22.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Die Versteinerten

Alpha
Im roten Wind
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Julia Ducournau)

Julia Ducournau gibt der Aids-Pandemie ein spektakuläres Bildnis, vertraut aber sonst kaum auf die horrifizierende Wirkung ihrer Dystopie. Oder warum sonst tuned sie ihren Film so brachial auf?

Von Dunja Bialas

Sint­flut­ar­tiger Regen in Cannes. Vor den Kino­palästen stehen Straßen­händler und strecken einem Schirme entgegen. Ich nehme mir als Kopf­be­de­ckung lieber eine »Variety«, eines von den vielen hoch­glanz­ge­druckten, groß­for­ma­tigen Film­ma­ga­zinen, die hier täglich neu aufgelegt werden. In Cannes gibt es nicht nur den Luxus der Limou­sinen, des guten Essens und der schönen Körper; es gibt hier auch den Luxus der Presse und für die Presse: kosten­lose Print­ma­ga­zine, Espresso in verschie­denen Stär­ke­graden, fancy Soft­drinks und große Schreib­räume. Der Regen aber verändert alles, der graue Himmel liegt wie ein schwerer Deckel über Cannes, hätte Baude­laire geschrieben, le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle, das Village du festival mit den Ständen der Welt­ver­triebe ist verwaist. Die mit einemmal miss­ge­launten Türhüter verändern aus einer Laune heraus ihre Einlass-Policy und lassen niemanden mehr mit einem Rucksack in den Palais du Festival. Diskus­sionen im strö­menden Regen, »200 Leute«, kolpor­tiert A., mit Tickets werden abge­wiesen.

Das Wetter passt gut zum farb­ent­sät­tigten, apoka­lyp­ti­schen Alpha von Julia Ducournau, der in der Nacht zuvor Premiere hatte. Er gehört zu einem der meist­beäugten Filme im Wett­be­werb; schließ­lich hatte Ducournau vor vier Jahren triumphal die Goldene Palme für Titane abgeräumt, einen brutalen Film, der den Body Horror als pure Gewalt ausschüt­tete und am Schluss noch einmal großen Trost.

Wieder geht es um eine Tochter, wieder um eine Ur-Szene, an die der Film immer wieder zurück­kehrt. Die titel­ge­bende Figur Alpha (Mélissa Boros) erleben wir in zwei Zeit­ebenen, 1980, als sie 5 Jahre alt ist, und in der narra­tiven Jetztzeit, im Jahr 1990 – ein Kalender prangt einmal groß im Bild – als Teenager, sie ist 13. Sie lebt mit ihrer allein­er­zie­henden Mutter (Gols­hifteh Farahani) zusammen, die in der Wohnung auch ein cabinet de médecin hat. »Maman« (so ihr Rollen­name) ist Ärztin, exami­niert ihre Tochter und den Bruder. Amin ist hero­in­ab­häng, sucht Obdach bei seiner Schwester. Tahar Rahim verkör­pert ihn, spek­ta­kulär ausge­mer­gelt, 20 Kilo soll er für die Rolle abge­ma­gert haben, verraten die Produk­ti­ons­be­richte. Jetzt wird Amin von seiner Schwester der kalte Entzug verordnet, die ihn dafür bei der Tochter einquar­tiert.

Dies wiederum als logische Konse­quenz, denn auch sie kann das Zimmer nicht verlassen, weil sie sich vermut­lich ein tödliches Virus einge­fangen hat, nach einer bêtise auf einer Party, als sie sich voll­trunken hat ein Tattoo stechen lassen, mit einer Nadel, die nicht desin­fi­ziert war.

»A« prangt jetzt im Anarcho-Look auf ihrem Oberarm. Voraus­ge­gangen war ein heftiges Mobbing in der Schule, Angst vor dem Blut, das schwer aus dem schlecht verhei­lenden Tattoo tropfte, vor dem Blut, das sich im Schul­schwimmbad wie eine unheil­volle Wolke ausbreitet, als sie sich heftig den Kopf am Becken­rand stößt. Das Blut ist, klar, auch Symbol für die bald begin­nende Periode der Puber­tie­renden, auf der Skala von Coming-of-Age gelesen, die dieser Film, der aus der Perspek­tive der strau­chelnden Heran­wach­senden erzählt, natürlich auch bereit­hält.

Mehr noch aber geht es um eine allge­meine Tode­s­angst wie auch -sehnsucht. Das Kreischen der Kinder, die aufge­regten Eltern, die Stig­ma­ti­sie­rung (das Stigma trägt sie als Tattoo am Arm…), die Viren­tests, die tödliche Seuche, das Sterben der Infi­zierten: Julia Ducournau kehrt zurück in die Zeit der Aids-Angst, als HIV noch die Chiffre fürs Todes­ur­teil war, einer unheil­baren, unauf­halt­samen Krankheit. Wir bekommen die Stich­worte der doppelten Infi­zie­rung geliefert, sehen noch einmal die Angst vor dem harmlosen Speichel, sehen die Mutter, wie sie mit ihrer Tochter einen Blutspakt mit dem ange­sto­chenen Finger schließt: »Wenn du stirbst, will ich auch sterben.«

Vor das unglück­liche Tattoo jedoch, das Alpha womöglich die Infi­zie­rung gegeben hat (wir warten im Film auf das Test­er­gebnis), schaltet sich die Ur-Szene, zehn Jahre davor. Ihr Onkel, der Junkie, soll auf das kleine Mädchen aufpassen, diese sieht die tiefen Einstich­krater auf seinem Arm, verbindet sie mit einem Edding. So ist es schöner, sagt sie, bevor der Onkel sich seinen Drogen­träumen übergibt. Das dann aus schwarzen Linien gezogene Tattoo ist dafür natürlich ein Echo.

So weit, so okay. Als würde aber das beun­ru­hi­gende Zutaten-Arsenal nicht reichen – die Hero­in­ab­hän­gig­keit mit den Spritzen, der ausge­mer­gelte Körper von Amin, der sich unter dem kalten Entzug grotesk windet und das Gesicht unter seiner Todes­sehn­sucht zur Grimasse verzerrt, das Stechen des Tattoos, das Blut, das sich ausbreitet, die gemeinen Kinder, das Isoliert­werden, die Angst vor der Seuche – als würde all das nicht reichen, muss Ducournau unbedingt noch einen drauf­legen. Sie tuned ihre Insze­nie­rung auf, ständig und permanent, durch eine Klavier­in­ter­pre­ta­tion von Beet­ho­vens Siebter, die sich überlaut über die Szenen gießt, ihnen Aufge­regt­heit einhäm­mert, ein pein­li­ches, weil aufge­setztes Crescendo gibt, während die Bilder irrelaufen dürfen. Wind schlägt die Fenster auf, Regen peitscht, es ist das erzählte Delirium von Alpha, die über eine Bauleiter aus ihrem Kinder­zimmer fliehen will, vor der Mutter, die sie anschei­nend nicht liebt, die sie mit einem Junkie allein lässt.

Die dyspho­ri­sche Gegenwart erzählt Ducournau in durchaus ange­brachter, aber ermü­dender Farb­ent­sät­ti­gung, alles ist bläulich und gräulich, die Lippen der Tochter fahl. Das Todge­weiht­sein ist allge­gen­wärtig, der Kampf mit den Todes­ge­danken, der Cold Turkey von Amin. Immer wieder aber büxt sie aus, dann dürfen die Gefühle auch irgendwie befreit wirken, was wieder mit großer Musik unterlegt wird. Über ein Fußball­spiel, in dem Alpha sich auf den Platz gemischt hat, breitet sich laut und lauter »The Mercy Seat« aus, Nick Cave singt weiter in der Szene, in der sie körper­lich in der Disko tanzen, es geht wieder zurück zum Fußball, immer noch singt Nick Cave, And the mercy seat is waiting/ And I think my head is burning/ And in a way I’m yearning/ To be done with all this measuring of proof.

Es bleibt als das Spek­ta­kuläre des Films natürlich die Visua­lität, die Ducournau der Seuche gegeben hat. Wer vom Virus infiziert wird, wird allmäh­lich zu Marmor. Kurz vor dem Tod sähen sie wie Michel­an­gelos Skulp­turen aus, wird ihnen gesagt, und der ausge­mer­gelte Amin ist tatsächich ein wunder­schöner David.

Von HIV oder Aids ist selbst­ver­s­tänd­lich kein einziges Mal die Rede, trotzdem lässt sich davon kaum abstra­hieren. Die sich in Marmor­skulp­turen und Gisants verwan­delnden Kranken sind Grabmale für die Toten der Seuche, die ihre Opfer in den Homo­se­xu­ellen und Hero­in­ab­hän­gigen fand. Und der Film das Epitaph, das ihnen Ducournau geschrieben hat.

Aber, noch einmal, als würde all das noch nicht reichen, öffnet Ducournau noch das Mytho­logem des »Roten Windes«, das sie in der maghre­bi­ni­schen Familie von Alphas Mutter findet. Sie versuchen den Fluch mit Wasser rein­zu­wa­schen. Womöglich ist dies eine Ausein­an­der­set­zung mit dem west­li­chen »Sodom und Gomorra« und der Dekadenz und Entfrem­dung der Emigranten von ihren Wurzeln – Alpha ist der maghre­bi­ni­schen Sprache nicht mächtig. Viel­leicht ist das aber auch nur leerer Exotismus.

So haucht Alpha letztlich nur Staub aus, wie die Marmor­körper, wenn sie versuchen zu atmen.