78. Filmfestspiele Cannes 2025
Die Geister der Vergangenheit |
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A pale view of hill: Ohne Spektakel, aber mit Nachhall. | ||
(Foto: Filmfestival Cannes) |
»Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.«
– Walter Benjamin»Nous allons parler de fort vilaines choses«
– Stendhal, »Die Karthause von Parma« (das Zitat war das Motto des Drehbuchs von »Außer Atem«)»Tu n’as rien vu à Hiroshima!«
– Alain Resnais: »Hiroshima Mon Amour«
Es sind die Blicke, die einen mitreißen. Ein kurzes Erstarren im Gesicht einer jungen Frau, die Traurigkeit eines kleinen Mädchens, der Augenblick des Verstehens zwischen zwei Müttern.
A pale view of hills von Kei Ishikawa ist, obschon in einer Nebenreihe, einer der besten Filme im diesjährigen Cannes-Programm. Ein herzzerreißendes Melodram mit vielen genuin visuellen, filmischen Qualitäten: Präzisen Einstellungen, betontem Farbeinsatz, suggestiver Montage, filmhistorischen Referenzen, und einer achronologischen Erzählweise.
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Was die Kameraführung betrifft, für die der polnische Kameramann Piotr Niemyjski mitverantwortlich ist, erinnert vieles, ästhetisch und in seiner Referenzstruktur, an das Kino des großartigen Yasujirō Ozu. Das liegt insbesondere an der ruhigen Bildgestaltung: die Kamera auf der Höhe von sitzenden Personen, Schnitte im Moment der Bewegung – etwa, wenn jemand aufsteht oder sich eine Jacke anzieht.
Doch die Inszenierung geht über diese visuelle Reduktion hinaus und strebt nach einer tiefergehenden Bedeutung – nicht nur in alltäglichen Details, sondern in einer umfassenderen, zeitlich und räumlich erweiterten Perspektive, durch das Hin- und Herpendeln zwischen zwei Zeitebenen und den Wechsel von Nah- zu Großaufnahmen. Besonders hervorzuheben ist dabei die sensible historische Rekonstruktion, bei der liebevoll gestaltete Innenräume mit postkartenähnlichen Außenaufnahmen kombiniert werden.
Allerdings setzt der Film zunehmend auf harte Schnitte, und verschiebt, je dramatischer die Filmhandlung wird, auch den Stil des Films in Richtung Melodram, sodass man eher an das japanische Kino der 1960er Jahre denken kann, etwa an Regisseure wie Mikio Naruse oder Shōhei Imamura.
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Die grausame Entscheidung, am 9. August 1945 eine Atombombe auf Nagasaki abzuwerfen – nur drei Tage nach dem Tabubruch von Hiroshima –, wirkt über die unmittelbaren Todesopfer und andere Zerstörungen noch jahrelang nach – in diesem Fall vor allem durch die psychischen und physischen Auswirkungen der Bombenabwürfe auf ein ganzes Volk, durch ein kollektives Trauma, das aber insbesondere die direkt betroffenen Bewohner der zwei Städte traf.
Die
Überlebenden, auch wenn sie nicht unmittelbar strahlengeschädigt wurden, sind gezeichnete Menschen. Die kollektive Wunde von Hiroshima und Nagasaki heilte auch mit den Jahrzehnten nicht.
Sie steht im Zentrum des Films von Kei Ishikawa, basierend auf dem Debütroman A Pale View of Hills von Kazuo Ishiguro, der die japanische Nachkriegszeit in Nagasaki in den 1950er Jahren mit dem Schicksal einiger ihrer Bewohner verbindet.
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Die Handlung ist nur scheinbar banal: Sieben Jahre nach Kriegsende freunden sich zwei Frauen aus Nagasaki miteinander an. Sie stammen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen, aber sie erkennen in sich eine Wahlverwandtschaft und immer größere Ähnlichkeiten. Die eine, eine ausgegrenzte Alleinerziehende, hat bereits eine kleine etwa fünfjährige Tochter, die andere, Etsuko (Suzu Hirose, Hauptdarstellerin in Hirokatsu Kore-edas Unsere kleine Schwester), die eigentliche Hauptfigur, ist gerade mit ihrem ersten Kind schwanger.
Im Zentrum steht das Motiv der unzuverlässigen Erinnerung. Ishikawa verleiht dem Film zunehmend eine traumähnliche Anmutung – als sähen wir einen Film im Film. Details wirken überhöht, die Beleuchtung ist deutlich intensiver. Das vermittelt das Gefühl, dass das, was wir sehen, nicht ganz der Realität entspricht.
Statt Erinnerung als nüchternes Protokoll der Fakten darzustellen, formt Ishikawa sie zu einem Mosaik aus leuchtenden Fragmenten und bedeutungsschwangeren
Leerstellen. Sepia-getönte Rückblenden wirken wie halb erinnerte Träume – Nebel über Pinien, Silhouetten von Lehrern, die vorsichtigen Blicke eines verbrannten Kindes.
Verstärkt wird dies durch die offenen Zitate einiger Filmerzählungen des »Hibakusha cinema«, des japanischen Kinos über die Atombombe und deren Überlebenden, die »Hibakusha«, das bereits unmittelbar nach Ende der US-Militärzensur, 1952 – genau im Jahr, in dem dieser Film spielt – einsetzte. Besonders Kaneto Shindos Children of Hiroshima (1952) wird offen visuell zitiert, in jener berühmten Szene, in der eine Lehrerin – Etsuko ist auch Musiklehrerin – vier Jahre nach dem Krieg in ihren Ferien nach Hiroshima zurückkehrt. Als sie ein silber-strahlendes Flugzeug am Himmel sieht, hält die Hauptfigur kurz erstarrt inne, während der Junge begeistert zum Himmel blickt. Das ist eine erschütternde Reminiszenz an die »Enola Gay«, die die Bewohner Hiroshimas am Morgen des 6. August 1945 ähnlich staunend am wolkenlosen Himmel betrachteten.
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»Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.«
– Walter Benjamin
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Die allererste Szene von O agente secreto (»The Secret Agent«) von Kleber Mendonça Filho spielt an einer Esso-Tankstelle. Vor dieser liegt ein toter Mann, lose bedeckt mit ein paar Zeitungen. Seit Tagen ist das so, die Hunde nagen schon an ihm.
Es ist Karneval, und die Polizei hatte bisher keine Zeit, die Leiche zu bergen. Während der Feiern gibt es viele Tote, und in den Kinos der Küstenstadt Recife ,in der der Film zum größten Teil spielt, läuft Spielbergs Der weiße Hai. In den Zeitungen ist zur gleichen Zeit von einem Hai die Rede, in dessen Magen ein männliches Bein gefunden wurde – offensichtlich Überreste eines Mordopfers. Die Polizei ermittelt. Und eben dieses Bein, das irgendwann aus der Pathologie der Stadt verschwinden wird und
allein durch die Stadt wandern, dort die Paare, die sich im Park zum Gelegenheitssex treffen, stören, und auch sonst eine seltsam mythische Macht demonstrieren... Eines jener »geisterhaften Bilder«, die der Regisseur bereits in seinem vorherigen Film Retratos fantasmas von 2023 beschwor, in dem er wie ein Archäologe den Überresten der meist verschwundenen Filmpaläste in seiner
Heimatstadt nachspürte.
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Die Vergangenheit wirkt wie Traum und Albtraum zugleich, wie eine verschwommene, kitschige Erinnerung einerseits und wie ein Horrorbild.
O agente secreto, der nichts mit einem Geheimagenten, oder Spionage zu tun hat und schon gar nichts mit Joseph Conrads Roman »The Secret Agent«, wie ich noch in Deutschland zunächst dachte, spielt in Recife im Jahr 1977.
Der Regisseur beschwört diese Zeit sehnsuchtsvoll und in pulsierendem Takt, mit stimmigen 70er-Jahre-Elementen in vielen Schichten aus Stil, Format und Farbgebung (einschließlich des Scope-Formats), in Mode und vielen Pop-Verweisen, etwa des Horror-B-Movies, der im Kino zu sehenden Filme von (u.a.) John Carpenter, Brian De Palma, Mario Bava und Richard Donners Das Omen – alles mit bewundernswertem Gespür und einer bemerkenswerten Fähigkeit, unterschiedlichste Ausdrucksformen zu vereinen.
Er tut das ein bisschen nostalgisch, aber zugleich erkennbar vom Wunsch getragen, Verklärungen zu vermeiden. Denn es herrscht noch immer jene brutale, nur notdürftig zivil verbrämte Militärdiktatur, von der Walter Salles zuletzt in I’m Still Here erzählte.
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Mendonça Filhos Film beginnt damit, dass in der erwähnten, einsamen Tankstelle mitten am Tag ein quietschgelber VW Käfer hält. Nicht nur durch die eher beiläufig vorhandene Leiche ist von Anfang an etwas Bedrohliches in der Luft. Der Regisseur macht sofort klar, dass hier ein eigenwilliger politischer Thriller beginnt, der zugleich die historische Vergangenheit wie die universelle kollektive Prägung Brasiliens neu beleuchtet.
Die Ankunft des Käfers ist auch der Auftritt der Hauptfigur: Marcelo (einnehmend und konzentriert gespielt von Wagner Moura) ist ein Mann, der vor einer Geschichte flieht, und zugleich versucht, sich einer noch weiter zurückliegenden Vergangenheit, die seine eigene Familie betrifft, zu stellen, sie zu erforschen.
Während seiner Fahrt nach Recife und den Tagen dort, die Flucht und Suche zugleich sind, begegnet er einer Reihe von Menschen, deren Spuren und Geschichte ausgelöscht
werden sollten. Und den Schergen der Macht, die ohne Moral zu jedem Preis das Töten zum Handwerk gemacht haben.
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O agente secreto ist – wie zuvor Aquarius (2016) und Bacurau (2019) – eine Parabel für die Wunden des Landes. Mendonça zeigt uns ein Land im Ausnahmezustand des Karnevals, in dessen Innerem die eiserne Hand der brasilianischen Diktatur weiterhin wirkt: Lebensläufe werden umgeschrieben, Korruption herrscht in den Machtstrukturen, und eine alte Dame, die noch im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat und von sich erzählt, sie sei »zuerst Kommunistin und dann Anarchistin gewesen – oder umgekehrt«, leitet ein Haus als Zuflucht für Verfolgte. Die Geister der Vergangenheit nisten sich in die Gegenwart ein, wie in einem B-Movie, in dem das Verdrängte, materialisiert zu einem Monster, zurückkehrt.
Es steht im Dialog mit den Boulevardmagazinen, die dem alltäglichen Horror täglich neue Namen geben. Genauso mit den Double Features, die in den Kinos der Stadt gezeigt werden, und das Glück des Augenblicks im Schreckensschrei sich ausdrückt, in dem Erwachsene zu Kindern werden und zu Flüchtigen aus der Geschichte.
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Mendonça erzählt von der Vergangenheit seines Landes, um die Wunden der Gegenwart zu verstehen, die im Rückwärtsgang in die Geschichte zum Vorschein kommen.
Er ruft die Verletzungen ins Gedächtnis, und findet so zu einer dichten Erzählung über die vergossenen Ströme von Blut und die Schmerzensschreie der Menschen, aus denen geformt ist, was wir Geschichte nennen.
Mendonças Kino ist fragmentarisch, sprunghaft, unrein, rauh, dem »guten schlechten Geschmack« unbedingt verpflichtet erscheinen – aber es ist auch voller tiefen Gefühls, sinnlich, erfüllt von Liebe, sogar der perversen Liebe zu den Killern, die das Morden zur hedonistischen Kunst gemacht haben.
Und nicht zuletzt steht es in glasklarem Gegensatz zu der akademischen Haltung von Walter Salles, dessen gutem I’m Still Here dieser Film seine Grenzen aufzeigt.
Mendonça lässt uns teilhaben an einer spannungsgeladenen, karnevalesken Entladung, in der der Todestrieb am Ende von der Lebenslust besiegt wird, das Weinen vom Lachen und der Hass von der Liebe.
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Dies ist der Film, auf den wir gewartet haben, der Film des Cannes-Wettbewerbs 2025!
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Im Epilog des Films, der 50 Jahre später im Heute spielt, will eine Studentin mit Hilfe von Archivalien herausfinden, was damals genau geschehen ist. Doch die Geschichte lässt sich nicht abschließen, auch das ist die Lehre – was bleibt, sind Repression und Leiden, ist ein großes Blutbad, das bis heute in neuen Gestalten weitergeht.
Auch darum spielt die allerletzte Szene von O agente secreto in einer Blutbank. Sie steht genau an dem Ort in Recife,
wo einst das alte Kino lag, in dem zentrale Teile des Films spielen.
Eine Transfusion – und ein Vampirismus – anderer Art.
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Kürzer hier noch zu zwei Filmen, über die wir in den nächsten Tagen noch ausführlicher schreiben: Warum hat sich der russische Dissident und großartige Filmemacher Kirill Serebrennikov ausgerechnet dem Schicksal von Josef Mengele in einem Film gewidmet: Das Verschwinden des Josef Mengele.
Die Geschichte von Mengele und seinem Verschwinden aus den Augen der Öffentlichkeit und vor allem vor denen, die ihn vor einem ordentlichen Gericht zur Verantwortung für seine Taten als Lagerarzt in Auschwitz ziehen wollten, ist kompliziert.
Lassen wir hier einmal die Geschichte der Nazi-Netzwerke nach dem Krieg beiseite, jener berühmten »Rattenlinie« nach Lateinamerika, genauso wie die braun durchtränkten Gesellschaftsverhältnisse der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik, die NS-Kontinuitäten insbesondere in der deutschen Industrie, ebenso wie die Verhältnisse jener lateinamerikanischen Staaten, vor allem Militärdiktaturen in Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay, sowie andere ebenfalls in Lateinamerika untergekommene NS-Gestalten wie Adolf Eichmann oder der Ritterkreuzträger Hans-Ulrich Rudel. Alles dies wird hier am Rande mit erzählt und gestreift.
Serebrennikov geht es um die Figur selbst, um den Menschen Mengele. Mengele war, jedenfalls so wie ihn der Regisseur in seinem Film zeichnet, eine durch und durch widerwärtige, abstoßende Figur – und das nicht allein wegen seiner Taten, die in ihrer Monstrosität jeder möglichen Beschreibung spotten. Er war dies auch wegen der Gewissenlosigkeit, mit der Mengele danach weiterlebte, weiterleben konnte, wegen dem Unwillen, sich auch nur ein kleines Bisschen der eigenen Verantwortung zu stellen, wegen seines hassdurchtränkten Charakters, ein Mensch, der Gift und Galle spuckte, antisemitische und rassistische und antiwestliche Phrasen im Minutentakt von sich gab. Mengele war ein menschliches Monster, ein böser Mensch – und gleichzeitig war er, auch hier wieder im Blick des Regisseurs, ein von Angst durch und durch erfülltes Wesen.
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Im Jahr 2017 stellte der französische Schriftsteller Olivier Guez die Frage, wie es möglich war, dass ein gesuchter Nazi und einer der berüchtigtsten Verbrecher von Auschwitz jahrzehntelang unter falschen Namen im Untergrund leben konnte, ohne entdeckt zu werden, und erst Jahre nach seinem Tod enttarnt wurde. »The Disappearance of Josef Mengele« gibt eine Reihe von Antworten auf diese Frage und zeichnet zugleich eine Kartographie der Orte und Tarnnamen, in denen dieser Arzt
Unterschlupf gefunden hatte.
Serebrennikov knüpft mit diesem Film an sein vorheriges Werk Limonov und die dortige Annäherung an eine extreme Figur an. Serebrennikov inszeniert hier zurückhaltender als in anderen Filmen. Man vermisst beinahe die visuellen Exzesse, für die er bekannt wurde. Auch August Diehl nähert sich der komplexen Persönlichkeit Mengeles eindrucksvoll an, versucht sie darstellerisch zu erfassen – aber die Monstrosität siegt,
und Mengele und seine Taten bleiben in diesem hervorragenden, hochinteressanten, stellenweise fesselnden Film trotz allem: Unfassbar.
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Kein anderer US-amerikanischer Filmemacher steht dem Geist der Nouvelle Vague näher als der Regisseur von Before Sunset, einer bewusst rohmeresken Passage durch die Straßen von Paris, die fast in Echtzeit erzählt ist. Ganz abgesehen von den zahllosen Anspielungen in seiner übrigen Filmographie auf das kritische, theoretische und cinephile Umfeld, dem letztlich À bout de souffle (»Außer Atem«) entstammt. Es ist daher geradezu exemplarisch folgerichtig, dass Linklaters filmischer Weg nun zu jenem Gründungsfilm zurückkehrt, dessen Erscheinen 1959 symbolisch die Geburt der filmischen Moderne einleitete.
Zu Godard zurückzukehren ist allerdings kein leichtes Unterfangen – ganz im Gegenteil. Das zeigt sich an der unerträglichen Albernheit, die 2017 Godard Mon Amour darstellte – ein Werk, an das man sich nur mit Grauen erinnert. Zum Glück entspringt Linklaters Zugang zu einem so entscheidenden Film der Kinogeschichte einer aufrichtigen Bewunderung für dessen offene, einfallsreiche, leichte und zutiefst freie Natur und einem Verständnis für die Umstände. Es handelt sich bei Nouvelle Vague somit um eine Art »Retro-Making-of«, gefilmt in Schwarz-Weiß, im quadratischen Format und auf Französisch.
Dramaturgisch gibt es daher weder Spannung noch Drama, sondern eine Abfolge von Anekdoten – allesamt explizit cinephil, wohlbekannt und ohne jeglichen historiographischen oder theoretischen Anspruch – die das Zustandekommen des Projekts und dessen Entstehung schildern. Hinzu kommt die bekannte großartige Sprücheklopferei Godards: »Continuity is not reality«; »Ein Regisseur strebt immer nach intellektueller und moralischer Anarchie«; »Wahre Kunst ist entweder Plagiat oder Revolution.« usf.
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Der Film zeigt Jean Luc Godard als sympathischen Menschen – überraschenderweise. Er zeigt ihn auch als das Genie, das er war: Einer der selbstbewusst und lässig gedreht hat, der mehr wusste und schneller dachte als andere, und trotzdem ein guter Freund war – für manche seiner Weggefährten bis zum Schluss. Er zeigt, wie notwendig Streit und Kämpfe sind, dass sie aber nur dann produktiv sein können, wenn sie auf einer gemeinsamen Basis ausgetragen werden, einer intellektuellen, einer moralischen aber vor allem einer persönlichen freundschaftlichen Basis.
Linklater stützt sich auf eine sorgfältige und faszinierende Casting-Arbeit. Die Schauspieler, die Jean-Luc Godard, François Truffaut, Claude Chabrol, Suzanne Schiffman, Jean Seberg, Jean-Paul Belmondo, Raoul Coutard oder Pierre Braunberger verkörpern, sind keine Stars – aber sie ähneln ihren realen Vorbildern deutlich. Linklater macht keinen Hehl daraus, wer wer ist, und würzt die erste Hälfte des Films mit zahlreichen charmanten Anspielungen. Neben den Mitgliedern der Nouvelle Vague treten auch deren künstlerische »Väter« auf: Roberto Rossellini und Jean-Pierre Melville.
Eine glückliche Mischung aus cinephiler Verehrung und augenzwinkernder Ironie durchzieht die Dialoge, und macht aus diesem Film ein großes Vergnügen. Eine extrem unterhaltsame, nur dezent hagiographische Hommage an das französische Kino, aber nicht nur an das französische, sondern überhaupt das, was am Kino glücklich machen kann, und uns immer wieder glücklich macht.
Dieser Film könnte sogar ein guter Kompromiss sein, wenn sich die Jury nicht auf einen anderen Film für
die Goldene Palme einigen können sollte. Verdient hätte es Linklater und hätte es die Nouvelle Vague auf alle Fälle.
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1959 gelang es Jean Luc Godard, eine Revolution zu initiieren. 2025 begnügt sich Richard Linklater mit einem Palimpsest – denn er kann, und will, keine Revolution mehr vollziehen. Dass er das nicht will, ist noch das größere Problem.
Insgesamt belegt der diesjährige Wettbewerb von Cannes, dass das Gegenwartskino in einer massiven Krise steckt.
Ihm fehlen in seiner Gesamtheit – einzelne Ausnahmen lassen wir jetzt einfach mal weg – Einfallsreichtum und Kunstwille, Intellektualität und Mut. Das Kino der Gegenwart ist normiert, weil es sich normieren lässt, weil es Normierung insgeheim für nötig hält, weil es die Identifikation mit dem Aggressor vollzieht. Weil es in seinem Denken, in seinen Erwartungen, in seinem Geschmack, in seinen Blicken auf die Welt selbst normiert ist.
Weil es im Kern selbst
erzkonservativ ist und die Welt erhalten will, wie sie ist: Demokratisch, liberal, in Wohlstandsverhältnissen, Ibiza-Kurztrips und Toskana-Urlauben, Airbnb-Wohnungen, die auf Apple Computern gebucht werden.
Einer wirklichen Revolution steht all das natürlich im Wege. Sie wird deswegen nicht vom Kino kommen, sondern von Außen. Revolution will be televised, but it will not be a TV event.
Erst wenn das Kino seinen Konservatismus abwirft, und ihm Veränderung und Revolte nicht mehr nur eine Stil-Geste oder ein Instagram-Post sind, wird die Revolution, und sei es nur eine ästhetische, stattfinden.
Aber wer will das wirklich?
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Vor einer Woche lief hier Mission: Impossible – The Final Reckoning, der achte Film der M:I-Reihe und angeblich ihr Finale. Dies ist ein Film, der gut nach Cannes gehört, auch weil er Starkino und ein Actionblockbuster ist, vor allem aber, weil dies ein Film ist, der so aussieht, und sich so anfühlt, wie ein Film, den man unbedingt auf der großen Leinwand sehen muss.
Die Verantwortlichen des Filmfestivals von Cannes sehen das offensichtlich genauso: Manche halten solche Einladungen für einen billigen, aufmerksamkeitspolitischen PR-Act. Aber diesen Film ins Festivalprogramm aufzunehmen, bedeutet heute etwas ganz anderes. Das Festival als Institution ist schon immer der ganz großen Kinoerfahrung verpflichtet – einer Erfahrung, die heute extrem bedroht ist, so sehr, dass sie jede Aufmerksamkeit braucht, die sie bekommen kann.
»Mission: Impossible« ist nicht nur ein Pop-Franchise, es ist auch die nostalgische Erinnerung an Kino, wie es einmal war, und wie es, will es überleben, wieder werden muss: Massenentertainment mit Stars und menschlichen Figuren, ein aufsehenerregender Publikumsfilm, der das eher ernsthafte und oft ein bisschen zu beflissene Programm aus Autorenfilmen aus aller Welt, politischen Skandalthemen und zur Schau getragener Wokenesshaltung ein bisschen auszubalancieren.
Man muss auch Hauptdarsteller, Produzent und Showrunner Tom Cruise nicht lieben, um ihn zu respektieren und anzuerkennen, dass er wahrscheinlich der global bekannteste Filmstar ist. Das Kino braucht solche Figuren.
Zugleich ist das Kino größer als wir alle, mit seiner Fähigkeit, vieles, ja: alles auf einmal zu sein.
Das Kino ist nicht nur eine einzige Sache – und es kann nicht von einem einzigen Mann gerettet werden.
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Die internationalen Kritiker und Journalisten, mit denen man hier gemeinsam die Filme sieht, sollten eigentlich cool, abwägend und nicht allzu leicht zu beeindrucken sein – aber wir sind doch auch alle Kinder. Kinder des Kinos, die hier in Cannes ihren Kindergeburtstag feiern.
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Im globalen Kino von heute behauptet sich ein Film wie A pale view of hills durch Feinfühligkeit und Strenge. Ohne Spektakel, aber mit Nachhall. Ein Werk über Erinnerung – wie sie uns tröstet, wie sie uns fesselt. Und wie sie uns nie ganz verlässt.
Wie sonst nur bei Wong Kar-wai entsteht in diesem Film, und auf ganz andere Weise in O agente secreto, ein Kino der ungesagten Gefühle – voller Verlustschmerz wie voller Sehnsucht.