09.09.2024
81. Filmfestspiele von Venedig 2024

Goldene und andere Löwen in Venedig

I'm Still Here (Walter Salles)
Brasilien unter der Diktatur: Walter Salles I’m Still Here
(Foto: Filmfestspiele Venedig · Walter Salles)

Neben dem Raum des Todes: Endlich ein Sieg für Pedro Almodóvar, aber trotz des Regiepreises kommt Brady Corbets sensationeller »The Brutalist« etwas unter Wert weg – Notizen aus Venedig, 3.Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wars, conflicts ― it’s all business.«
Der Titelheld in Charlie Chaplins schwarzer Nach­kriegs­komödie Monsieur Verdoux

»Auf die Gerechten und die Unge­rechten fällt der gleiche Regen.«
Aus: »King Ivory«

Auch ein Altmeister kann noch Neuland betreten, und so gewinnt Pedro Almodóvar mit fast 75 Jahren ausge­rechnet mit seinem ersten englisch­spra­chigen Film The Room Next Door seinen ersten Festival-A-Wett­be­werb.

+ + +

In diesem Film, der in New York spielt, geht es um Künstler, die genauso leben und sind, wie man es sich vorstellt – es könnte sich auch um Pedro Almo­dó­vars Freunde aus seinen Jugend­zeiten in der Madri­lener »Movida« handeln. Manchmal ging es ja auch in seinen spani­schen Filmen um dieses Künst­ler­mi­lieu.
Insgesamt kann man sowieso den Eindruck bekommen, dass der Regisseur in diesem Film auch schon ein bisschen Bilanz zieht, die eigene Lebens­bi­lanz und zugleich die Bilanz seiner Gene­ra­tion, einer Alters­ko­horte, die den Hedo­nismus der Achtziger erlebt und gelebt hat, genauso wie utopische Hoff­nungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den Neun­zi­gern, bevor dann mit 9/11 die große Desil­lu­sio­nie­rung begann.

+ + +

Die beiden Personen, die in diesem Fall im Zentrum stehen, sind zwei Frauen, gespielt von Julianne Moore und Tilda Swinton, die genau diesem Milieu und dieser Gene­ra­tion angehören: Sie sind ungefähr 60 plus X Jahre alt, die Figur von Julianne Moore schreibt Romane und Erzäh­lungen mit Wellness-Flair, die Figur von Tilda Swinton schreibt Sach­bücher und hat früher – in den Neunziger- und Nuller­jahren – auch als Kriegs­kor­re­spon­dentin gear­beitet. Diese Todesnähe und die Tode­s­er­fah­rungen sind wichtig für das Folgende.
Denn die Tilda-Swinton Figur ist tödlich an Krebs erkrankt – sie kann nicht mehr genesen, das ist klar. Die beiden Frauen sind Freun­dinnen seit Jahr­zehnten. Sie teilen viele Erfah­rungen, Freunde, sogar ehemalige Liebhaber und andere biogra­fi­sche Stationen. Sie treffen sich ein paar Mal, unter­halten sich, reden auch ganz offen über die Vergan­gen­heit und die Krankheit der Swinton-Figur, und irgend­wann fragt diese ihre Freundin, ob sie ihr beim Sterben helfen kann. Sie hat sich eine Ster­be­hilfe-Tablette aus dem Darknet besorgt – in den USA ist Ster­be­hilfe grund­sätz­lich verboten und gilt als Straftat – und nach kurzem Zögern reisen beide in ein gemie­tetes Haus auf dem Land. Tilda Swintons Figur möchte nicht alleine sterben, sie braucht das Wissen, dass sich da jemand Vertrautes im Raum nebenan aufhält. Daher der Titel des Films: The Room Next Door. Den kann man natürlich auch auf den Tod oder den Raum des Sterbens beziehen, jeden­falls auf den Raum, den man betritt, wenn man die Grenze zum Tod über­schreitet.

Eigent­lich geht es genau um dies: Um die Dynamik zwischen den beiden Frauen; darum, dass es für Almodóvar unbedingt das Recht auf einen selbst­ge­wählten Tod gibt, und es geht um die exis­ten­ti­ellen Fragen: Wie geht man damit um, wenn man weiß, dass man bald sterben muss, und wenn man die tech­ni­sche Möglich­keit hat, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen?

+ + +

Der Luxem­burger Kollege Marc Trap­pen­dreher, mit dem ich neulich hier für eine Folge unseres Podcasts ein Gespräch aufge­zeichnet hatte, hat auf meine neulich gestellte Podcast-Frage, was Almodóvar eigent­lich bei diesem Stoff will, und was ihn überhaupt an dieser Geschichte inter­es­siert, noch einmal kurz geant­wortet: »Ich habe dazu ein paar Gedanken: Einer­seits inter­es­siert ihn diese spezi­fi­sche Frage des Todes. Ich glaube, er verhan­delt frühere Themen, also Liebe, Sex, die Libido, die Amour fou, das Rausch­hafte, das seine früheren Filme ausge­macht hat, auch in diesem Film – sie sind anwesend, aber sie werden quasi aus der Rückschau und gewis­ser­maßen sehr bedächtig angesehen. Das lässt diesen Film zusammen mit etwa Madres paralelas als Alters­werk stehen, wo in beson­derer Weise das frühere Schaffen und die eigene Filmo­grafie in der Geschichte mitre­flek­tiert werden. The Room Next Door ist natürlich ein Almodóvar-Kino im Sinne von melo­dra­ma­ti­scher Drama­turgie.
Was mich nicht so überzeugt hat, war die Tatsache, dass er mit ameri­ka­ni­schen Schau­spie­lern arbeitet. Da geht etwas spezi­fisch Almodóvar-haftes verloren. Das Gefühl hatte ich ja auch, dass im Dialog zwischen Spanien und Amerika etwas nicht funk­tio­niert. Aller­dings ist auch dies wiederum ein Film über Tod und Wieder­kehr. Man könnte hier auch auf die Hitchcock-Filmo­grafie verweisen. Almodóvar zitiert auch Hitchcock – für mich gibt es hier ganz klar Anspie­lungen auf Vertigo. Hier kann man sehen, dass Hitchcock bis heute wirkt und in diesem Sinne lebendig ist.«

+ + +

Natürlich muss man zugeben, dass das auch ein Film ist, der von west­li­chen Wohl­stands­bür­gern handelt, die keinerlei finan­zi­elle Probleme haben, die in tollen Manhattan-Apart­ments wohnen, sich mit Kunst und den schönen Dingen beschäf­tigen – in Venedig sieht man auch ganz andere Filme.
Insofern gab es schon ein paar Beob­achter, die auch fanden, dass dies eine Form von Wohl­stands­kino ist, das von Luxus­pro­blemen handelt, dass hier in diesem Film keine so ernst­haften Probleme verhan­delt werden, wie in anderen Filmen. Mir hat The Room Next door aller­dings nichts­des­to­trotz sehr gut gefallen.

+ + +

Geht auch dieser Haupt­preis für mich in Ordnung? Ich hätte andere Filme mit dem Goldenen Löwen ausge­zeichnet, aber dass Almodóvar etwas bekommt, finde ich sehr richtig.
Außerdem muss man sagen: Viel­leicht ist diese Auszeich­nung auch ein bisschen als Auszeich­nung für sein Lebens­werk gedacht, denn ob man es glaubt oder nicht, und so bekannt der Mann ist und so sehr man ihn seit Jahr­zehnten kennt – Pedro Almodóvar hat noch niemals bei irgend­einem großen Festival den Haupt­preis bekommen: Nicht die Goldene Palme, nicht den Goldenen Bär und eben auch nicht den Goldenen Löwen. Es gab Regie­preise, es gab Preise für die Schau­spieler, aber noch nie den Sieg. Das hat er jetzt mit 75 Jahren geschafft. Ob er glücklich damit ist, dass es ihm gerade mit diesem Film gelungen ist, ausge­rechnet mit einem englisch­spra­chigen Film und englisch­spra­chigen Schau­spie­lern in einem fremden Land gedreht, und nicht mit einem Film, der ganz typisch für sein Kino ist, der in Madrid spielt oder wenigs­tens in Spanien und der auch von der spani­schen Kultur und Lebensart erzählt, das kann nur er selber wissen. Ich könnte vermuten, dass dies ein kleiner Wermuts­tropfen ist, aber gleich­zeitig wird Almodóvar sicher sehr glücklich über diesen Preis sein, und das sei ihm unbedingt gegönnt.

+ + +

Vor der Preis­ver­lei­hung gab es am Lido für viele, auch für mich, zwei andere große Favoriten: Der brasi­lia­ni­sche Film I’m Still here von Walter Salles, der am Ende den Dreh­buch­preis gewann, und The Brutalist von Brady Corbet, der den Regie­preis bekam. Beides Preise unter Wert.

Warum sie es nicht geschafft haben, den Haupt­preis zu gewinnen, dafür muss man die Jury fragen. Ich persön­lich hätte schon gedacht, dass The Brutalist eine sehr gute Chance haben müsste, um mindes­tens eine so cinephile Schau­spie­lerin wie Isabelle Huppert zu über­zeugen.

Beides sind Filme, die natürlich auch von Menschen und Personen handeln, die aber diese Personen nicht wie Almodóvar aus allen Kontexten heraus­lösen, sondern im Gegenteil in einen politisch-kultu­rellen Kontext stellen.
Diese Filme sind in der Gesell­schaft und in der Geschichte des jewei­ligen Landes verankert.

In dem Film vom Brasi­lianer Walter Salles wollte ich zuerst gar nicht reingehen, zumal I’m Still Here auch nach Beginn des Festivals einer der ganz ganz wenigen Filme war, zu dem man noch Akkre­di­tierten-Tickets buchen konnte, und weil ich irgendwie dachte, der Mann, dessen Goldener Bär Central Station mir 1997 schon zu altbacken vorkam und der danach mit der Che-Guevara-Verfil­mung Die Reise des jungen Che – The Motor­cycle Diaries einen sehr lang­wei­ligen konven­tio­nellen Möch­te­gern-Hollywood-Film gedreht hat, der dürfte kaum im Jahr 2024 plötzlich einen inter­es­santen Film machen. Viel­leicht aber doch? Denn nach der Premiere hatte ich ziemlich Gutes von sehr verschie­denen Leuten gehört und war nun mindes­tens neugierig geworden – schließ­lich gab es noch die Bemerkung: »Der könnte dir schon deswegen gefallen, weil er die Sieb­zi­ger­jahre so schön und toll wieder aufer­stehen lässt.«

+ + +

Tatsäch­lich ist I’m Still here ein ziemlich guter Film. Ein Film, der den Zuschauer zunächst einmal in Sicher­heit wiegt und auf diese Weise in die Irre führt. Der zwar von Anfang an klar macht, dass er im Brasilien unter der Mili­tär­dik­tatur spielt, aber doch uns Zuschauern sugge­riert, dass es unter dieser Diktatur so etwas wie ein heiteres schönes Leben geben könnte. Genau das aber kann es eben nicht geben. Und genau das zeigt der Film, will es auch zeigen.
Man dringt zunächst als Beob­achter ein in eine vermeint­lich heile Welt von Wohl­stands­bürger-Kind­heiten, Coming-of-Age und Beach­vol­ley­ball, Sonne, blauer Himmel, heißer Sand und kühles Wasser. Die Zahnfee besucht die kleine Schwester, es gibt ein adrettes Dienst­mäd­chen, ein schönes Haus, es gibt einen Hund, es gibt gute Musik – kurz musste ich an Roma von Alfonso Cuarón denken, der etwa zur gleichen Zeit spielt, nur in einer Demo­kratie. Aber von Anfang an gibt es auch Warn­si­gnale: der Hubschrauber, der über der Copa­ca­bana bedroh­lich schwebt, als die Familie schwimmen geht, die Tele­fon­an­rufe und unklaren Geschäfte des Vaters, die Mili­tär­last­wagen auf der Straße, die brutalen Straßen­sperren und demü­ti­genden Kontrollen.

Es geht dann um diese Familie im Brasilien der Mili­tär­dik­tatur – es gibt reale Vorbilder für sie. Man ist oppo­si­tio­nell, der Vater ist ein ehema­liger Parla­ments­ab­ge­ord­neter, der jetzt als Geschäfts­mann arbeitet, aber wie sich heraus­stellt, im Unter­grund immer noch Teil von oppo­si­tio­nellen Netz­werken ist. Eines Tages wird er vom Geheim­dienst abgeholt und auch die Frau und eine Tochter werden in dunkle Gefäng­nis­zellen geworfen und dort streng verhört, wenn man so will psychisch gefoltert, aller­dings glück­li­cher­weise nicht körper­lich. Sie kommen wieder raus, aber es ist ziemlich schnell klar, dass der Vater nie mehr wieder­kommen wird.
Haupt­säch­lich geht es in diesem Film nun darum, wie die Familie genau damit umgeht, wie die Mutter die Familie gewis­ser­maßen neu ausrichtet und die Erin­ne­rung an den Vater pflegt.

+ + +

Auch in The Brutalist geht es um einen Versehrten, aller­dings anderer Art: Adrian Brody – der sehr gut auch einen Schau­spiel­preis für diese Rolle verdient gehabt hätte – spielt Laszlo Todt, einen ungarisch-jüdischen Emigranten, der die Shoa überlebt hat und 1947 in die USA emigriert, ein ehema­liger Bauhaus-Schüler und ausge­bil­deter Architekt, der hier aber zunächst einmal als Bauar­beiter und Kohlen­schaufler ganz unten wieder anfangen muss.
Dann kommt ein reicher Mann, gespielt von Guy Pearce, der durch Zufall heraus­ge­funden hat, wer Laszlo ist, der ihm helfen will und zu seinem Gönner wird. Er gibt ihm ganz viel Geld – aller­dings, wie das so ist, wenn Reiche viel Geld geben, dann wollen sie auch irgend­etwas dafür. Und so entsteht dann ein Abhän­gig­keits­ver­hältnis: Der reiche Mann ist ein netter Mäzen, der nicht nur nett ist.
»Brutalist« heißt der Film deshalb, weil es ganz viel um Archi­tektur geht, aber vor allem um das ameri­ka­ni­sche Jahr­hun­dert über 30 Jahre – ich fand The Brutalist einen groß­ar­tigen Film, der wird sicher nach Deutsch­land kommen und dann werden ihn alle auch sehen können. Ich würde auch dem Walter-Salles-Film wünschen, dass er nach Deutsch­land kommt, denn dies ist ein unbedingt sehens­werter Film.

+ + +

Glück­li­cher­weise hat Pablo Larraíns wich­tig­tue­ri­scher María gar keinen Preis bekommen – seine Dekon­struk­tion des Biopics mag man kunstvoll konstru­iert und verdichtet finden, Brady Corbets kompletter Fake-Ansatz mit all dem Authen­ti­zi­täts­an­spruch, den er betreibt, eine irreale Biogra­phie zu erzählen, ist auch unter diesem spezi­fi­schen Gesichts­punkt der viel viel span­nen­dere und schon deshalb bessere Film.

+ + +

Und kein Preis für Wang Bings Youth? Das war auch etwas über­ra­schend und schade. Über den wie über anderes wird hier noch bei nächster Gele­gen­heit mehr geschrieben werden.

Zu Joker 2, den ich nicht gesehen habe, gab es gegen­sätz­liche Stimmen. Ein öffent­lich-recht­li­cher Film­kri­tiker meinte kurz und bündig: »Der Joker nervt. Besonders Lady Gaga. Und Phoenix nervt auch. Lang­wei­liger küchen­psy­cho­lo­gi­scher Gesangs­quatsch, Nummern­revue.«
Ein anderer Freund, selbst ein toller Film­re­gis­seur, sah es ganz anders, und schrieb mir statt­dessen: »Absolut wieder ein Meis­ter­werk der letzten Jahr­zehnte – ich fand aller­dings den ersten noch besser, weil uner­war­teter. Der hier ist 'ange­nehmer' anzu­schauen, weil sie immer, wenn es hart wird, zu singen anfangen. Auch das Singen und Lady Gaga sind unglaub­lich gut.
Ist zwar ungerecht, aber tatsäch­lich der beste und klügste Film des Festivals, falls man das verglei­chen will.«

Der, der das schreibt, mochte übrigens auch Wang Bing sehr. Darum ist dieses Urteil nicht leicht einzu­schätzen.

+ + +

Eine Redaktion stellt mir zum Abschluss die Frage: »Was war das diesmal für ein Jahrgang?« Und ergänzt: »Man hat ja nur jubi­lie­rende Worte gehört: endlich wieder Star­auf­gebot am Lido?« – ich antworte, das mag schon sein, aber man müsse vor allem sehen, dass diese Stars und der Auftritt auf dem Roten Teppich ganz klar eine dienende Funktion haben – sie sind nicht der Zweck und schon gar nicht der Selbst­zweck, auch wenn manche Leute und die Sponsoren, bei denen diese Stars unter Vertrag stehen, die Mode- und Kosme­tik­kon­zerne das natürlich so behandeln, als ginge es nur um den Roten Teppich.
Tatsäch­lich dienen die Stars aber dem Kino. Sie sind nur da und die Leute kennen sie auch nur und inter­es­sieren sich auch nur für sie, weil sie gute Schau­spieler sind, und in Filmen irgend­welche tollen Auftritte haben.
Manchmal gerät das ein bisschen aus dem Blick auch in der Bericht­erstat­tung. Die Verhält­nisse verschieben sich da und man glaubt, die Neben­sache sei die Haupt­sache. Insgesamt war es ein sehr guter Jahrgang, aber nicht, weil die Stars aus Amerika wieder da waren, sondern weil es in allen Sektionen sehr sehr gute Filme gab.