Und diese Filme muss ich mögen, wenn ich ein Cineast sein will? Und die Films noirs und die Western und Chaplin und Laurel & Hardy darf ich nicht so mögen, wie ich es eigent­lich tue? Und auch nicht Truffaut? Das ist natürlich alles falsch. Totaler Unsinn!
Aber auch das musste man erst lernen in der Begegnung mit Wenders. Man musste lernen, weil wir es schon nicht mehr selber miterlebt haben, dass er als Film­kri­tiker anfing, bei der »Süddeut­schen Zeitung« und bei der »Film­kritik«, und dass er dort unter anderem erklärte, warum der Film noir das viel­leicht schönste Filmgenre der Welt ist, und der Western schon deswegen geliebt wird, weil er von Amerika erzählt und von der Freiheit und davon, dass beides eigent­lich identisch ist.

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Arztsohn. Ausge­rechnet aus Düssel­dorf. Aber dort wurde er zwar 1945 geboren, zog aber mit zehn weg und wuchs in Ober­hausen auf.
Berufs­wunsch zuerst Priester. Dann abge­bro­chene Studien der Medizin, der Philo­so­phie und Sozio­logie. Dann mit 21, 1966, machte er sich auf den Weg nach Paris. Er bewirbt sich an der Pariser Film­hoch­schule, die ihn ablehnt. Arbeitet als Radierer in einem Atelier am Mont­par­nasse und verbringt seine Tage in der Ciné­ma­thèque française, mit den Filmen von Fritz Lang und John Ford, von Nicholas Ray und Yasujiro Ozu. Irgendwo saß da auch Berto­lucci. Und wer weiß, wer noch?
Dann, recht­zeitig vor dem roten Mai ’68, über den Berto­lucci seinen tollen Dreamers machte, zog er nach München.

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»Die Schwere-Reiter-Straße im Münchner Norden, im Morgen­grauen. Schwarz-weiß wie die Erin­ne­rung. Winter 1967? Ein Film­stu­dent schiebt einen beigen Deux Chevaux langsam und nahe am Trottoir entlang, ein anderer sitzt am Steuer, in der Mitte des kleinen Autos ragt aus dem zurück­ge­schla­genen Dach ein Stativ mit einer 16mm-Kamera, hinter ihr steht Wim und sagt mir, ich solle mich immer ungefähr in Bildmitte bewegen. Ich trage einen sehr schweren, offenen Winter­mantel, an meiner rechten Seite baumelt eine Maschi­nen­pis­tole. Ich taumle wie ein ange­schos­sener Gangster aus einem Film noir um diese virtuelle Mitte und weiß, dass mein Kopf nicht im Bild sein wird. Wir drehen die Einstel­lung ein einziges Mal, will mir die Erin­ne­rung einreden. Same Player Shoots Again heißt der Film, nach den blin­kenden Leucht­an­zeigen auf dem Flip­per­au­to­maten, damals das schönste mecha­ni­sche Knei­pen­spiel­zeug. Als es hell ist, sind wir fertig. Levi­ta­tion des Morgens.
Man lief sich damals häufig und absichtslos über den Weg, zwischen Schwabing und der Maxvor­stadt. In München strömten aus der neuge­grün­deten Film­hoch­schule die Studenten des ersten Jahrgangs in die belebte Türken­straße, in der neben einigen Anti­qua­riaten, Cafés und Wirts­häu­sern das Türken­dolch­kino war, neben anderen kleinen Licht­spiel­häu­sern in der Umgebung (Isabella, ABC, Theatiner). Die Straßen nördlich der Uni wiesen damals noch keinerlei Symptome konsu­mis­ti­scher Aufblähung auf. Aus der Akademie der Künste mischten sich aktio­nis­ti­sche Künstler dazu, ich selbst kam aus eher entle­genen Bereichen der Univer­sität – Musik und Ethno­logie – auf der etwas ziellosen Suche nach einem Studium, das sich lang­fristig als unab­schließbar erweisen sollte. Seltsam an dieser Mischung erscheint mir im Rückblick die unge­wöhn­liche Leich­tig­keit, mit der Wünsche der Filmer zu Bildern wurden. Es gab keine unmit­tel­baren, nur ganz große, entrückte, meist ameri­ka­ni­sche Vorbilder. Die Produk­ti­ons­mittel standen bereit. Warum nicht zugreifen?«
Hanns Zischler, 2005

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Wie er wohl war um 1970? Dieser auch nach eigener Auskunft ziemlich verschlos­sene Mensch studierte in München und lebte in einer Kommune. Sie hießen die »Sensi­bi­listen«. Eine Etage höher wohnten im gleichen Haus Fritz Teufel und Irmgard Möller, auch Andreas Baader und Gudrun Ensslin kamen gele­gent­lich zu Besuch.

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»Vier Jahre später, unsere Wege waren inzwi­schen weiter ausein­ander gelaufen, brechen wir im Juli und August 1975 zur großen Reise auf, vom Norden Deutsch­lands in den Süden – mit einer kleinen, gewis­ser­maßen roman­ti­schen Abschwei­fung an den Rhein. Im Lauf der Zeit. Reise entlang dessen, was damals schier unver­rückbar 'Zonen­rand­ge­biet' hieß. Ein Film, in dessen ruhiger, unauf­hör­li­cher Bewegung der Fahrten – Lastwagen, Auto, Zug, Motorrad – das Kino sich selbst abbildet. Hinter der privaten Geschichte zwischen Lisa Kreuzer, Rüdiger Vogler und mir tritt nach und nach immer deut­li­cher das Rönt­gen­bild eines gewesenen Deutsch­land hervor. ... Wieder war es das kleine Team, die wie selbst­ver­s­tänd­liche orga­ni­sche Arbeits­tei­lung während der sechs Wochen, die den Film förmlich imprä­gniert haben: Robby Müllers Kamera, Martin Müllers Ton, die sanft voran­trei­bende Musik, die Wims unan­ge­strengt gefun­denen Bildräumen eine bemer­kens­werte Halt­bar­keit und Elas­ti­zität verleihen. Belebend die grafische Schat­tie­rung des Schwarz­weiß-Materials. Mit diesem Film hat er mir das Metier des Film­schau­spie­lers ein für alle Male geöffnet. Dafür danke ich ihm. Im Lauf der Zeit ist auch ein Abschied fast von einer bestimmten Möglich­keit, aus sehr über­schau­baren Verhält­nissen einen großen Film zu machen. Verschwun­dene Konjunk­tion. Nach diesem Film macht Wim den bis dahin nur geträumten Schritt von unserer in die Neue Welt. Wanderer zwischen den Welten ist er seither.«
Hanns Zischler, 2005

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Ein Welten­wan­derer des Kinos, einer, der immer zwischen Konti­nenten, Sprachen und Kunst­formen unterwegs war, und trotzdem eine sehr deutsche, sehr persön­liche Stimme behalten hat.

Ein zentraler Film ist und bleibt sicher Alice in den Städten – der erste große und viel­leicht immer noch beste Wenders-Film. Auch seine anderen Spiel­filme sind meist Road­mo­vies, egal ob jemand tatsäch­lich reist oder nicht. Es geht immer um Bewegung, um Suchen, um Figuren, die unterwegs sind – äußerlich oder innerlich. Die Bilder dagegen stehen fast still: ruhig, lang, meditativ.

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Wenn ich dem Regisseur Wim Wenders etwas zum Geburtstag wünschen dürfte, dann noch mindes­tens zwei Filme: Einen auto­bio­gra­phi­schen, ein Memoir über seine Kindheit und Jugend vor München.
Und dann eine Lang­ver­sion seines erstaun­li­chen letzten Films: Im Kurzfilm Die Schlüssel zur Freiheit vom Mai diesen Jahres (der hier zu sehen ist) erzählte Wenders vom heutigen Lycée Franklin Roosevelt in Reims, im Mai 1945 Sitz des Haupt­quar­tiers der alli­ierten Streit­kräfte in Europa.
Andreas Kilb schrieb darüber in der FAZ: »Er dauert, wie gesagt, nur vier­ein­halb Minuten, so lang wie ein Musikclip oder eine Kurz­re­por­tage im Fernsehen. Aber in diesen Minuten passiert etwas, was bei offi­zi­ellen Gedenk­fei­er­lich­keiten selten geschieht: Die Geschichte holt uns ein.«

Es wäre so schön, wenn Wenders uns hierüber noch viel länger erzählen würde.

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Vieles in seinem Werk ist inzwi­schen histo­risch, nicht mehr von heute. Lauter Abschiede, letzte Filme ihrer Art. Es gab dann auch Zeiten, da galt er als Kassen­schreck. Auf sein erstes groß­ar­tiges Jahrzehnt des Aufbruchs folgte die Ernüch­te­rung und die Demü­ti­gung in Hollywood mit Hammett von 1982, der mir heute als einer seiner besten Filme erscheint. Danach kam viel Esoterik, Senti­men­tales unter Kitsch­ver­dacht (mindes­tens) und Narzissmus, die Abkehr vom Publikum mit Filmen wie Bis ans Ende der Welt und Am Ende der Gewalt. Wie Werner Herzog, aber doch ganz anders, retteten ihn die Doku­men­tar­filme: Buena Vista Social Club und Pina.

Der Mitgründer des Film­ver­lags der Autoren klagte über Kritiker, Förderer und Produk­ti­ons­be­din­gungen: »Ich habe überall in der ganzen Welt mehr Zuschauer als in Deutsch­land.« – dieser Satz trifft zu, hat aber auch damit zu tun, dass das Werk keines zweiten Filme­ma­chers so sehr dem entspricht, was sich die Welt unter »Deutsch­land« vorstellt: Seelen­land­schaften, Leiden an der Wirk­lich­keit, Sehnsucht nach Weite, Reisen bis ans Ende der Welt.

Doch immer wieder hat er sich aus solchen Verhält­nissen wie aus wirt­schaft­li­chen Malaisen befreit, erfüllt vom Wissen, dass am Ende anderes zählt.

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Als Regisseur ist er Kind geblieben und auch stolz darauf. Die Frage ist nur, was das genau heißt? Seine eigene Antwort gab er in einem Interview: »Man darf das Kind in sich nicht verleugnen, es gehört zum Reichtum des eigenen Selbst.«

Wim Wenders erzählt uns etwas von der verlo­renen Unschuld. Wir haben nur verlernt, diese Filme zu sehen.