29.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Was von den Palmen übrigblieb...

Sentimental Value
Bürgerliches, lackiertes Arthouse-Kino: Sentimental Value von Joachim Trier
(Foto: Filmfestival Cannes / Kasper Tuxen)

Ein paar der besten Filme in Cannes und sentimentale Werte: »In die Sonne schauen«, »Sirat«, »Romeria«, »Resurrection« wollen wir nochmal wiedersehen. Und abschließend mal wieder zur Filmkritik – Cannes-Tagebuch, 10. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er kann. In der Impro­vi­sa­tion liegt die Stärke. Alle entschei­denden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden.«
– Walter Benjamin, Einbahn­straße

»Mal sieht man gern in einen Abgrund und mal lieber aufs Meer. Es ist alles nur eine Kopf­wen­dung vonein­ander entfernt.«
– Gottfried Benn

Das ist schon eine ganz erstaun­liche Erfahrung: Man sieht jemanden, den man noch nie gesehen hat, in diesem Fall eine junge Frau, die noch dazu in eine Nonnen­kluft gekleidet ist und von der man darum anfangs nur das Gesicht, nicht aber die Haare und den Hals sehen kann. Aber sofort ist man magne­ti­siert, kann nicht mehr woanders hinschauen und will wissen, wer denn diese Frau ist, die man noch nie gesehen hat? Das ist Star­gla­mour, das ist Charisma, das ist genau das, was Welt­kar­rieren und unsterb­li­chen Ruhm von gutem Handwerk unter­scheidet.
In diesem Fall erlebte ich diese Wow-Erfahrung im ansonsten enttäu­schenden, weil vor allem ermü­denden Der phöni­zi­sche Meis­ter­streich, dem neuen Film von Wes Anderson. Darin spielt neben den üblichen zwei Dutzend Stars Mia Threa­p­leton eine Haupt­rolle, die noch unbekannt, aber immerhin die Tochter von Kate Winslet ist.

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Kunst könne und dürfe nicht instru­men­ta­li­siert werden, sagt Joachim Trier bei der Abschluss­gala, als er für seinen Film Senti­mental Value den »Grand Prix de Jury« verliehen bekam: »Wir wissen nicht, warum wir es tun. Es hat keine Zwecke.« Viel­leicht war das eine kleine Spitze gegen den einen Film, der seinen noch über­flü­gelt hatte. Jeden­falls aber eine sympa­thi­sche, notwen­dige Fest­stel­lung.

Joachim Trier arbeitet sich gewis­ser­maßen vor zur Goldenen Palme. Zuerst der Preis für die »Beste Schau­spie­lerin« vor zwei Jahren für Der schlimmste Mensch der Welt, jetzt der »Grand Prix«. Bei manchen klappt dann der aller­letzte Schritt nicht, bei ihm wird es wahr­schein­lich schon irgend­wann passieren.
Senti­mental Value war der eigent­liche Favorit des Main­streams gewesen, und der meisten jener, die keine Goldene Palme für Panahi wollten. Und nicht nur ich glaubte, Trier eine gut aufge­fan­gene Enttäu­schung anzusehen.

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Ohne Frage ist dies ein gut gemachter und »funk­tio­nie­render« Film, und stel­len­weise ist er sogar richtig gut.
Zuerst sieht man die Silhou­ette der Stadt Oslo. Ein Kame­ra­schwenk gleitet mit unserem Blick auf einen Friedhof hinüber. Dann tritt der erste Haupt­dar­steller auf: ein altes Haus aus dem 19. Jahr­hun­dert. Das Haus erzählt seine Geschichte und die seiner Bewohner über vier Gene­ra­tionen hinweg. Dann begegnen wir Nora (Renate Reinsve in direkter Fort­set­zung ihrer enig­ma­ti­schen Figur des »schlimmsten Menschen«), einer Schau­spie­lerin mit extremem Lampen­fieber. Eine Szene zwischen Komik und Fremd­schämen. Sie erzählt mit dem Haus, dass die Eltern sich getrennt haben, dann gibt es da eine Beer­di­gung. Die Beer­di­gung der Mutter. Der weit entfernt lebende Vater kommt dazu. Er ist Regisseur. Noras Schwester Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas in einem besonders auffal­lenden Auftritt) hatte ihn benach­rich­tigt. Er war ein abwe­sender Vater, der sich nie besonders auf das Leben seiner Töchter einließ. Der Vater heißt Gustav Borg und wird von Stellan Skarsgard gespielt in einem der schönsten, besten Auftritte seiner Karriere.

Jetzt möchte er seinen neuen Film drehen. Im alten Fami­li­en­haus, zwischen den Geistern mehrerer Gene­ra­tionen, unter anderem seiner Mutter, die einst im norwe­gi­schen Wider­stand gegen die Nazi-Besatzung war, von den Deutschen gefoltert wurde und sich später das Leben nahm.

Hier beginnt der eigent­liche Film: Als sich Vater und Tochter im Café treffen und der Vater der Tochter das Drehbuch gibt, mit der Bemerkung, er habe es für sie geschrieben. Die Tochter nimmt das nicht als Kompli­ment, sondern als Affront und ist empört; sie möchte nicht, dass sich der Vater für sie als Künst­lerin inter­es­siert, sondern für ihre Gefühle und Befind­lich­keiten und ihren Narzissmus – und das wiederum inter­es­siert ihn vers­tänd­li­cher­weise überhaupt nicht. Für ihn ist Arbeit und Kunst der Weg, zu kommu­ni­zieren und sich seiner Tochter zu nähern. Für die Tochter ist Kunst nur ein Weg, um nur sich selbst idio­syn­kra­tisch auszu­agieren und ihr Leiden auf perverse, maso­chis­ti­sche Weise zu genießen. So reden beide anein­ander vorbei, mit dem Ergebnis, dass die Tochter des Drehbuch nicht liest und empört vom Café-Tisch aufsteht.
Was an dieser Szene vor allem ungemein nervt, das ist, dass wir in dem Moment, wo die Tochter aufsteht, schon wissen, dass es jetzt eine Stunde lang dauern wird, in der sie herum­zickt und sich quält und vor allem uns im Publikum quält, um dann doch irgend­wann selbst­ver­s­tänd­lich diese Rolle zu spielen. Das hätte der Film uns ersparen können.
Nötig ist dazu ein auch irgendwie über­flüs­siges Inter­mezzo mit Hollywood-Star Elle Fanning, die einen Hollywood-Star spielt, der die Rolle der Tochter im geplanten Film zunächst über­nehmen soll – das triggert dann unter anderem auch die Eitelkeit von Nora, und führt zu der absolut vorher­seh­baren Wendung. Und einer ebenso vorher­seh­baren Versöh­nung zwischen Vater und Tochter. Man könnte sagen: der Vater hat gesiegt. Das ist der einzige Trost in diesem ansonsten eher trost­losen Film, der leider auch mit seinen Bergman- und Ibsen-Anspie­lungen allzu deutlich hausieren geht.

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Das alles könnte auch eine schrille, schwarze Komödie über Filmwelt und Show­busi­ness und dessen Rück­sichts­lo­sig­keit sein, oder auch über die nost­al­gi­sche Trau­rig­keit einer sich verän­dernden Branche. Peter Bradshaw schrieb zu diesem Aspekt in seiner durch­wach­senen Kritik im »Guardian« treffend:
»There are also cinephile in-jokes (which are also Cannes­phile in-jokes). When Agnes’s son has his 10th birthday, Gustav brings the poor boy an outra­ge­ously unsui­table present: some brand-new DVDs of horribly shocking films like Michael Haneke’s The Piano Teacher and Gaspar Noé's Irrever­sible – but Trier shows the ultimate irony is that they don’t have a DVD player. Tech­no­lo­gical changes have robbed these films of the power to shock.«

In diesem Film gibt es sehr gute Witze, über das Filme­ma­chen, über Kunst­be­haup­tungen, über Netflix und Tiktok-Trolle, und sehr viele witzigen Momente – ich würde ihn trotzdem niemals als Komödie beschreiben, wie das andere tun. Dafür ist er viel zu ernst und viel zu bitter.

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Filmisch gesehen ist das alles ein Drehbuch und seine Vorgaben, seine ausge­tüf­telte narrative Archi­tektur. Aber es fehlt ein wirklich expres­sives, eigen­s­tän­diges Filme­ma­chen. Die Insze­nie­rung bleibt in Senti­mental Value meist rein funk­tional.

Hinzu kommt, dass der Film selbst auf dieser Ebene bald seine ursprüng­liche origi­nelle Drehbuch-Prämisse, die Erin­ne­rungen des Hauses selbst, aufgibt, obwohl sich um dieses Haus alles dreht, und statt­dessen eher launisch und affektiv zwischen den Perspek­tiven des Vaters und der beiden Schwes­tern hin- und herspringt.

So bleibt die emotio­nale Inten­sität des Vater-Tochter-Dramas reine Behaup­tung. Mein Haupt­pro­blem mit diesem Film ist, dass ich die Tochter-Figur in keinem Moment verstehe. Ich weiß bis zum Schluss nicht, was eigent­lich mit ihr los ist, was sie antreibt, was sie für ein Problem hat. Den Vater hingegen versteht man ganz gut – aber dies ist nicht der Film des Vaters und deswegen auch nicht der Kunst und einer Haltung, die persön­liche Befind­lich­keiten hinter der Kunst zurück­stellt. Sondern dies ist ein Film, der Partei für die Befind­lich­keiten der Tochter nehmen möchte – aber weder das Drehbuch und die Insze­nie­rung des Regis­seurs, noch die Perfor­mance der Schau­spie­lerin Renate Reinsve sind in der Lage, genau dies auch zu trans­por­tieren.

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Mir kommt dieser Film alles in allem wie ein Bluff vor, wie das gelungene Unter­fangen des Regis­seurs, Publikum und Jury einzu­lullen, und in ein Netz aus Behaup­tungen und Präten­tionen zu verstri­cken.

Senti­mental Value ist keines­wegs schlecht, aber er ist etwas ärgerlich und er ist sehr sehr vorher­sehbar. Die Frage ist, ob das, worum es in diesem Film geht, eigent­lich wichtig ist?

Die Menschen, mit denen wir hier zu tun haben, denen wir begegnen, sind erst einmal keine Figuren, die man sich in einem Film von Truffaut oder Godard vorstellen kann. Am ehesten noch der alte Regisseur. Der Mann ist, wenn man so will, ein Rebell. Zumindest war er das. Er ist einer, der vom Leben mehr möchte, als nur gut essen und ein großes Haus haben.
Mir scheint, dass dieser Film ansonsten die Priva­ti­sie­rung und den Narzissmus, der Seelen­land­schaften, die unserer Zeit entspre­chen, extrem voran­treibt.

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Was für ein Unter­schied zu den anderen Filmen, von denen hier jetzt die Rede ist. Triers Film ist bürger­li­ches, lackiertes Arthouse-Kino, wird aber genau deswegen gut laufen, wenn auch nicht so gut wie Der schlimmste Mensch der Welt. Aber er bietet Vergnügen und keine Probleme.

Die anderen Filme, von denen hier die Rede ist, bieten auch Vergnügen, ein großes Vergnügen sogar, ein Vergnügen, das weit über das von Joachim Trier hinaus­geht. Aber es liegt darin, verstört und irritiert und vor den Kopf gestoßen oder ander­weitig heraus­ge­for­dert zu werden. Man muss einfach Genuss daran empfinden, wenn man sich in Frage gestellt fühlt, sonst funk­tio­niert es nicht.

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Der erste von ihnen ist Mascha Silinskis atem­be­rau­bend guter Sound of Falling / In die Sonne schauen, den ich mir tatsäch­lich am Samstag als aller­letzten Film noch ein zweites Mal angesehen habe. Er hat es gut ausge­halten.

Ein poeti­scher Essay über Tod und Todes­sehn­sucht, über deutsche Gespenster und German Angst, dabei voller Trost und gar nicht morbide. Der Tod ist eine tröstende Freundin.
Es gibt tatsäch­lich viel Fallen, viele Stürze und Sprünge und Abgründe in diesem Film, darum wird er für mich immer »Sound of Falling« heißen. Wir erleben Anspie­lungen auf Das weiße Band von Michael Haneke wie auf Sofia Coppolas The Virgin Suicides, man kann auch an Edgar Reitz’ Heimat denken, sich unge­drehte deutsche und deutsch-deutsche Western vorstellen – in denen die Russen manchmal zu bösen Indianern werden – und dann auch Meek’s Cutoff im Kopf haben, aber eben auch The Zone of Interest, an dessen bösen Fluss der Fluss hier in diesem Film mich manches Mal erinnerte.
»To be continued...« gilt für diesen Film mehr als für alle anderen. Er wird mich in diesem Jahr begleiten.

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Der zweite ist Sirât von Olivier Laxe. Ein im Wortsinn unbe­schreib­li­cher Film. Mad Max trifft Apichat­pong Weer­a­set­hakul, The Sorcerer trifft Zabriskie Point. Das sind so die Filme, wegen denen man nach Cannes fährt und wie man sie nur in Cannes sehen kann: konse­quent, sinnlich, leiden­schaft­lich, kompro­misslos, ohne Zuge­ständ­nisse an den Main­stream oder ans Publikum zu machen – im Gegenteil voller Vertrauen darauf, dass es Menschen gibt, die sich mitreißen lassen von Atmo­sphären und Stim­mungen, von erkenn­barer Leiden­schaft, und eben von dieser Kompro­miss­lo­sig­keit.
Menschen, die es auch zu schätzen wissen, dass dies ein Film ist, in dem immer alles möglich ist: Auch der größte Unsinn, auch die schlimmste Über­ra­schung,

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Der dritte ist mein größtes Versäumnis in diesem Jahr: Romería von Carla Simón. Den habe ich gesehen, aber ich war ihm in dem Augen­blick nicht gewachsen. Er hat mich gefesselt, aber ich war zu müde, um ihn richtig in mich aufzu­nehmen, und freue mich schon auf das Wieder­sehen beim Filmfest in München oder San Sebastian.

Denn wenige Filme­ma­che­rinnen erzählen gleich­zeitig derart smart und emotional und derart persön­lich, wie Simón. Die Geschichte, die die Regis­seurin in ihrem gefei­erten Debüt Sommer 1993 erzählte, war direkt auto­bio­gra­phisch, wie auch die in ihrem Cannes-Wett­be­werbs­bei­trag Romería, im Hinter­grund steht die persön­liche Kata­strophe, die Simón in ihrem Debüt erzählt. Im Fall von Alcarràs, für den sie den Goldenen Bären gewann, war der auto­bio­gra­phi­sche Bezug indi­rekter, aber auch da ging es um gestörte Fami­li­en­ver­hält­nisse und Geheim­nisse, darum, Tote und Untote zum Leben zu erwecken und die Dämonen, die Kinder quälen, zu bannen. Das Kino kann das leisten: Es kann Tote wieder­erwe­cken, es kann einen Exor­zismus mit den Mitteln des Fiktio­nalen voll­ziehen, der Schönheit und Schmerz in Balance bringt.

Erneut steht das Thema Familie im Mittel­punkt eines Films von Carla Simón. Diesmal geht es um die Familie, die Simón nie kennen­ge­lernt hat, über ihre Großel­tern väter­li­cher­seits. In Romería gibt es zwei Kameras und darum zwei Perspek­tiven: Die erste gehört der jungen Marina, die jene Orte erkundet, die ihr in der Kindheit verwehrt blieben. Mit dieser Kamera filmt sie das Meer, Boote, ein Gebäude, in dem angeblich ihre Eltern lebten, und eine Prozes­sion, in der sie eine volks­tüm­liche Wärme findet, die ihr Umfeld ihr nicht zu geben vermochte.
Mit der zweiten Kamera filmt Simón Marinas Spuren­suche. Ein bisschen erinnert dieser elabo­rierte Neorea­lismus, die Verschrän­kung von Phantasie und Cinéma Vérité, an das betörende Kino Alicia Rohr­wa­chers.

Spanische Freunde und Bekannte wiesen mich darauf hin, was sie in Romería alles entdecken – und es ist viel mehr, als was ich sehen kann: Die Textur der chao­ti­schen Jahre unmit­telbar nach der »Tran­si­ción«; jene Zeit, als das Heroin quasi auf der Straße lag, jeden­falls im Spanien der 80er; die Jahre, in denen die gali­cische Hafen­stadt Vigo nicht nur ein Hafen war, und nicht nur die Stadt des tollen, sehr spezi­ellen Fußball­clubs Celta, sondern auch jener Ort, an dem Siniestro Total »Bailaré sobre tu tumba« sangen und Os Resent­idos »Galicia caníbal«. Vigo sei die Haupt­stadt von Rockmusik und Heroin gewesen – bis Aids alles zum Schweigen brachte. Und schließ­lich war das Tagebuch der Mutter der Haupt­figur Marina das der realen Mutter von Carla Simón.

Ein rätsel­hafter, viel­schich­tiger Film, der noch genauer zu erkunden ist.

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Schließ­lich der rätsel­haf­teste, schwie­rigste Film: Resur­rec­tion vom Chinesen Bi Gan, dessen Long Day’s Journey Into Night von 2018 eines der großen unbe­kannten Kino-Meis­ter­werke der letzten Jahre ist.
Sein neuer Film ist eine weitere hypno­ti­sche Traum­reise, die die Zuschauer in Trance – oder am Ende des Cannes-Wett­be­werbs: in Schlaf – versetzte. Resur­rec­tion ist eine Geschichte, die in fünf Teilen erzählt wird; der letzte aller­beste Teil spielt 1999 Silvester und ist eine roman­ti­sche Vampir­ge­schichte. Die erste Episode verschmilzt Méliès mit Murnau, den Lumières... Es folgt der Film Noir, der Neorea­lismus, das Kino der Fünften Gene­ra­tion. Am Ende Wong Kar-wai.
Alles sieht wunder­schön aus, ist sinnlich, spielt mit den Mitteln und den Formen des Kinos im 20. Jahr­hun­dert und ist insofern auch ganz einfach eine Hommage an den Kinofilm an sich. Aber gleich­zeitig macht die Erzählung für mich auch keinen richtigen Sinn. Es sind Kino­kurz­ge­schichten, aufge­laden mit Bezügen und Verweisen, Fragmente einer Univer­sal­poesie des Kinos, Kino­ro­mantik. Jeden­falls habe ich die Handlung, wenn es eine durch­gän­gige gibt, nicht verstanden. Aber dies ist ein Film, über den das Nach­denken und innere Arbeiten lohnt – im Zwei­fels­fall wirkt er dann nach­voll­zieh­barer und ist zugleich selbst eine Kritik am begra­digten Main­stream.

So entfaltet sich ein traum­hafter, fanta­sie­voller Trip voller naiver Begeis­te­rung und melan­cho­li­schem Abgesang, der das filmische Imaginäre des 20. Jahr­hun­derts bewusst feiert und zu neuem Leben erwecken will. Und gleich­zeitig ist dies auch eine Reise ins chine­si­sche 20. Jahr­hun­dert, eine dysto­pi­sche Fabel, die visuell spek­ta­kulär ist, von elek­tri­sie­render ästhe­ti­scher Kraft und politisch virtuos und kühn, auch in seiner Lust am visuellen Exzess und amora­li­scher Handlung, am Barocken: Pathos und Melan­cholie feiern Hochzeit.
Eine wage­mu­tige, unkon­ven­tio­nelle und ambi­tio­nierte Film­kom­po­si­tion, die allein schon ausreicht, um ein ganzes Festival zu recht­fer­tigen.

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Über anderes habe ich schon ausführ­lich geschrieben. Darum abschließend nochmal, mal wieder zur Film­kritik.

Ich wurde darauf ange­spro­chen, dass meine Texte so viel offener und inter­es­santer seien als die der Konkur­renz. Das freut natürlich. Trotzdem möchte ich mir selbst, der ich ja auch Leser bin, gern erklären, woher denn diese Unter­schiede kommen. Ein paar Erklärungen habe ich natürlich schon.

Wie soll ich es aber hier sagen, ohne dass die Text­po­lizei mit dem Einsatz­wagen vorge­fahren kommt? Also so, ganz ohne Namens­nen­nungen (und ausdrück­lich: Ohne artechock-Autoren zu meinen, ich denke an andere): Ich schreibe meine Texte auch für Leser, die nicht das Film­fes­tival von Cannes besuchen. Das unter­scheidet mich, glaube ich, von einigen Kollegen und Kolle­ginnen, deren Texte so wirken, als wären sie nur für andere Film­kri­tiker geschrieben und viel­leicht noch für die Studenten, die in ihrem Seminar lernen sollen, was angeblich gute Film­kritik ist. Darum drückt man etwas, was man auch einfach sagen könnte, kompli­ziert aus. Darum benutzt man Fremd­worte, wo es auch ein deutsches Wort gäbe. Darum versäumt man, mindes­tens in einem Satz etwas über den Inhalt eines Films zu sagen. Darum hat man den grund­sätz­li­chen Gestus: Wir sind hier unter uns. In der warmen Filter­blase von Berlin.
Aber okay – es stimmt: Ich sollte hier kein Ressen­ti­ment entwi­ckeln. Außerdem wohne ich auch in Berlin. Leider.

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Das Poli­ti­sche, das sozial Nützliche oder gesell­schaft­lich Gewollte eines Films ist oft nur eine faule Ausrede, um auf verzwei­felte Weise Klarheit zu erreichen, wo Unklar­heit herrschen sollte. Um sich nicht auf das Diffuse, Flirrende, Frag­men­ta­ri­sche, Vage und Ambi­va­lente eines Films einzu­lassen.

Es ist unsere Aufgabe, aber genau darauf zu bestehen.