78. Filmfestspiele Cannes 2025
Die Versteinerten |
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Im roten Wind | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Julia Ducournau) |
Von Dunja Bialas
Sintflutartiger Regen in Cannes. Vor den Kinopalästen stehen Straßenhändler und strecken einem Schirme entgegen. Ich nehme mir als Kopfbedeckung lieber eine »Variety«, eines von den vielen hochglanzgedruckten, großformatigen Filmmagazinen, die hier täglich neu aufgelegt werden. In Cannes gibt es nicht nur den Luxus der Limousinen, des guten Essens und der schönen Körper; es gibt hier auch den Luxus der Presse und für die Presse: kostenlose Printmagazine, Espresso in verschiedenen Stärkegraden, fancy Softdrinks und große Schreibräume. Der Regen aber verändert alles, der graue Himmel liegt wie ein schwerer Deckel über Cannes, hätte Baudelaire geschrieben, le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle, das Village du festival mit den Ständen der Weltvertriebe ist verwaist. Die mit einemmal missgelaunten Türhüter verändern aus einer Laune heraus ihre Einlass-Policy und lassen niemanden mehr mit einem Rucksack in den Palais du Festival. Diskussionen im strömenden Regen, »200 Leute«, kolportiert A., mit Tickets werden abgewiesen.
Das Wetter passt gut zum farbentsättigten, apokalyptischen Alpha von Julia Ducournau, der in der Nacht zuvor Premiere hatte. Er gehört zu einem der meistbeäugten Filme im Wettbewerb; schließlich hatte Ducournau vor vier Jahren triumphal die Goldene Palme für Titane abgeräumt, einen brutalen Film, der den Body Horror als pure Gewalt ausschüttete und am Schluss noch einmal großen Trost.
Wieder geht es um eine Tochter, wieder um eine Ur-Szene, an die der Film immer wieder zurückkehrt. Die titelgebende Figur Alpha (Mélissa Boros) erleben wir in zwei Zeitebenen, 1980, als sie 5 Jahre alt ist, und in der narrativen Jetztzeit, im Jahr 1990 – ein Kalender prangt einmal groß im Bild – als Teenager, sie ist 13. Sie lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter (Golshifteh Farahani) zusammen, die in der Wohnung auch ein cabinet de médecin hat. »Maman« (so ihr Rollenname) ist Ärztin, examiniert ihre Tochter und den Bruder. Amin ist heroinabhäng, sucht Obdach bei seiner Schwester. Tahar Rahim verkörpert ihn, spektakulär ausgemergelt, 20 Kilo soll er für die Rolle abgemagert haben, verraten die Produktionsberichte. Jetzt wird Amin von seiner Schwester der kalte Entzug verordnet, die ihn dafür bei der Tochter einquartiert.
Dies wiederum als logische Konsequenz, denn auch sie kann das Zimmer nicht verlassen, weil sie sich vermutlich ein tödliches Virus eingefangen hat, nach einer bêtise auf einer Party, als sie sich volltrunken hat ein Tattoo stechen lassen, mit einer Nadel, die nicht desinfiziert war.
»A« prangt jetzt im Anarcho-Look auf ihrem Oberarm. Vorausgegangen war ein heftiges Mobbing in der Schule, Angst vor dem Blut, das schwer aus dem schlecht verheilenden Tattoo tropfte, vor dem Blut, das sich im Schulschwimmbad wie eine unheilvolle Wolke ausbreitet, als sie sich heftig den Kopf am Beckenrand stößt. Das Blut ist, klar, auch Symbol für die bald beginnende Periode der Pubertierenden, auf der Skala von Coming-of-Age gelesen, die dieser Film, der aus der Perspektive der strauchelnden Heranwachsenden erzählt, natürlich auch bereithält.
Mehr noch aber geht es um eine allgemeine Todesangst wie auch -sehnsucht. Das Kreischen der Kinder, die aufgeregten Eltern, die Stigmatisierung (das Stigma trägt sie als Tattoo am Arm…), die Virentests, die tödliche Seuche, das Sterben der Infizierten: Julia Ducournau kehrt zurück in die Zeit der Aids-Angst, als HIV noch die Chiffre fürs Todesurteil war, einer unheilbaren, unaufhaltsamen Krankheit. Wir bekommen die Stichworte der doppelten Infizierung geliefert, sehen noch einmal die Angst vor dem harmlosen Speichel, sehen die Mutter, wie sie mit ihrer Tochter einen Blutspakt mit dem angestochenen Finger schließt: »Wenn du stirbst, will ich auch sterben.«
Vor das unglückliche Tattoo jedoch, das Alpha womöglich die Infizierung gegeben hat (wir warten im Film auf das Testergebnis), schaltet sich die Ur-Szene, zehn Jahre davor. Ihr Onkel, der Junkie, soll auf das kleine Mädchen aufpassen, diese sieht die tiefen Einstichkrater auf seinem Arm, verbindet sie mit einem Edding. So ist es schöner, sagt sie, bevor der Onkel sich seinen Drogenträumen übergibt. Das dann aus schwarzen Linien gezogene Tattoo ist dafür natürlich ein Echo.
So weit, so okay. Als würde aber das beunruhigende Zutaten-Arsenal nicht reichen – die Heroinabhängigkeit mit den Spritzen, der ausgemergelte Körper von Amin, der sich unter dem kalten Entzug grotesk windet und das Gesicht unter seiner Todessehnsucht zur Grimasse verzerrt, das Stechen des Tattoos, das Blut, das sich ausbreitet, die gemeinen Kinder, das Isoliertwerden, die Angst vor der Seuche – als würde all das nicht reichen, muss Ducournau unbedingt noch einen drauflegen. Sie tuned ihre Inszenierung auf, ständig und permanent, durch eine Klavierinterpretation von Beethovens Siebter, die sich überlaut über die Szenen gießt, ihnen Aufgeregtheit einhämmert, ein peinliches, weil aufgesetztes Crescendo gibt, während die Bilder irrelaufen dürfen. Wind schlägt die Fenster auf, Regen peitscht, es ist das erzählte Delirium von Alpha, die über eine Bauleiter aus ihrem Kinderzimmer fliehen will, vor der Mutter, die sie anscheinend nicht liebt, die sie mit einem Junkie allein lässt.
Die dysphorische Gegenwart erzählt Ducournau in durchaus angebrachter, aber ermüdender Farbentsättigung, alles ist bläulich und gräulich, die Lippen der Tochter fahl. Das Todgeweihtsein ist allgegenwärtig, der Kampf mit den Todesgedanken, der Cold Turkey von Amin. Immer wieder aber büxt sie aus, dann dürfen die Gefühle auch irgendwie befreit wirken, was wieder mit großer Musik unterlegt wird. Über ein Fußballspiel, in dem Alpha sich auf den Platz gemischt hat, breitet sich laut und lauter »The Mercy Seat« aus, Nick Cave singt weiter in der Szene, in der sie körperlich in der Disko tanzen, es geht wieder zurück zum Fußball, immer noch singt Nick Cave, And the mercy seat is waiting/ And I think my head is burning/ And in a way I’m yearning/ To be done with all this measuring of proof.
Es bleibt als das Spektakuläre des Films natürlich die Visualität, die Ducournau der Seuche gegeben hat. Wer vom Virus infiziert wird, wird allmählich zu Marmor. Kurz vor dem Tod sähen sie wie Michelangelos Skulpturen aus, wird ihnen gesagt, und der ausgemergelte Amin ist tatsächich ein wunderschöner David.
Von HIV oder Aids ist selbstverständlich kein einziges Mal die Rede, trotzdem lässt sich davon kaum abstrahieren. Die sich in Marmorskulpturen und Gisants verwandelnden Kranken sind Grabmale für die Toten der Seuche, die ihre Opfer in den Homosexuellen und Heroinabhängigen fand. Und der Film das Epitaph, das ihnen Ducournau geschrieben hat.
Aber, noch einmal, als würde all das noch nicht reichen, öffnet Ducournau noch das Mythologem des »Roten Windes«, das sie in der maghrebinischen Familie von Alphas Mutter findet. Sie versuchen den Fluch mit Wasser reinzuwaschen. Womöglich ist dies eine Auseinandersetzung mit dem westlichen »Sodom und Gomorra« und der Dekadenz und Entfremdung der Emigranten von ihren Wurzeln – Alpha ist der maghrebinischen Sprache nicht mächtig. Vielleicht ist das aber auch nur leerer Exotismus.
So haucht Alpha letztlich nur Staub aus, wie die Marmorkörper, wenn sie versuchen zu atmen.