22.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Die Geister der Vergangenheit

A pale view of hills
A pale view of hill: Ohne Spektakel, aber mit Nachhall.
(Foto: Filmfestival Cannes)

Engel und Teufel der Geschichte: »A pale view of hills« von Kei Ishikawa, »O agente secreto« von Kleber Mendonça Filho, »Das Verschwinden von Josef Mengele« von Kirill Serebrennikov und »Nouvelle Vague« von Richard Linklater sind die Filme, auf die wir gewartet haben – Cannes-Tagebuch, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herr­schenden über die dahin­führt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitge­führt. Man bezeichnet sie als die Kultur­güter. Sie werden im histo­ri­schen Mate­ria­listen mit einem distan­zierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kultur­gü­tern über­blickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.«
– Walter Benjamin

»Nous allons parler de fort vilaines choses«
– Stendhal, »Die Karthause von Parma« (das Zitat war das Motto des Drehbuchs von »Außer Atem«)

»Tu n’as rien vu à Hiroshima!«
– Alain Resnais: »Hiroshima Mon Amour«

Es sind die Blicke, die einen mitreißen. Ein kurzes Erstarren im Gesicht einer jungen Frau, die Trau­rig­keit eines kleinen Mädchens, der Augen­blick des Verste­hens zwischen zwei Müttern.

A pale view of hills von Kei Ishikawa ist, obschon in einer Neben­reihe, einer der besten Filme im dies­jäh­rigen Cannes-Programm. Ein herz­zer­reißendes Melodram mit vielen genuin visuellen, filmi­schen Quali­täten: Präzisen Einstel­lungen, betontem Farb­ein­satz, sugges­tiver Montage, film­his­to­ri­schen Refe­renzen, und einer achro­no­lo­gi­schen Erzähl­weise.

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Was die Kame­rafüh­rung betrifft, für die der polnische Kame­ra­mann Piotr Niemyjski mitver­ant­wort­lich ist, erinnert vieles, ästhe­tisch und in seiner Refe­renz­struktur, an das Kino des groß­ar­tigen Yasujirō Ozu. Das liegt insbe­son­dere an der ruhigen Bild­ge­stal­tung: die Kamera auf der Höhe von sitzenden Personen, Schnitte im Moment der Bewegung – etwa, wenn jemand aufsteht oder sich eine Jacke anzieht.

Doch die Insze­nie­rung geht über diese visuelle Reduktion hinaus und strebt nach einer tiefer­ge­henden Bedeutung – nicht nur in alltäg­li­chen Details, sondern in einer umfas­sen­deren, zeitlich und räumlich erwei­terten Perspek­tive, durch das Hin- und Herpen­deln zwischen zwei Zeit­ebenen und den Wechsel von Nah- zu Groß­auf­nahmen. Besonders hervor­zu­heben ist dabei die sensible histo­ri­sche Rekon­struk­tion, bei der liebevoll gestal­tete Innen­räume mit post­kar­tenähn­li­chen Außen­auf­nahmen kombi­niert werden.

Aller­dings setzt der Film zunehmend auf harte Schnitte, und verschiebt, je drama­ti­scher die Film­hand­lung wird, auch den Stil des Films in Richtung Melodram, sodass man eher an das japa­ni­sche Kino der 1960er Jahre denken kann, etwa an Regis­seure wie Mikio Naruse oder Shōhei Imamura.

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Die grausame Entschei­dung, am 9. August 1945 eine Atombombe auf Nagasaki abzu­werfen – nur drei Tage nach dem Tabubruch von Hiroshima –, wirkt über die unmit­tel­baren Todes­opfer und andere Zers­törungen noch jahrelang nach – in diesem Fall vor allem durch die psychi­schen und physi­schen Auswir­kungen der Bomben­ab­würfe auf ein ganzes Volk, durch ein kollek­tives Trauma, das aber insbe­son­dere die direkt betrof­fenen Bewohner der zwei Städte traf.
Die Über­le­benden, auch wenn sie nicht unmit­telbar strah­len­ge­schä­digt wurden, sind gezeich­nete Menschen. Die kollek­tive Wunde von Hiroshima und Nagasaki heilte auch mit den Jahr­zehnten nicht.

Sie steht im Zentrum des Films von Kei Ishikawa, basierend auf dem Debü­t­roman A Pale View of Hills von Kazuo Ishiguro, der die japa­ni­sche Nach­kriegs­zeit in Nagasaki in den 1950er Jahren mit dem Schicksal einiger ihrer Bewohner verbindet.

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Die Handlung ist nur scheinbar banal: Sieben Jahre nach Kriegs­ende freunden sich zwei Frauen aus Nagasaki mitein­ander an. Sie stammen aus unter­schied­li­chen sozialen Verhält­nissen, aber sie erkennen in sich eine Wahl­ver­wandt­schaft und immer größere Ähnlich­keiten. Die eine, eine ausge­grenzte Allein­er­zie­hende, hat bereits eine kleine etwa fünf­jäh­rige Tochter, die andere, Etsuko (Suzu Hirose, Haupt­dar­stel­lerin in Hirokatsu Kore-edas Unsere kleine Schwester), die eigent­liche Haupt­figur, ist gerade mit ihrem ersten Kind schwanger.

Im Zentrum steht das Motiv der unzu­ver­läs­sigen Erin­ne­rung. Ishikawa verleiht dem Film zunehmend eine traumähn­liche Anmutung – als sähen wir einen Film im Film. Details wirken überhöht, die Beleuch­tung ist deutlich inten­siver. Das vermit­telt das Gefühl, dass das, was wir sehen, nicht ganz der Realität entspricht.
Statt Erin­ne­rung als nüch­ternes Protokoll der Fakten darzu­stellen, formt Ishikawa sie zu einem Mosaik aus leuch­tenden Frag­menten und bedeu­tungs­schwan­geren Leer­stellen. Sepia-getönte Rück­blenden wirken wie halb erinnerte Träume – Nebel über Pinien, Silhou­etten von Lehrern, die vorsich­tigen Blicke eines verbrannten Kindes.

Verstärkt wird dies durch die offenen Zitate einiger Film­erzäh­lungen des »Hibakusha cinema«, des japa­ni­schen Kinos über die Atombombe und deren Über­le­benden, die »Hibakusha«, das bereits unmit­telbar nach Ende der US-Mili­tär­zensur, 1952 – genau im Jahr, in dem dieser Film spielt – einsetzte. Besonders Kaneto Shindos Children of Hiroshima (1952) wird offen visuell zitiert, in jener berühmten Szene, in der eine Lehrerin – Etsuko ist auch Musik­leh­rerin – vier Jahre nach dem Krieg in ihren Ferien nach Hiroshima zurück­kehrt. Als sie ein silber-strah­lendes Flugzeug am Himmel sieht, hält die Haupt­figur kurz erstarrt inne, während der Junge begeis­tert zum Himmel blickt. Das ist eine erschüt­ternde Remi­nis­zenz an die »Enola Gay«, die die Bewohner Hiro­shimas am Morgen des 6. August 1945 ähnlich staunend am wolken­losen Himmel betrach­teten.

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»Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Über­lie­fe­rung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der histo­ri­sche Mate­ria­list rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.«
– Walter Benjamin

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Die aller­erste Szene von O agente secreto (»The Secret Agent«) von Kleber Mendonça Filho spielt an einer Esso-Tank­stelle. Vor dieser liegt ein toter Mann, lose bedeckt mit ein paar Zeitungen. Seit Tagen ist das so, die Hunde nagen schon an ihm.
Es ist Karneval, und die Polizei hatte bisher keine Zeit, die Leiche zu bergen. Während der Feiern gibt es viele Tote, und in den Kinos der Küsten­stadt Recife ,in der der Film zum größten Teil spielt, läuft Spiel­bergs Der weiße Hai. In den Zeitungen ist zur gleichen Zeit von einem Hai die Rede, in dessen Magen ein männ­li­ches Bein gefunden wurde – offen­sicht­lich Überreste eines Mord­op­fers. Die Polizei ermittelt. Und eben dieses Bein, das irgend­wann aus der Patho­logie der Stadt verschwinden wird und allein durch die Stadt wandern, dort die Paare, die sich im Park zum Gele­gen­heitssex treffen, stören, und auch sonst eine seltsam mythische Macht demons­trieren... Eines jener »geis­ter­haften Bilder«, die der Regisseur bereits in seinem vorhe­rigen Film Retratos fantasmas von 2023 beschwor, in dem er wie ein Archäo­loge den Über­resten der meist verschwun­denen Film­paläste in seiner Heimat­stadt nach­spürte.

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Die Vergan­gen­heit wirkt wie Traum und Albtraum zugleich, wie eine verschwom­mene, kitschige Erin­ne­rung einer­seits und wie ein Horror­bild.

O agente secreto, der nichts mit einem Geheim­agenten, oder Spionage zu tun hat und schon gar nichts mit Joseph Conrads Roman »The Secret Agent«, wie ich noch in Deutsch­land zunächst dachte, spielt in Recife im Jahr 1977.

Der Regisseur beschwört diese Zeit sehn­suchts­voll und in pulsie­rendem Takt, mit stimmigen 70er-Jahre-Elementen in vielen Schichten aus Stil, Format und Farb­ge­bung (einschließ­lich des Scope-Formats), in Mode und vielen Pop-Verweisen, etwa des Horror-B-Movies, der im Kino zu sehenden Filme von (u.a.) John Carpenter, Brian De Palma, Mario Bava und Richard Donners Das Omen – alles mit bewun­derns­wertem Gespür und einer bemer­kens­werten Fähigkeit, unter­schied­lichste Ausdrucks­formen zu vereinen.

Er tut das ein bisschen nost­al­gisch, aber zugleich erkennbar vom Wunsch getragen, Verklärungen zu vermeiden. Denn es herrscht noch immer jene brutale, nur notdürftig zivil verbrämte Mili­tär­dik­tatur, von der Walter Salles zuletzt in I’m Still Here erzählte.

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Mendonça Filhos Film beginnt damit, dass in der erwähnten, einsamen Tank­stelle mitten am Tag ein quietsch­gelber VW Käfer hält. Nicht nur durch die eher beiläufig vorhan­dene Leiche ist von Anfang an etwas Bedroh­li­ches in der Luft. Der Regisseur macht sofort klar, dass hier ein eigen­wil­liger poli­ti­scher Thriller beginnt, der zugleich die histo­ri­sche Vergan­gen­heit wie die univer­selle kollek­tive Prägung Brasi­liens neu beleuchtet.

Die Ankunft des Käfers ist auch der Auftritt der Haupt­figur: Marcelo (einneh­mend und konzen­triert gespielt von Wagner Moura) ist ein Mann, der vor einer Geschichte flieht, und zugleich versucht, sich einer noch weiter zurück­lie­genden Vergan­gen­heit, die seine eigene Familie betrifft, zu stellen, sie zu erfor­schen.
Während seiner Fahrt nach Recife und den Tagen dort, die Flucht und Suche zugleich sind, begegnet er einer Reihe von Menschen, deren Spuren und Geschichte ausgelöscht werden sollten. Und den Schergen der Macht, die ohne Moral zu jedem Preis das Töten zum Handwerk gemacht haben.

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O agente secreto ist – wie zuvor Aquarius (2016) und Bacurau (2019) – eine Parabel für die Wunden des Landes. Mendonça zeigt uns ein Land im Ausnah­me­zu­stand des Karnevals, in dessen Innerem die eiserne Hand der brasi­lia­ni­schen Diktatur weiterhin wirkt: Lebens­läufe werden umge­schrieben, Korrup­tion herrscht in den Macht­struk­turen, und eine alte Dame, die noch im Spani­schen Bürger­krieg gekämpft hat und von sich erzählt, sie sei »zuerst Kommu­nistin und dann Anar­chistin gewesen – oder umgekehrt«, leitet ein Haus als Zuflucht für Verfolgte. Die Geister der Vergan­gen­heit nisten sich in die Gegenwart ein, wie in einem B-Movie, in dem das Verdrängte, mate­ria­li­siert zu einem Monster, zurück­kehrt.

Es steht im Dialog mit den Boule­vard­ma­ga­zinen, die dem alltäg­li­chen Horror täglich neue Namen geben. Genauso mit den Double Features, die in den Kinos der Stadt gezeigt werden, und das Glück des Augen­blicks im Schre­ckens­schrei sich ausdrückt, in dem Erwach­sene zu Kindern werden und zu Flüch­tigen aus der Geschichte.

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Mendonça erzählt von der Vergan­gen­heit seines Landes, um die Wunden der Gegenwart zu verstehen, die im Rück­wärts­gang in die Geschichte zum Vorschein kommen.

Er ruft die Verlet­zungen ins Gedächtnis, und findet so zu einer dichten Erzählung über die vergos­senen Ströme von Blut und die Schmer­zens­schreie der Menschen, aus denen geformt ist, was wir Geschichte nennen.

Mendonças Kino ist frag­men­ta­risch, sprung­haft, unrein, rauh, dem »guten schlechten Geschmack« unbedingt verpflichtet erscheinen – aber es ist auch voller tiefen Gefühls, sinnlich, erfüllt von Liebe, sogar der perversen Liebe zu den Killern, die das Morden zur hedo­nis­ti­schen Kunst gemacht haben.
Und nicht zuletzt steht es in glas­klarem Gegensatz zu der akade­mi­schen Haltung von Walter Salles, dessen gutem I’m Still Here dieser Film seine Grenzen aufzeigt.
Mendonça lässt uns teilhaben an einer span­nungs­ge­la­denen, karne­val­esken Entladung, in der der Todes­trieb am Ende von der Lebens­lust besiegt wird, das Weinen vom Lachen und der Hass von der Liebe.

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Dies ist der Film, auf den wir gewartet haben, der Film des Cannes-Wett­be­werbs 2025!

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Im Epilog des Films, der 50 Jahre später im Heute spielt, will eine Studentin mit Hilfe von Archi­va­lien heraus­finden, was damals genau geschehen ist. Doch die Geschichte lässt sich nicht abschließen, auch das ist die Lehre – was bleibt, sind Repres­sion und Leiden, ist ein großes Blutbad, das bis heute in neuen Gestalten weiter­geht.
Auch darum spielt die aller­letzte Szene von O agente secreto in einer Blutbank. Sie steht genau an dem Ort in Recife, wo einst das alte Kino lag, in dem zentrale Teile des Films spielen.

Eine Trans­fu­sion – und ein Vampi­rismus – anderer Art.

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Kürzer hier noch zu zwei Filmen, über die wir in den nächsten Tagen noch ausführ­li­cher schreiben: Warum hat sich der russische Dissident und groß­ar­tige Filme­ma­cher Kirill Sere­bren­nikov ausge­rechnet dem Schicksal von Josef Mengele in einem Film gewidmet: Das Verschwinden des Josef Mengele.

Die Geschichte von Mengele und seinem Verschwinden aus den Augen der Öffent­lich­keit und vor allem vor denen, die ihn vor einem ordent­li­chen Gericht zur Verant­wor­tung für seine Taten als Lagerarzt in Auschwitz ziehen wollten, ist kompli­ziert.

Lassen wir hier einmal die Geschichte der Nazi-Netzwerke nach dem Krieg beiseite, jener berühmten »Ratten­linie« nach Latein­ame­rika, genauso wie die braun durch­tränkten Gesell­schafts­ver­hält­nisse der ersten Jahr­zehnte der Bundes­re­pu­blik, die NS-Konti­nui­täten insbe­son­dere in der deutschen Industrie, ebenso wie die Verhält­nisse jener latein­ame­ri­ka­ni­schen Staaten, vor allem Mili­tär­dik­ta­turen in Argen­ti­nien, Brasilien, Chile und Paraguay, sowie andere ebenfalls in Latein­ame­rika unter­ge­kom­mene NS-Gestalten wie Adolf Eichmann oder der Ritter­kreuz­träger Hans-Ulrich Rudel. Alles dies wird hier am Rande mit erzählt und gestreift.

Sere­bren­nikov geht es um die Figur selbst, um den Menschen Mengele. Mengele war, jeden­falls so wie ihn der Regisseur in seinem Film zeichnet, eine durch und durch wider­wär­tige, abstoßende Figur – und das nicht allein wegen seiner Taten, die in ihrer Mons­tro­sität jeder möglichen Beschrei­bung spotten. Er war dies auch wegen der Gewis­sen­lo­sig­keit, mit der Mengele danach weiter­lebte, weiter­leben konnte, wegen dem Unwillen, sich auch nur ein kleines Bisschen der eigenen Verant­wor­tung zu stellen, wegen seines hass­durch­tränkten Charak­ters, ein Mensch, der Gift und Galle spuckte, anti­se­mi­ti­sche und rassis­ti­sche und anti­west­liche Phrasen im Minu­ten­takt von sich gab. Mengele war ein mensch­li­ches Monster, ein böser Mensch – und gleich­zeitig war er, auch hier wieder im Blick des Regis­seurs, ein von Angst durch und durch erfülltes Wesen.

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Im Jahr 2017 stellte der fran­zö­si­sche Schrift­steller Olivier Guez die Frage, wie es möglich war, dass ein gesuchter Nazi und einer der berüch­tigtsten Verbre­cher von Auschwitz jahr­zehn­te­lang unter falschen Namen im Unter­grund leben konnte, ohne entdeckt zu werden, und erst Jahre nach seinem Tod enttarnt wurde. »The Disap­pearance of Josef Mengele« gibt eine Reihe von Antworten auf diese Frage und zeichnet zugleich eine Karto­gra­phie der Orte und Tarnnamen, in denen dieser Arzt Unter­schlupf gefunden hatte.
Sere­bren­nikov knüpft mit diesem Film an sein vorhe­riges Werk Limonov und die dortige Annähe­rung an eine extreme Figur an. Sere­bren­nikov insze­niert hier zurück­hal­tender als in anderen Filmen. Man vermisst beinahe die visuellen Exzesse, für die er bekannt wurde. Auch August Diehl nähert sich der komplexen Persön­lich­keit Mengeles eindrucks­voll an, versucht sie darstel­le­risch zu erfassen – aber die Mons­tro­sität siegt, und Mengele und seine Taten bleiben in diesem hervor­ra­genden, hoch­in­ter­es­santen, stel­len­weise fesselnden Film trotz allem: Unfassbar.

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Kein anderer US-ameri­ka­ni­scher Filme­ma­cher steht dem Geist der Nouvelle Vague näher als der Regisseur von Before Sunset, einer bewusst rohme­resken Passage durch die Straßen von Paris, die fast in Echtzeit erzählt ist. Ganz abgesehen von den zahllosen Anspie­lungen in seiner übrigen Filmo­gra­phie auf das kritische, theo­re­ti­sche und cinephile Umfeld, dem letztlich À bout de souffle (»Außer Atem«) entstammt. Es ist daher geradezu exem­pla­risch folge­richtig, dass Link­la­ters filmi­scher Weg nun zu jenem Grün­dungs­film zurück­kehrt, dessen Erscheinen 1959 symbo­lisch die Geburt der filmi­schen Moderne einlei­tete.

Zu Godard zurück­zu­kehren ist aller­dings kein leichtes Unter­fangen – ganz im Gegenteil. Das zeigt sich an der uner­träg­li­chen Albern­heit, die 2017 Godard Mon Amour darstellte – ein Werk, an das man sich nur mit Grauen erinnert. Zum Glück entspringt Link­la­ters Zugang zu einem so entschei­denden Film der Kino­ge­schichte einer aufrich­tigen Bewun­de­rung für dessen offene, einfalls­reiche, leichte und zutiefst freie Natur und einem Vers­tändnis für die Umstände. Es handelt sich bei Nouvelle Vague somit um eine Art »Retro-Making-of«, gefilmt in Schwarz-Weiß, im quadra­ti­schen Format und auf Fran­zö­sisch.

Drama­tur­gisch gibt es daher weder Spannung noch Drama, sondern eine Abfolge von Anekdoten – allesamt explizit cinephil, wohl­be­kannt und ohne jeglichen histo­rio­gra­phi­schen oder theo­re­ti­schen Anspruch – die das Zustan­de­kommen des Projekts und dessen Entste­hung schildern. Hinzu kommt die bekannte groß­ar­tige Sprüche­klop­ferei Godards: »Conti­nuity is not reality«; »Ein Regisseur strebt immer nach intel­lek­tu­eller und mora­li­scher Anarchie«; »Wahre Kunst ist entweder Plagiat oder Revo­lu­tion.« usf.

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Der Film zeigt Jean Luc Godard als sympa­thi­schen Menschen – über­ra­schen­der­weise. Er zeigt ihn auch als das Genie, das er war: Einer der selbst­be­wusst und lässig gedreht hat, der mehr wusste und schneller dachte als andere, und trotzdem ein guter Freund war – für manche seiner Wegge­fährten bis zum Schluss. Er zeigt, wie notwendig Streit und Kämpfe sind, dass sie aber nur dann produktiv sein können, wenn sie auf einer gemein­samen Basis ausge­tragen werden, einer intel­lek­tu­ellen, einer mora­li­schen aber vor allem einer persön­li­chen freund­schaft­li­chen Basis.

Linklater stützt sich auf eine sorg­fäl­tige und faszi­nie­rende Casting-Arbeit. Die Schau­spieler, die Jean-Luc Godard, François Truffaut, Claude Chabrol, Suzanne Schiffman, Jean Seberg, Jean-Paul Belmondo, Raoul Coutard oder Pierre Braun­berger verkör­pern, sind keine Stars – aber sie ähneln ihren realen Vorbil­dern deutlich. Linklater macht keinen Hehl daraus, wer wer ist, und würzt die erste Hälfte des Films mit zahl­rei­chen char­manten Anspie­lungen. Neben den Mitglie­dern der Nouvelle Vague treten auch deren künst­le­ri­sche »Väter« auf: Roberto Rossel­lini und Jean-Pierre Melville.

Eine glück­liche Mischung aus cine­philer Verehrung und augen­zwin­kernder Ironie durch­zieht die Dialoge, und macht aus diesem Film ein großes Vergnügen. Eine extrem unter­halt­same, nur dezent hagio­gra­phi­sche Hommage an das fran­zö­si­sche Kino, aber nicht nur an das fran­zö­si­sche, sondern überhaupt das, was am Kino glücklich machen kann, und uns immer wieder glücklich macht.
Dieser Film könnte sogar ein guter Kompro­miss sein, wenn sich die Jury nicht auf einen anderen Film für die Goldene Palme einigen können sollte. Verdient hätte es Linklater und hätte es die Nouvelle Vague auf alle Fälle.

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1959 gelang es Jean Luc Godard, eine Revo­lu­tion zu initi­ieren. 2025 begnügt sich Richard Linklater mit einem Palim­psest – denn er kann, und will, keine Revo­lu­tion mehr voll­ziehen. Dass er das nicht will, ist noch das größere Problem.

Insgesamt belegt der dies­jäh­rige Wett­be­werb von Cannes, dass das Gegen­warts­kino in einer massiven Krise steckt.

Ihm fehlen in seiner Gesamt­heit – einzelne Ausnahmen lassen wir jetzt einfach mal weg – Einfalls­reichtum und Kunst­wille, Intel­lek­tua­lität und Mut. Das Kino der Gegenwart ist normiert, weil es sich normieren lässt, weil es Normie­rung insgeheim für nötig hält, weil es die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggressor vollzieht. Weil es in seinem Denken, in seinen Erwar­tungen, in seinem Geschmack, in seinen Blicken auf die Welt selbst normiert ist.
Weil es im Kern selbst erzkon­ser­vativ ist und die Welt erhalten will, wie sie ist: Demo­kra­tisch, liberal, in Wohl­stands­ver­hält­nissen, Ibiza-Kurztrips und Toskana-Urlauben, Airbnb-Wohnungen, die auf Apple Computern gebucht werden.

Einer wirk­li­chen Revo­lu­tion steht all das natürlich im Wege. Sie wird deswegen nicht vom Kino kommen, sondern von Außen. Revo­lu­tion will be televised, but it will not be a TV event.

Erst wenn das Kino seinen Konser­va­tismus abwirft, und ihm Verän­de­rung und Revolte nicht mehr nur eine Stil-Geste oder ein Instagram-Post sind, wird die Revo­lu­tion, und sei es nur eine ästhe­ti­sche, statt­finden.

Aber wer will das wirklich?

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Vor einer Woche lief hier Mission: Impos­sible – The Final Reckoning, der achte Film der M:I-Reihe und angeblich ihr Finale. Dies ist ein Film, der gut nach Cannes gehört, auch weil er Starkino und ein Action­block­buster ist, vor allem aber, weil dies ein Film ist, der so aussieht, und sich so anfühlt, wie ein Film, den man unbedingt auf der großen Leinwand sehen muss.

Die Verant­wort­li­chen des Film­fes­ti­vals von Cannes sehen das offen­sicht­lich genauso: Manche halten solche Einla­dungen für einen billigen, aufmerk­sam­keits­po­li­ti­schen PR-Act. Aber diesen Film ins Festi­val­pro­gramm aufzu­nehmen, bedeutet heute etwas ganz anderes. Das Festival als Insti­tu­tion ist schon immer der ganz großen Kino­er­fah­rung verpflichtet – einer Erfahrung, die heute extrem bedroht ist, so sehr, dass sie jede Aufmerk­sam­keit braucht, die sie bekommen kann.

»Mission: Impos­sible« ist nicht nur ein Pop-Franchise, es ist auch die nost­al­gi­sche Erin­ne­rung an Kino, wie es einmal war, und wie es, will es überleben, wieder werden muss: Massen­en­ter­tain­ment mit Stars und mensch­li­chen Figuren, ein aufse­hen­er­re­gender Publi­kums­film, der das eher ernst­hafte und oft ein bisschen zu beflis­sene Programm aus Autoren­filmen aus aller Welt, poli­ti­schen Skan­dal­themen und zur Schau getra­gener Woke­n­ess­hal­tung ein bisschen auszu­ba­lan­cieren.

Man muss auch Haupt­dar­steller, Produzent und Showrunner Tom Cruise nicht lieben, um ihn zu respek­tieren und anzu­er­kennen, dass er wahr­schein­lich der global bekann­teste Filmstar ist. Das Kino braucht solche Figuren.

Zugleich ist das Kino größer als wir alle, mit seiner Fähigkeit, vieles, ja: alles auf einmal zu sein.

Das Kino ist nicht nur eine einzige Sache – und es kann nicht von einem einzigen Mann gerettet werden.

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Die inter­na­tio­nalen Kritiker und Jour­na­listen, mit denen man hier gemeinsam die Filme sieht, sollten eigent­lich cool, abwägend und nicht allzu leicht zu beein­dru­cken sein – aber wir sind doch auch alle Kinder. Kinder des Kinos, die hier in Cannes ihren Kinder­ge­burtstag feiern.

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Im globalen Kino von heute behauptet sich ein Film wie A pale view of hills durch Fein­füh­lig­keit und Strenge. Ohne Spektakel, aber mit Nachhall. Ein Werk über Erin­ne­rung – wie sie uns tröstet, wie sie uns fesselt. Und wie sie uns nie ganz verlässt.

Wie sonst nur bei Wong Kar-wai entsteht in diesem Film, und auf ganz andere Weise in O agente secreto, ein Kino der unge­sagten Gefühle – voller Verlust­schmerz wie voller Sehnsucht.