81. Filmfestspiele von Venedig 2024
Goldene und andere Löwen in Venedig |
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Brasilien unter der Diktatur: Walter Salles I’m Still Here | ||
(Foto: Filmfestspiele Venedig · Walter Salles) |
»Wars, conflicts ― it’s all business.«
Der Titelheld in Charlie Chaplins schwarzer Nachkriegskomödie Monsieur Verdoux»Auf die Gerechten und die Ungerechten fällt der gleiche Regen.«
Aus: »King Ivory«
Auch ein Altmeister kann noch Neuland betreten, und so gewinnt Pedro Almodóvar mit fast 75 Jahren ausgerechnet mit seinem ersten englischsprachigen Film The Room Next Door seinen ersten Festival-A-Wettbewerb.
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In diesem Film, der in New York spielt, geht es um Künstler, die genauso leben und sind, wie man es sich vorstellt – es könnte sich auch um Pedro Almodóvars Freunde aus seinen Jugendzeiten in der Madrilener »Movida« handeln. Manchmal ging es ja auch in seinen spanischen Filmen um dieses Künstlermilieu.
Insgesamt kann man sowieso den Eindruck bekommen, dass der Regisseur in diesem Film auch schon ein bisschen Bilanz zieht, die eigene Lebensbilanz und zugleich die Bilanz
seiner Generation, einer Alterskohorte, die den Hedonismus der Achtziger erlebt und gelebt hat, genauso wie utopische Hoffnungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den Neunzigern, bevor dann mit 9/11 die große Desillusionierung begann.
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Die beiden Personen, die in diesem Fall im Zentrum stehen, sind zwei Frauen, gespielt von Julianne Moore und Tilda Swinton, die genau diesem Milieu und dieser Generation angehören: Sie sind ungefähr 60 plus X Jahre alt, die Figur von Julianne Moore schreibt Romane und Erzählungen mit Wellness-Flair, die Figur von Tilda Swinton schreibt Sachbücher und hat früher – in den Neunziger- und Nullerjahren – auch als Kriegskorrespondentin gearbeitet. Diese Todesnähe und die
Todeserfahrungen sind wichtig für das Folgende.
Denn die Tilda-Swinton Figur ist tödlich an Krebs erkrankt – sie kann nicht mehr genesen, das ist klar. Die beiden Frauen sind Freundinnen seit Jahrzehnten. Sie teilen viele Erfahrungen, Freunde, sogar ehemalige Liebhaber und andere biografische Stationen. Sie treffen sich ein paar Mal, unterhalten sich, reden auch ganz offen über die Vergangenheit und die Krankheit der Swinton-Figur, und irgendwann fragt diese ihre Freundin,
ob sie ihr beim Sterben helfen kann. Sie hat sich eine Sterbehilfe-Tablette aus dem Darknet besorgt – in den USA ist Sterbehilfe grundsätzlich verboten und gilt als Straftat – und nach kurzem Zögern reisen beide in ein gemietetes Haus auf dem Land. Tilda Swintons Figur möchte nicht alleine sterben, sie braucht das Wissen, dass sich da jemand Vertrautes im Raum nebenan aufhält. Daher der Titel des Films: The Room Next Door. Den kann man natürlich auch
auf den Tod oder den Raum des Sterbens beziehen, jedenfalls auf den Raum, den man betritt, wenn man die Grenze zum Tod überschreitet.
Eigentlich geht es genau um dies: Um die Dynamik zwischen den beiden Frauen; darum, dass es für Almodóvar unbedingt das Recht auf einen selbstgewählten Tod gibt, und es geht um die existentiellen Fragen: Wie geht man damit um, wenn man weiß, dass man bald sterben muss, und wenn man die technische Möglichkeit hat, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen?
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Der Luxemburger Kollege Marc Trappendreher, mit dem ich neulich hier für eine Folge unseres Podcasts ein Gespräch aufgezeichnet hatte, hat auf meine neulich gestellte Podcast-Frage, was Almodóvar eigentlich bei diesem Stoff will, und was ihn überhaupt an dieser Geschichte interessiert, noch einmal kurz geantwortet: »Ich habe dazu ein paar Gedanken: Einerseits
interessiert ihn diese spezifische Frage des Todes. Ich glaube, er verhandelt frühere Themen, also Liebe, Sex, die Libido, die Amour fou, das Rauschhafte, das seine früheren Filme ausgemacht hat, auch in diesem Film – sie sind anwesend, aber sie werden quasi aus der Rückschau und gewissermaßen sehr bedächtig angesehen. Das lässt diesen Film zusammen mit etwa Madres paralelas als
Alterswerk stehen, wo in besonderer Weise das frühere Schaffen und die eigene Filmografie in der Geschichte mitreflektiert werden. The Room Next Door ist natürlich ein Almodóvar-Kino im Sinne von melodramatischer Dramaturgie.
Was mich nicht so überzeugt hat, war die Tatsache, dass er mit amerikanischen Schauspielern arbeitet. Da geht etwas spezifisch Almodóvar-haftes verloren. Das Gefühl hatte ich ja auch, dass im Dialog zwischen Spanien und Amerika
etwas nicht funktioniert. Allerdings ist auch dies wiederum ein Film über Tod und Wiederkehr. Man könnte hier auch auf die Hitchcock-Filmografie verweisen. Almodóvar zitiert auch Hitchcock – für mich gibt es hier ganz klar Anspielungen auf Vertigo. Hier kann man sehen, dass Hitchcock bis heute wirkt und in diesem Sinne lebendig ist.«
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Natürlich muss man zugeben, dass das auch ein Film ist, der von westlichen Wohlstandsbürgern handelt, die keinerlei finanzielle Probleme haben, die in tollen Manhattan-Apartments wohnen, sich mit Kunst und den schönen Dingen beschäftigen – in Venedig sieht man auch ganz andere Filme.
Insofern gab es schon ein paar Beobachter, die auch fanden, dass dies eine Form von Wohlstandskino ist, das von Luxusproblemen handelt, dass hier in diesem Film keine so ernsthaften
Probleme verhandelt werden, wie in anderen Filmen. Mir hat The Room Next door allerdings nichtsdestotrotz sehr gut gefallen.
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Geht auch dieser Hauptpreis für mich in Ordnung? Ich hätte andere Filme mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, aber dass Almodóvar etwas bekommt, finde ich sehr richtig.
Außerdem muss man sagen: Vielleicht ist diese Auszeichnung auch ein bisschen als Auszeichnung für sein Lebenswerk gedacht, denn ob man es glaubt oder nicht, und so bekannt der Mann ist und so sehr man ihn seit Jahrzehnten kennt – Pedro Almodóvar hat noch niemals bei irgendeinem großen Festival den Hauptpreis
bekommen: Nicht die Goldene Palme, nicht den Goldenen Bär und eben auch nicht den Goldenen Löwen. Es gab Regiepreise, es gab Preise für die Schauspieler, aber noch nie den Sieg. Das hat er jetzt mit 75 Jahren geschafft. Ob er glücklich damit ist, dass es ihm gerade mit diesem Film gelungen ist, ausgerechnet mit einem englischsprachigen Film und englischsprachigen Schauspielern in einem fremden Land gedreht, und nicht mit einem Film, der ganz typisch für sein Kino ist, der in Madrid
spielt oder wenigstens in Spanien und der auch von der spanischen Kultur und Lebensart erzählt, das kann nur er selber wissen. Ich könnte vermuten, dass dies ein kleiner Wermutstropfen ist, aber gleichzeitig wird Almodóvar sicher sehr glücklich über diesen Preis sein, und das sei ihm unbedingt gegönnt.
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Vor der Preisverleihung gab es am Lido für viele, auch für mich, zwei andere große Favoriten: Der brasilianische Film I’m Still here von Walter Salles, der am Ende den Drehbuchpreis gewann, und The Brutalist von Brady Corbet, der den Regiepreis bekam. Beides Preise unter Wert.
Warum sie es nicht geschafft haben, den Hauptpreis zu gewinnen, dafür muss man die Jury fragen. Ich persönlich hätte schon gedacht, dass The Brutalist eine sehr gute Chance haben müsste, um mindestens eine so cinephile Schauspielerin wie Isabelle Huppert zu überzeugen.
Beides sind Filme, die natürlich auch von Menschen und Personen handeln, die aber diese Personen nicht wie Almodóvar aus allen Kontexten herauslösen, sondern im Gegenteil in einen politisch-kulturellen Kontext stellen.
Diese Filme sind in der Gesellschaft und in der Geschichte des jeweiligen Landes verankert.
In dem Film vom Brasilianer Walter Salles wollte ich zuerst gar nicht reingehen, zumal I’m Still Here auch nach Beginn des Festivals einer der ganz ganz wenigen Filme war, zu dem man noch Akkreditierten-Tickets buchen konnte, und weil ich irgendwie dachte, der Mann, dessen Goldener Bär Central Station mir 1997 schon zu altbacken vorkam und der danach mit der Che-Guevara-Verfilmung Die Reise des jungen Che – The Motorcycle Diaries einen sehr langweiligen konventionellen Möchtegern-Hollywood-Film gedreht hat, der dürfte kaum im Jahr 2024 plötzlich einen interessanten Film machen. Vielleicht aber doch? Denn nach der Premiere hatte ich ziemlich Gutes von sehr verschiedenen Leuten gehört und war nun mindestens neugierig geworden – schließlich gab es noch die Bemerkung: »Der könnte dir schon deswegen gefallen, weil er die Siebzigerjahre so schön und toll wieder auferstehen lässt.«
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Tatsächlich ist I’m Still here ein ziemlich guter Film. Ein Film, der den Zuschauer zunächst einmal in Sicherheit wiegt und auf diese Weise in die Irre führt. Der zwar von Anfang an klar macht, dass er im Brasilien unter der Militärdiktatur spielt, aber doch uns Zuschauern suggeriert, dass es unter dieser Diktatur so etwas wie ein heiteres schönes Leben geben könnte. Genau das aber kann es eben nicht geben. Und genau das zeigt der Film, will es auch
zeigen.
Man dringt zunächst als Beobachter ein in eine vermeintlich heile Welt von Wohlstandsbürger-Kindheiten, Coming-of-Age und Beachvolleyball, Sonne, blauer Himmel, heißer Sand und kühles Wasser. Die Zahnfee besucht die kleine Schwester, es gibt ein adrettes Dienstmädchen, ein schönes Haus, es gibt einen Hund, es gibt gute Musik – kurz musste ich an Roma von Alfonso Cuarón
denken, der etwa zur gleichen Zeit spielt, nur in einer Demokratie. Aber von Anfang an gibt es auch Warnsignale: der Hubschrauber, der über der Copacabana bedrohlich schwebt, als die Familie schwimmen geht, die Telefonanrufe und unklaren Geschäfte des Vaters, die Militärlastwagen auf der Straße, die brutalen Straßensperren und demütigenden Kontrollen.
Es geht dann um diese Familie im Brasilien der Militärdiktatur – es gibt reale Vorbilder für sie. Man ist oppositionell, der Vater ist ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter, der jetzt als Geschäftsmann arbeitet, aber wie sich herausstellt, im Untergrund immer noch Teil von oppositionellen Netzwerken ist. Eines Tages wird er vom Geheimdienst abgeholt und auch die Frau und eine Tochter werden in dunkle Gefängniszellen geworfen und dort streng verhört, wenn man so
will psychisch gefoltert, allerdings glücklicherweise nicht körperlich. Sie kommen wieder raus, aber es ist ziemlich schnell klar, dass der Vater nie mehr wiederkommen wird.
Hauptsächlich geht es in diesem Film nun darum, wie die Familie genau damit umgeht, wie die Mutter die Familie gewissermaßen neu ausrichtet und die Erinnerung an den Vater pflegt.
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Auch in The Brutalist geht es um einen Versehrten, allerdings anderer Art: Adrian Brody – der sehr gut auch einen Schauspielpreis für diese Rolle verdient gehabt hätte – spielt Laszlo Todt, einen ungarisch-jüdischen Emigranten, der die Shoa überlebt hat und 1947 in die USA emigriert, ein ehemaliger Bauhaus-Schüler und ausgebildeter Architekt, der hier aber zunächst einmal als Bauarbeiter und Kohlenschaufler ganz unten wieder anfangen muss.
Dann
kommt ein reicher Mann, gespielt von Guy Pearce, der durch Zufall herausgefunden hat, wer Laszlo ist, der ihm helfen will und zu seinem Gönner wird. Er gibt ihm ganz viel Geld – allerdings, wie das so ist, wenn Reiche viel Geld geben, dann wollen sie auch irgendetwas dafür. Und so entsteht dann ein Abhängigkeitsverhältnis: Der reiche Mann ist ein netter Mäzen, der nicht nur nett ist.
»Brutalist« heißt der Film deshalb, weil es ganz viel um Architektur geht, aber vor allem um
das amerikanische Jahrhundert über 30 Jahre – ich fand The Brutalist einen großartigen Film, der wird sicher nach Deutschland kommen und dann werden ihn alle auch sehen können. Ich würde auch dem Walter-Salles-Film wünschen, dass er nach Deutschland kommt, denn dies ist ein unbedingt sehenswerter Film.
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Glücklicherweise hat Pablo Larraíns wichtigtuerischer María gar keinen Preis bekommen – seine Dekonstruktion des Biopics mag man kunstvoll konstruiert und verdichtet finden, Brady Corbets kompletter Fake-Ansatz mit all dem Authentizitätsanspruch, den er betreibt, eine irreale Biographie zu erzählen, ist auch unter diesem spezifischen Gesichtspunkt der viel viel spannendere und schon deshalb bessere Film.
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Und kein Preis für Wang Bings Youth? Das war auch etwas überraschend und schade. Über den wie über anderes wird hier noch bei nächster Gelegenheit mehr geschrieben werden.
Zu Joker 2, den ich nicht gesehen habe, gab es gegensätzliche Stimmen. Ein öffentlich-rechtlicher Filmkritiker meinte kurz und bündig: »Der Joker nervt. Besonders Lady Gaga. Und Phoenix nervt auch. Langweiliger küchenpsychologischer Gesangsquatsch, Nummernrevue.«
Ein anderer Freund, selbst ein toller Filmregisseur, sah es ganz anders, und schrieb mir stattdessen: »Absolut wieder ein Meisterwerk der letzten Jahrzehnte – ich fand
allerdings den ersten noch besser, weil unerwarteter. Der hier ist 'angenehmer' anzuschauen, weil sie immer, wenn es hart wird, zu singen anfangen. Auch das Singen und Lady Gaga sind unglaublich gut.
Ist zwar ungerecht, aber tatsächlich der beste und klügste Film des Festivals, falls man das vergleichen will.«
Der, der das schreibt, mochte übrigens auch Wang Bing sehr. Darum ist dieses Urteil nicht leicht einzuschätzen.
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Eine Redaktion stellt mir zum Abschluss die Frage: »Was war das diesmal für ein Jahrgang?« Und ergänzt: »Man hat ja nur jubilierende Worte gehört: endlich wieder Staraufgebot am Lido?« – ich antworte, das mag schon sein, aber man müsse vor allem sehen, dass diese Stars und der Auftritt auf dem Roten Teppich ganz klar eine dienende Funktion haben – sie sind nicht der Zweck und schon gar nicht der Selbstzweck, auch wenn manche Leute und die Sponsoren, bei denen diese Stars
unter Vertrag stehen, die Mode- und Kosmetikkonzerne das natürlich so behandeln, als ginge es nur um den Roten Teppich.
Tatsächlich dienen die Stars aber dem Kino. Sie sind nur da und die Leute kennen sie auch nur und interessieren sich auch nur für sie, weil sie gute Schauspieler sind, und in Filmen irgendwelche tollen Auftritte haben.
Manchmal gerät das ein bisschen aus dem Blick auch in der Berichterstattung. Die Verhältnisse verschieben sich da und man glaubt, die
Nebensache sei die Hauptsache. Insgesamt war es ein sehr guter Jahrgang, aber nicht, weil die Stars aus Amerika wieder da waren, sondern weil es in allen Sektionen sehr sehr gute Filme gab.