39. DOK.fest München 2024
Kurzkritiken |
In Kooperation mit der LMU München.
Ausbeutung in der Pflege. Über 60.000 rumänische Pflegekräfte arbeiten als 24-Stunden-Kräfte in Österreich, und eine von ihnen ist Sadina. Sie kommt aus einer Kleinstadt und lässt bei ihrem Abschied ihre weinenden Eltern zurück. Dann begibt sie sich auf die lange Autofahrt nach Österreich, wo sie eine schwerkranke alte Dame pflegt. Sie ist immer freundlich und scheint klaglos zu arbeiten, doch in Telefonaten mit Freundinnen und Familie wirkt sie müde und spricht offen über die Strapazen der Ganztagespflege. Ihr Alltag und die Zweckbeziehung der beiden Frauen werden in langen Einstellungen gezeigt. Der Film regt zum Nachdenken an, was wir als westliche Gesellschaft diesen Frauen aus Rumänien aufbürden, nur weil wir uns nicht um unsere Alten kümmern können oder wollen. – Jonas Hey, LMU München
Einmal hin. Alles drin. In Spielfilmlänge stellt Regisseur Joerg Burger das Naturhistorische Museum in Wien vor. Die Tour durch die Abteilungen beginnt mit einem seltenen Papagei und geht weiter über einen Dinosaurier zu einem Elefanten. Man bekommt das zu sehen, was man in einem Museum erwarten würde: Einzelne Wissenschaftler besprechen untereinander die Konservierung eines Präparats oder erklären dem Zuschauer ihre Arbeit und deren Herausforderungen. Allgemein wird dabei die schlechte Finanzausstattung beklagt, wobei gerade hier hätte man sich eine Außensicht gewünscht, die das Gehörte einordnet und in einen Rahmen stellt. Diese Doku zeigt nur Bekanntes, ohne aber Eigenes oder Originelles abzuliefern. – Jonas Hey, LMU München
Eine schier endlose Wand grüner Kisten; mittendrin verschwindend klein drei Menschen. Dieses Muster einer überwältigenden Menge an Material und ihre unmöglich scheinende Aufarbeitung wiederholt sich immer wieder – mal sind es Tier-Präparate, mal Mineralien, mal Pflanzen. Der Blick hinter die Kulissen des Naturhistorischen Museums Wien verdeutlicht nicht nur die breite Varianz der dortigen Forschung, sondern richtet den Fokus vor allem die Menschen und ihre Arbeit. Gerade Laien wird hier ein tiefer Einblick in museale Grundlagenforschung und ihre Probleme ermöglicht. Weit weg vom klassischen Blick auf Architektur oder Institution, dennoch oft mit statischer Kamera und monumental wirkenden Bildern – nur eben nicht von Gebäuden. So kontrastiert dieser faszinierende Film die fast schon gespenstische Atmosphäre der unzähligen Lagerräume – immer wieder untermalt von musikalischen Klangbetten – mit der nüchternen, aber sehr lebendigen Forschungsumgebung. – Anna Schellkopf, LMU München
Facettenreich wie Gefieder zeigt Archiv der Zukunft Vignetten aus den selten gesehenen Gefilden des Naturhistorischen Museums in Wien. Statt die traditionsträchtige Institution in ihrer musealen Funktion zu portraitieren, nimmt der Film die Bandbreite wissenschaftlicher Arbeit am Haus unter die Lupe. Im präzisen Wechsel von Detailaufnahme und Makrostruktur bietet er Einblicke in Forschungsprozesse von Biologie, Geologie, Archäologie, Anthropologie, Paläontologie. Dabei liegt der Fokus auf den Menschen – Wissenschaftler*innen, Handwerker*innen, ehrenamtliche Rentner*innen – die diese Forschung betreiben oder möglich machen. Ihre vielfältigen Stimmen formulieren wiederholt die Relevanz von Grundlagenforschung und deren Bedrohung durch sinkende Finanzierung als eine politische Dringlichkeit. – Lee Redepenning, LMU München
Schwurbelalarm am Berg. Die Doku beginnt mit malerischen Aufnahmen der Schweizer Alpen. Dort erforschen Wissenschaftler Schwingungen des Berges, Abschmelzen der Gletscher und Bergvegetation. Das eintretende Wohlgefühl wird schnell durch Unglauben ersetzt, als weitere Protagonisten ins Bild treten. Das Gefühl einer Bergführerin, der Tod ihres Mannes sei nicht dem Eiger zuzurechnen, ist ob des Verlustes verständlich. Ein namenloser Unternehmer tritt auf und erklärt wenig überzeugend, dass nicht Gier ihn antreibt. Dann allerdings tritt ein Manager im Ruhestand auf, der einer Wasserader nachspürt und ein Kraftfeld auf einer Bergwiese findet. Es ist unfassbar, dass diese esoterischen Botschaften ungefiltert und unkommentiert im endgültigen Film gelandet sind. Man fragt sich, wie ein solcher Meinungsfilm zu einem Festival eingeladen wurde. – Jonas Hey, LMU München
Wir gehen nicht in Rente. Der Dutt sitzt, die Nägel immer noch knallrot lackiert, die Pumps etwas schiefgelaufen: Francina kam in den 1970er Jahren nach Argentona, in die Provinz Barcelona, um zu lernen, wie sie einen Tisch perfekt deckt. Das beherrscht sie heute immer noch. Sie arrangiert die Blumen, während ihr Mann Francescs in der Küche den Fisch filetiert. Gemeinsam führen und leben sie seit über 50 Jahren für das Restaurant »El Raco d’en Binu«. Die Regisseure Guillem Cabra und Mar Clapés nehmen die Zuschauer mit in die Vergangenheit, die für die beiden Protagonisten immer noch die eigene Gegenwart ist. Francescs erzählt stolz von den zwei Michelin-Sternen, die er erkocht hatte und mit Groll, wie er sie wieder verlor. Zwar scheinen die goldenen Jahre des Restaurants vorüber zu sein, doch mit dem von einer jungen Frau gepflegten Instagram-Account erlebt das Binu ein Revival. Übrigens denken die beiden nicht daran, aufzuhören und in Rente zu gehen, wieso auch. – Ingrid Weidner
Fragmente eines Selbstporträts. Unterlegt mit stilllebenartigen Filmsequenzen lauschen wir zumeist Telefonaten des Regisseurs mit seinem Vater. Beide verbindet der Wunsch, Filme zu machen. Die Gespräche fokussieren sich häufig auf das Filmemachen, allerdings auch auf das seelische Innenleben der Protagonisten. Entstanden ist ein eindringliches Werk, welches vor allem vom Zuhören und Nachdenken handelt. Das Konzept des Filmes mag zuweilen sperrig wirken, entfaltet jedoch auch aufgrund der interessanten Gespräche sein volles Potential. Was bleibt, ist ein Film über das Filmemachen sowie ein kleiner Einblick in das Leben und die Gedanken eines sich im Exil befindenden Künstlers, der aus der Korrespondenz mit seinem Vater ein fragmentarisches Selbstporträt entstehen lässt. – Christian Schmuck, LMU München
Verstörend echter Krieg. Als 19-jähriger filmt der Regisseur Muhannad Lamin (Donga) den arabischen Frühling in seiner Heimat Libyen. Er will im Gegensatz zur Propaganda unverfälschte Bilder zeigen. Dabei geht er blauäugig in den Krieg und erlebt sofort Tod und Zerstörung. Nach dem Frieden zieht er 2016 erneut in den Krieg, um diesmal als offizieller Berichterstatter zu filmen. Die Aufnahmen werden schärfer und nehmen die Gräuel noch stärker in den Fokus. In der Gegenwart kontextualisiert er dann das Gezeigte. Die Kampfszenen sind mit rhythmisch bedrohlichen Klängen unterlegt, während ruhige Szenen immer wieder von Explosionen zerrissen werden. Dieser Krieg ist anders und vor allem echt im Vergleich zu Hollywood-Spielfilmen. Passend dazu appelliert Donga am Ende für Frieden, denn der Krieg hat ihn traumatisiert. – Jonas Hey, LMU München
Farbe als Gewaltakt. Die weißen Wände des Hauses E.1027 bilden das Herzstück von Eileen Grays Schaffen und das Zentrum des Films. In ihnen ist es der Kamera ein Leichtes, in jeder Einstellung die Eleganz und persönliche Relevanz des Gebäudes einzufangen. Kontrastiert wird dieses Spiel von Form, Licht und Material durch Sequenzen in einem abstrakten, schwarzen, bühnenhaften Raum. Dort sind die Körper und Persönlichkeiten der drei Größen der Moderne – Eileen Gray, Jean
Badovici, Le Corbusier – im Fokus. Der zuschauende Blick fällt auf kleinste Bewegungen, Proxemik und Gefühl.
Das Haus erscheint als Utopie. Bis sich Le Corbusier den Ort mit patriarchaler Selbstverständlichkeit aneignet, die Wände bemalt. Dabei zielt der Film nicht auf stumpfe Verurteilung. Mit einem kritischen Blick macht er Komplexes sichtbar und gewährt Gray das letzte Wort zu ihrem Werk. – Lee Redepenning, LMU München
Ein Haus am Meer, davon träumen viele. Eileen Gray hat sich diesen Traum gemeinsam mit ihrem damaligen Lebenspartner, dem rumänischen Architekten und Kritiker Jean Badovici, erfüllt. 1929 war das von ihr entworfene Wohnhaus E.1027 in Roquebrune-Cap-Martin an der Französischen Riviera fertig. E.1027 ist ein elegantes, L-förmiges Gebäude mit einem Flachdach und bodentiefen Fenstern, die sich zum Meer hin öffnen, sowie vielen innovativen Details. Die Wände blieben weiß, das war Gray wichtig. Der kryptische Name E.1027 ist ein Kürzel: E steht für Eileen, 10 für Jean (J ist der zehnte Buchstabe des Alphabets), 2 für Badovici und 7 für Gray. Das außergewöhnliche Haus wurde bald in Fachzeitschriften porträtiert und weckte auch das Interesse von Le Corbusier, der eine ganz andere Vorstellung von Architektur hatte. Regisseurin Beatrice Minger wollte keinen weiteren Film mit Experteninterviews, wie es ihn schon gibt, sondern inszenierte mit drei Schauspielern die Auseinandersetzung am Originalschauplatz und auf einer Bühne. Die Dialoge hat sie aus Tagebüchern und Aufzeichnungen sowie Archiven rekonstruiert. Doch der Star des Films und seine große Faszination bleibt E.1027. – Ingrid Weidner
Wichtiger Film, aber falsche Zuordnung. In Reenactments steht das Leben von Eileen Gray wieder auf. Die Designerin entwirft und baut eine Villa im Bauhaus-Stil an der Côte d’Azur. Doch bald bemalt der Architekt Le Corbusier die Wände des Hauses und übernimmt noch die Urheberschaft. In feinsinnigen Aufnahmen stellen die Schauspieler die Szenen nach. Bereits verfallene Gebäude werden durch Studioinstallationen ersetzt, in denen sich die Figuren ganz natürlich bewegen. Man verlässt den Film mit einem Bauchgrummeln über die Ungerechtigkeiten, die Gray angetan wurden. Zudem fragt man sich, warum dieser Spielfilm auf einem Dokumentarfilmfestival läuft. – Jonas Hey, LMU München
Wenn künstliche Intelligenz die Toten auferweckt. Mehrere Start-ups haben sich diese Idee zu eigen gemacht und bieten den Menschen die Möglichkeit, ein letztes Gespräch mit einem Avatar ihrer verstorbenen Verwandten zu führen. So wollen sie den Trauernden helfen. Echter Altruismus oder Ausnutzen des menschlichen Leids? Inwieweit kann unser Bewusstsein durch Technologie reproduziert werden und welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um unsere Angehörigen »unsterblich« zu machen? Zwischen Ethik und Kapitalismus untersucht diese Dokumentation die schwierige Frage der Trauer und die unserer Menschlichkeit. Eternal You wirkt wie eine gelungene Dystopie: Sie schockiert und erschüttert vollkommen den Zuschauer, der im Verstand, in seinen Werten oder in seinen Gefühlen keinen Halt mehr findet. –Antonia Steinhoff, LMU München
Die tote Tochter im Abomodell wiedersehen – diese Zukunft verspricht die sogenannte »Digital Afterlife Industry«.
Von ihr wird bedient, wer sich auch über den Tod hinaus an den Liebsten festklammern will und bereit ist, eine fast schon nekromantische Verwendung künstlicher Intelligenz hinzunehmen. Im Versuch, das Sterben zu überwinden, sollen mit dieser Technologie Verstorbene als digitales Faksimile wieder zum Leben erweckt werden – natürlich gegen
entsprechende Bezahlung und dem Datenschutz zum Trotz.
Interviews und Verwendung echter Chatprotokolle mit diesen 'digitalen Untoten' stellen eine intime Nähe zu den Protagonist:innen her. Diese sorgt für einen eindrücklichen, emotionsgeladenen Film, der dennoch keine eigene Stellung zum Thema bezieht. Das Publikum bleibt nachdenklich zurück – während die Hinterbliebenen mit ihrer vergeblichen Suche nach Absolution noch immer dem Größenwahn und den
Gottkomplexen dieses skrupellosen Todeskapitalismus gegenüberstehen. – Anna Schellkopf, LMU München
»Zwei Meter groß, aber sehr mädchenhaft«: So beschreibt sich die 19-jährige Trans-Frau Fanni, die von zuhause weggelaufen ist. Unterschlupf findet sie im Bretterverschlag des manischen Bastlers Laci am Rand von Budapest. Sie hilft ihm beim Sägen und kann sich hier ungestört schminken. Bei dem 60-Jährigen erfährt sie endlich jene bedingungslose Sympathie, die ihr Internet-Follower nicht bieten können. Doch dann kommt mit der ersehnten Hormonkur die Depression und Laci weiß nicht mehr, wie er seiner Ziehtochter helfen soll. Im Rhythmus der stimmungsvoll fotografierten Jahreszeiten fühlt sich Fairy Garden in zwei Außenseiter in Viktor Orbáns Saubermann-Ungarn ein, in dem Obdachlosigkeit kriminalisiert wird und Geschlechtsumwandlungen offiziell nicht möglich sind. Inzwischen lebt Fanni in Amsterdam. – Katrin Hillgruber
Über den Einsatz von Medien in Schulen und das Beibringen von Medienkompetenz für Kinder und Jugendliche wird regelmäßig diskutiert. Ähnlich verhielt es sich Ende der 1960er Jahre, wo der Regisseur Edgar Reitz probeweise eine Schulklasse im Fach »Film« unterrichtete – und dies wiederum in einem Dokumentarfilm verarbeitete. 55 Jahre später treffen sie sich alle wieder, die Mädchen-Schulklasse von damals und der Regisseur. Filmstunde_23 ist eine bunte Mischung aus Eindrücken der heute Erwachsenen und von Edgar Reitz, dem ersten Dokumentarfilm sowie den Filmen, den die Schülerinnen im Rahmen des Unterrichts damals selbst machten. So wird auf eine anekdotische und persönliche Art erzählt, und zugleich gezeigt, wie Diskussionen zum Umgang mit (Massen-)Medien im Schulunterricht bereits vor einem halben Jahrhundert existierten. – Paula Ruppert
Film im Film im Film. Eine Gruppe älterer Frauen stellt sich zum Foto vor dem Klassentreffen auf. Genau für diese Klasse hatte Regisseur Edgar Reitz im Jahr 1968 Filmunterricht an ihrer Schule angeboten. Mit ihm eigneten sich die damaligen Mädchen Grundkenntnisse der Filmtheorie an und drehten ihre eigenen Filme. Dies wurde einst von einem Kamerateam aufgenommen und von Reitz zur Doku »Filmstunden« verarbeitet. Jetzt, in der Gegenwart, berichten die ehemaligen Schülerinnen vom Unterricht und kommentieren ihre eigenen Filme. Es entstehen ungesehene Einblicke in das Leben der Mädchen, aber auch in die Methodik des Unterrichts. Edgar Reitz und sein Jetztzeit-Co-Regisseur Jörg Adolph falten diese Zeitebenen geschickt zu einem Origami zusammen, das einen tiefen Eindruck hinterlässt und die Frage aufwirft, warum es eigentlich keinen verpflichtenden Filmunterricht an Schulen gibt. – Jonas Hey, LMU München
Warten auf das Licht. In einem indischen Dorf nahe der Grenze zu Myanmar leben die Menschen nachts im Licht der Taschenlampen. Eine Stromleitung wurde mehrmals versprochen, doch bisher müssen sich die Dorfbewohner mit Solaranlagen behelfen. Zudem führt die nationale Minderheit der Naga einen Guerillakrieg gegen die indische Zentralregierung. Als das Vertrauen auf eine Erhellung ihrer Situation bereits wieder schwindet, erhält das Dorf doch noch Strom. Zuerst beleuchten sie nur ihren Veranden, dann wird der erste Kühlschrank und schließlich Fernseher angeschafft. Der westliche Luxus und mit ihm die Konsumkultur hält auch hier Einzug. Leider wird der Film immer wieder durch Texteinblendungen unterbrochen und auch sonst wäre ein stärkerer Fokus auf die Meinungen der Menschen erhellend gewesen. – Jonas Hey, LMU München
Bär und Mensch im Spannungsfeld. Der Jogger Andrea Papi stirbt 2023 im Trentino durch einen Bärenangriff, was Proteste zum Schutz, aber auch die Forderung nach Abschuss der Bärin und juristischer Aufarbeitung auslöst. Dieselbe Bärin hatte bereits 2012 zwei Männer verletzt, aber ihr Abschuss wurde gerichtlich aufgehoben. Nun flammt der Konflikt zwischen Naturschützern und besorgten Dorfbewohnern erneut auf. Geradezu populistisch heizen beide Seiten den Konflikt an, besonders auch die Eltern des getöteten Joggers. Zwischen den Fronten stehen die Ranger der Region, die die Tiere überwachen, aber im Zweifel auch erschießen müssen. Von den Bären gibt es viele Aufnahmen, die ihr Verhalten anschaulich zeigen. Der Doku gelingt es, die Spannung zwischen den Gruppen aufzuzeigen, ohne selbst Position zu beziehen. – Jonas Hey, LMU München
Flackernde Lichter, Handytaschenlampen. Schubladen werden aufgerissen und ihr Inhalt durchsucht. Innerhalb der Gruppe der Taliban ist das Erstaunen groß, auf welch gewaltigen Nachschub die US-Truppen in Afghanistan zurückgreifen konnten. Es ist August 2021, erst vor wenigen Tagen verließen US Armee und CIA den Stützpunkt Hollywood fluchtartig. Was zurückblieb, ist nun in den Händen der brutalen neuen Herrscher in Afghanistan. Filmemacher Ibrahim Nash´at verfolgte die Gruppe um den neuen Kommandeur der Taliban-Luftwaffe ein Jahr lang mit der Kamera, alles unter der Prämisse, dass die Taliban festlegten, was gefilmt werden durfte – und was nicht. Trotzdem gelingt es dem Regisseur, entlarvende Szenen zu verfolgen, in denen von der Einnahme Tadjikistans fantasiert wird und die Kämpfer gleichsam trunken und überfordert sind: von ihrer neuen Macht. – Philipp Thurmaier
Ein Leben in Fotos. Libuše Jarcovjáková wehrt sich gegen die Repressionen des kommunistischen Regimes in Tschechien, reist zunächst illegal und später, mit Hilfe einer Scheinheirat, legal ins Ausland. Ihr erstes Ziel ist Japan. Dort beginnt sie eine Karriere als Modefotografin, kehrt jedoch kurze Zeit später, unzufrieden mit der mangelnden Selbstdarstellung in ihren Bildern, nach Prag zurück. Hier gibt sie Tschechischunterricht und findet in ihren
Arbeitskollegen neue Freunde. Durch diese lernt sie das illegale und queere Nachtleben Prags kennen, dessen Wurzeln sie schlussendlich dazu verleiten, nach Westberlin zu ziehen.
Von den Prager Frühlingsdemonstrationen bis zum Fall der Berliner Mauer dokumentiert Libuše Jarcovjáková alles mit ihren Fotografien. Die Fotokamera beschreibt sie später als die einzige Konstante in ihrem Leben, mit welcher sie kontinuierlich versucht festzuhalten, wer sie eigentlich
ist. – Allison Geyer, LMU München
Sie sind unter uns. Seit den 90er Jahren sind die Wölfe in Deutschland wieder heimisch geworden. Wir sehen sie in einem Maisfeld vor einer Wildkamera vorbeilaufen, durch eine Siedlung trotten oder einen Waldweg kreuzen. Sie werden von Biologen intensiv erforscht, aber ihre Anwesenheit gefällt nicht allen. Besonders Schäfer und Viehhalter fürchten um ihre Herden. In einer Anhörung im Bundestag treffen verschiedene Positionen aufeinander, wobei sachliche Argumente abgewogen und vor allem Herdenschutzhunde als Lösung präsentiert werden. Leider wird auch eine Bauerndemo gezeigt, deren populistische Meinungen ungefiltert und unkommentiert in die Doku aufgenommen werden. Ohne Interviews fehlt dem Film die Gesprächs- und Themenführung. So bleibt es bei einer seichten Doku aus verschiedenen Versatzstücken. – Jonas Hey, LMU München
H-Ö-G-E-L. Fünf Buchstaben für das Grauen. Niels Högel ist der Verantwortliche für die größte Mordserie der bundesdeutschen Geschichte. Wie schaffen es seine Eltern, daran nicht zu zerbrechen? Jenseits von Schuld fängt mal rührend, mal humorvoll die Auswirkungen von Gräueltaten auf selten beleuchtete Opfer ein: Die Eltern des Täters. Gezeigt wird ihr Bemühen, sich nicht in der Schuld ihres Sohnes zu verlieren, jenseits von ihr zu sein, aber auch die Momente, in denen das nicht gelingt. Der Sohn bleibt bei ihnen präsent, ruft zweimal täglich an. Eine seltene Perspektive, die Wirkungen von verschiedenen Bewältigungsstrategien und ganz nebenbei das normalste norddeutsche Familienporträt, in der erschreckendsten Anomalie. – Selahattin Genis, LMU München
Die Karriere in der Musik: Von ihr träumen viele, erreichen tun sie die wenigsten. Geschafft hat sie Joana Mallwitz, die momentan wohl bekannteste Dirigentin klassischer Orchester auf der ganzen Welt. Der Film begleitet sie zwei Jahre bei ihrem Beruf und bietet auch kleine Einblicke in ihr Privatleben mit Kind und ebenfalls berufstätigem Mann. All das zeigt der Film, ohne sie dabei nur auf eine Frau zu reduzieren, die Karriere und Familie vereint. Gezeichnet wird das Portrait einer angenehm bodenständigen jungen Dirigentin, die zwar ganz genau weiß, wie die Branche funktioniert und was die Leute von ihr hören wollen, für die aber die Arbeit mit den Orchestermusikern im Zentrum steht. Trotz ein paar Längen bietet der Film einen interessanten Einblick in die Arbeit hinter der Bühne. – Paula Ruppert
Flucht ins Ungewisse. Zu Beginn begleiten wir eine Night Mover, die auf einen Kunden wartet. Durch ihre Dienste können Menschen in Japan über Nacht verschwinden. Durch die Protagonist:innen erfahren wir, dass es an Ehekrisen, Erpressung durch die Mafia oder einen Chef, überhöhte Leistungserwartungen oder Mentale Krankheiten liegen kann. Hier liegt bereits der Knackpunkt, da bis auf einen Fall nur Opfer zu Wort kommen, die über Nacht ihr altes Leben verlassen haben. Die andere Perspektive kommt nicht vor, und so bleibt es unklar, ob die Aussagen der Wahrheit entsprechen. Durch die Kooperation mit BR und arte ist eine hochwertige Doku entstanden, die sich für Figuren und Aufnahmen Zeit nimmt. Das Eintauchen in diese fremde Welt macht den Reiz des Films aus. – Jonas Hey, LMU München
»Full of joy, happiness and love.« So beschreibt Regisseurin Małgorzata Imielska das Leben der 19-jährigen Gosia. Begriffe, die man zunächst nicht mit psychischen Krankheiten in Verbindung bringt; doch sieht man Gosia sorglos tanzen mit Regentropfen im Haar und ausdrucksstarker Mimik – jeden einzelnen Beat genießend –, scheinen die Hürden ihres Alltags vergessen. Denn sie sind sehr wohl da; die Geister in ihrem Kopf. Stimmen, die sie einfach nicht in Ruhe lassen. Just hear me out ist ein zartes Portrait über Krankheit und Hoffnung, das mit seinen Höhen und Tiefen den inneren Kampf der Schizophrenie widerspiegelt. Wie erwachsen werden, wenn man die eigenen Eltern bitten muss, zu deren Sicherheit die Messer in der Küche zu verstecken? Die Kamera versperrt immer wieder den Blick auf Gosia – eine Verdeutlichung ihrer Ohnmacht, ihr Selbst klar zu sehen. Sie kann sich nicht lieben und dabei ist sie es, die stets zur emotionalen Stütze für die Menschen um sich herum wird. Erwachsen-Sein zeigt sich in den kleinen Dingen. Der Mut der jungen Frau auf der Leinwand beweist das. – Maria Feckl, LMU München
Das Leben in der Glasglocke. Drei Jahre lang wird die 19-jährige Gosia begleitet. Just hear me out porträtiert die Auf und Abs ihres Lebens mit der Schizophrenie. Wer nun was hört, ist unklar: Gosia hört Stimmen, die sie quälen. Durch vereinzelte Handykameraaufnahmen gelingt es dem Film, dass wir meinen Gosia zu hören. Meinen, zu hören, was sie hört. Aber kann man in die Glasglocke der psychischen Qualen wirklich reinhören? Der Film versucht es, schafft es teilweise, scheitert allerdings auch an dieser anspruchsvollen Zielsetzung. Gosias Kampf für ein »normales« Leben, der Selbstmordversuch einer engen Freundin, der elterliche Umgang mit der ständigen Gefahr des Verlustes des eigenen Kindes. Dramatik, die Unbehagen auslöst, aber wird Gosia wirklich verstanden? Just hear her out. – Selahattin Genis, LMU München
Gerechtigkeit in Afghanistan. Zahra hat Selbstmord begangen und nun fordert ihre Familie Gerechtigkeit ein. Doch die Familie kann sich häufige Reisen in die ferne Hauptstadt Kabul nicht leisten, und Gerichte weisen die Klagen ab. Erdrückend langsam vergehen Jahre, die im Film nur am Wechsel der Jahreszeiten zu erkennen sind. Dazu erzählt die jüngere Schwester Freshta von der Schikane des Professors in Kabul und vom letzten Telefonat. Bald beginnt sie selbst, an einer Provinzuni zu studieren, und es scheint, als wolle sie die Arbeit ihrer Schwester fortführen. Der Vormarsch der Taliban stoppt ihr Studium und löst die Struktur der Familie und der Handlung auf. Der Film ist unfassbar langsam erzählt und nur das Warten auf das unausweichliche Ende hält einen wach. – Jonas Hey, LMU München
Songea, Tansania. Eine große Familie umringt ein Grab – sie sprechen zu ihrem Vorfahren, der hier beerdigt wurde. Doch der Tote findet keine Ruhe, ebenso wie seine Angehörigen. »Es ist wie ein nie endendes Begräbnis…«, sagt einer der Nachfahren. Dem toten Songea Mbano wurde der Kopf geraubt, nachdem er von deutschen Kolonialtruppen zusammen mit 68 anderen gehängt wurde. Der deutsche Afrikaforscher Felix von Luschan raubte allein in Afrika mehr als 12000 Schädel und Gebeine im Dienst der deutschen Wissenschaft. Bis auf wenige Ausnahmen lagern diese Überreste tausender Menschen immer noch in deutschen Museen und Sammlungen. Die beiden Regisseurinnen Cece Mlay und Agnes Lisa Wegner nähern sich diesem noch sehr wenig beleuchteten Kapitel deutscher Gewaltgeschichte behutsam und aus der Perspektive der Angehörigen an. – Philipp Thurmaier
Lange Schatten des Kolonialismus. In der deutschen Besatzungszeit wurden viele menschliche Gebeine aus den Kolonien nach Deutschland gebracht. Nun setzen sich die Familien Mbano und Kaaya dafür ein, einen Schädel bzw. den Körper ihrer Vorfahren zurückzuerhalten. Während die tansanische Regierung untätig bleibt, treibt eine Freiwilligengruppe in Berlin die Suche voran. In langen Einstellungen zeigt der Film, wie tief die Trauer um die verschleppten Nachfahren in den Familien sitzt. Es bricht einem das Herz, diesen gütigen Menschen dabei zuzusehen, wie sie über ihren Verlust und ihre vergebliche Suche sprechen. Zwar besucht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Tansania und entschuldigt sich bei den Opfern, doch bis heute wurden die Gebeine nicht zurückgegeben. Nach diesem Film bleibt man schockiert und wütend ob der Ungerechtigkeit zurück. – Jonas Hey, LMU München
Ein gewöhnlicher Dokumentarfilm über eine außergewöhnliche Sängerin. Cyndi Lauper wächst in den Migrantenvierteln von New York auf und wird durch ihre Mutter musikalisch geprägt. Nach vielen Fehlschlägen gelingt ihr mit den Hits »Girls just wanna have fun« und »Time after Time« der internationale Durchbruch. Dabei lässt sie sich von Produzenten, Studios und der Gesellschaft keinen Stil vorschreiben. In archivalischen Aufnahmen sehen wir Lauper aufwachsen, ihre Stücke singen oder in Talkshows auftreten, was durch die Talking Heads von Lauper, ihren Geschwistern und Managern eingeordnet wird. Modern wirken die feministischen und queeren Inhalte der Lieder. Ansonsten schwimmt die Doku auf der Welle der Dokus über Leben und Karriere gealterter Stars. – Jonas Hey, LMU München
Jedes Detail muss sitzen. Die Stimmung ist andächtig gedrückt, als die Damen der Hochzeitsmusik die Braut schmücken. Ob man sich zu einem freudigen Anlass oder nur einem Tagesordnungspunkt begibt, bleibt offen. Doch die Musik spricht Bände: wenn die Schwestern Najeh und Waffeh mit Mutter Fatma die Braut musikalisch in den Festsaal geleiten, zeigt diese das Innere der Frauen. Die Stimme der jüngeren Schwester ist klar und bestimmt. »Schließlich bin ich noch jung!«, erklärt die geschiedene Alleinerziehende, als sie sich für ihr Date mit einem neuen Mann fertigmacht. Najeh weiß, was sie will. Anders als ihre Schwester, die ihren aggressiven Ehemann dem Sohn zuliebe erträgt. Die rhythmischen Schläge auf Trommeln und Pakaschen des Ensembles verkörpern diesen Zwiespalt, denn der Hochzeitszug klingt stets nach einer Melange aus Euphorie und Vorbereitung zum Kampf. Der Film zeigt einen intimen Einblick in ein kleines Familienunternehmen, dessen täglich Brot das Glück der anderen ist und damit oft das eigene Leid vor Augen führt. – Maria Feckl, LMU München
Das schäumende Wasser des Atlantiks spült über einen schwarzen Strand. Palmen stehen an der Promenade, weiße Häuserburgen überwuchern die sanft ansteigenden Berge. Paradies Kanaren – wie so viele deutsche Rentner:innen kamen Jadrenka und Aleksandar hierher, um ihren Lebensabend zu genießen. Doch das Paradies ist trügerisch: der sinnentleerte Alltagstrott entzweit die beiden schnell. Jadrenka zieht auf eine andere Insel und eröffnet eine Bar. Aleksandar bleibt zurück und hat neben einem letzten gemeinsamen Urlaub mit seiner Exfrau nur noch den Traum, einen letzten Tauchgang zu unternehmen. Regisseur Denis Pavlovic präsentiert in seinem Film eine surreale Plastikwelt, die ganz auf den Lebensabend betuchter Rentner:innen ausgelegt ist. Doch leider kommt der Film nicht über den Bilderrausch hinaus, das Verhältnis zu Mutter und Vater bleibt unausgesprochen. – Philipp Thurmaier
Sportliche Therapiestunde im Berliner Ghetto. Mitten im berüchtigten Görlitzer Park hat die Amateurfußballmannschaft Pulman Negro Kreuzberg ihren Sportplatz. Der Film möchte einen neuen Blick auf den Themenkomplex Fußball in Verbindung mit gesellschaftlichen Normen, Männlichkeit sowie sozialer Unterschiede aufzeigen. Dabei sind die auffallend gestellten Szenen und unzähligen Interview-Antworten auf dieselben Fragen eher hinderlich, wirklich in den Film und die Geschichten der Männer einzutauchen. Starke Momente gibt es dann, wenn die Grenze zwischen Inszenierung und Wahrhaftigkeit zu verschwimmen scheint. Ansonsten sehen wir das, was die meisten ohnehin schon wissen dürften: Dass auch Amateurfußballer dieselben Probleme haben wie der Rest der Gesellschaft. – Christian Schmuck, LMU München
Ein beeindruckendes Werk über das alle Menschen verbindende Leben. Mit Geduld und Leidenschaft verübt die geschasste Radiomoderatorin Mina Hadjian ihre Arbeit, bei der sie Insassen von Gefängnissen eine Stimme gibt. Die Unvoreingenommenheit den Häftlingen gegenüber und die sichtbare Leidenschaft an ihrer Arbeit ist in jeder Sekunde zu spüren. Regisseurin Kari Anne Moe erzählt ihre, sowie die Geschichte dreier (Ex-)Häftlinge mit Feingefühl und dem Blick für das Intime. Während der Fokus zwischen Mina und den »Bandits«, wie sie sich selbst bezeichnen, immer wieder wechselt, entwickelt sich eine Geschichte über das Leben und seine Hochs und Tiefs. Trotz der zuweilen überwältigenden Themenflut, die er präsentiert, verliert der Film nie seinen Fokus auf das Wesentliche und seinen emotionalen Leitfaden. – Christian Schmuck, LMU München
Auf Augenhöhe, mit viel Geduld und Liebe widmet sich die Grundschullehrerin Kiet Engels den Kindern in ihrer Integrationsklasse. In einem kleinen niederländischen Dorf gestrandet, bringen die geflüchteten Kinder auch ihre leidvollen Erfahrungen von Krieg und Flucht mit in diesen geschützten Raum. Miss Kiet, wie die Kinder sie nennen, schlichtet Streit, tröstet ihre Schützlinge, wenn sie sich in der neuen Welt verloren fühlen. Die Filmemacher Petra Lataster-Czisch und Peter Lataster wollten eigentlich einen Film über die besondere Leistung einer Lehrkraft machen und fanden in Kiet Engels ihre ideale Protagonistin. Die Regisseure konnten sie zwar schnell für ihr Projekt gewinnen, doch sie machte es zur Bedingung, dass nicht sie, sondern die Kinder im Mittelpunkt stehen. Das war eine kluge Forderung, wie das Regie führende Ehepaar Lataster-Czisch im Publikumsgespräch einräumt. Ebenso wie Miss Kiets begegnet auch die Kamera den Kleinen auf Augenhöhe, zeigt ihre Probleme und wie sie nach und nach wieder Freude, Freunde und ihr Lächeln finden. – Ingrid Weidner
Eins werden. Fakt, Fiktion und Mythos verschmelzen im Schatten des indonesischen Vulkans Merapi. Merapi ist Sinnbild für die kommende Katastrophe, konkrete Lebensgrundlage der Minenarbeiter, spiritueller Fokus der lokalen Schamanen. Er ist massiv, unumstößlich und lädt zum Philosophieren ein. In schauspielerisch dramatisierten Sequenzen wird Naturgewalt eins mit der greifbaren, gerichteten Gewalt eines Paramilitär-Bosses. Wie der Vulkan, ständig rauchend, immer da, immer gefährlich. Doch die drückende, monolithische Atmosphäre bröckelt: durch die Darstellung überbordender Brutalität und in ausgedehnten Längen. Monisme inszeniert einen Einbruch der Fiktion ins Reale und zurück in die Konstruktion des filmischen Mediums und stellt die Frage nach Wirklichkeiten im (Un-)Echten. – Lee Redepenning, LMU München
Der Verlust einer geliebten Person ist nur der Anfang. Maria und Nik leben mit ihren vier Kindern naturnah auf einer Farm in Norwegen. Doch dann stirbt Maria mit nur 41 an Krebs und die Familie muss mit der neuen Situation klarkommen. Die Kamera kennt keine Scheu, versetzt uns mitten ins Geschehen und lässt uns die Emotionen der verletzten Familie mitfühlen. Dadurch gelingt die Immersion in die Welt der Familie und wir teilen ihren Schmerz. Besonders Ronja und Freya vermissen ihre Mutter und reagieren mit Abschottung. Einander können sie sich nicht offenbaren, tun es dann aber durch Briefe, die sie sich und uns wechselseitig vorlesen. Die Verarbeitung ihres Verlustes schreitet dabei in der malerischen Landschaft Norwegens voran. Diesen tiefgehenden und einfühlsamen Film muss man gesehen haben. – Jonas Hey – LMU München
Vom Ende der Pressefreiheit in Russland. Der Film zeigt eindrücklich den Weg zur Auflösung der großen regimekritischen Medienanstalten, jedoch durch den Einsatz der Musik auch leicht manipulierend und stark emotionalisierend. Jegliche kritische Einordnung der Geschehnisse und Institutionen fehlt hier: Reportagen von und bei Memorial und den Medienhäusern Novaya Gazeta, Radio Ekho Moskvy, Telekanal Dozhd (TV Rain) sowie Nastoyashee Vremya (Current Times) werden kommentarlos nebeneinandergestellt. Auch sind die englischen Untertitel teils trotz passender Alternativen so übersetzt, dass Nuancen verloren gehen, obwohl der Umgang mit Worten selbst oft im Zentrum des Films steht. Die eingeblendeten rein englischen Texte legen ein internationales, nicht-russischsprachiges Zielpublikum nahe, weshalb all das verwundert und einen zwiegespalten zurücklässt. – Paula Ruppert
Ein alter Mann und das Lebensende. An eine felsige Küste auf Kap Verde schmiegt sich ein kleines Dorf. Darin lebt seit 40 Jahren nur noch der alte Quirino, nachdem die Einwohner nach zwei Unglücken weggezogen sind. Doch auch er spürt das Alter und beschäftigt sich mit dem Sterben. In der rauen Idylle des Geisterdorfes hört er Radio, füttert die Vögel oder blickt in die Ferne und seine Vergangenheit. Der Film zeigt in langsamen Bildern das Ende eines Lebensweges, das der Protagonist und seine Schwester mit Erinnerungen anreichern. Dazwischen schaut man in die Vergangenheit von Quirino, indem man den Kindern aus dem benachbarten Dorf beim Spielen zusieht. So bleibt von diesem schön langsamen Film die Bewunderung über einen hartnäckigen Menschen, der noch dem Tod mit Gelassenheit begegnet. – Jonas Hey, LMU München
Stetig und im Wandel. Ein abgeschiedener Ort, an den Vögel kommen, um hier zu sterben. Wie einem tableau vivant haucht Ozogoche seinen bildgewaltig komponierten, fast fotografisch wirkenden Eindrücken der ecuadorianischen Anden und seiner Menschen filmisches Leben ein. Die langen, statischen Einstellungen verleihen ihnen Nähe und Permanenz, wieder und wieder durchbrochen vom Rauschen der Bewegungsunschärfe. Die Zusammenstellung legt subtil Kontraste frei: sterbende Vögel und lebhafte Kinder, tief verankerter Glaube und profaner Alltag, Geschichten des Großvaters – große Erzählungen über die Berge und den See, über Vorfahren, über Armut – und YouTube-Clips, die Abwesenheit der Männer, die ausgezogen sind, um in den USA Arbeit zu finden. Ozogoche erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, behält in seiner Aspekthaftigkeit etwas Geheimnisvolles, fast Mystisches. – Lee Redepenning, LMU München
Aufopferung fürs Treppchen. Unsere Protagonistin Patrīcija wächst in einer Sportlerfamilie auf, und so hat sie scheinbar keine Wahl, als selbst Spitzensportlerin zu werden. Wie ihr Bruder fährt sie Langlauf und trainiert bis zum Umfallen für Wettkämpfe. Zu Beginn nimmt die Kamera schonungslos ihr Gesicht in den Fokus und zeigt ihre häufigen Schmerzen, aber auch ihre Freude. Die aufgebaute Spannung fällt gleich ihrer Stimmung nach einem abgebrochenen Wettkampf in der Filmmitte ab. Als ihr Vater und Coach stirbt, sieht man zwar die Beerdigung, aber es entsteht eine Distanz zur Kamera, und die emotionalen Momente werden seltener. Auch der Höhepunkt bei Olympia fällt durch fehlende Bildrechte aus, und es bleibt nur Zuschauen vom Streckenrand, wodurch die Zuschauer sich vollständig von der Protagonistin entfremden. – Jonas Hey, LMU München
Menschenunwürdiges Schuften für billiges Obst. Der junge Migrant Seydou arbeitet auf einer Orangenplantage in Norditalien für einen Hungerlohn. Er und weitere Saisonarbeiter:innen aus Griechenland, Spanien, Portugal und Griechenland erzählen von den harten Arbeitsbedingungen, ausbeuterischen Arbeitgebern und kargen Wohnungen. Dabei haben die meisten noch eine Familie zu Hause, die sie finanziell unterstützen müssen. Bewegend berichten die Protagonist:innen über die Härten des Lebens, aber auch über die Hoffnung auf ein legales und besseres Leben. Daneben erzählen Landwirte, dass sie ohne die billigen Arbeitskräfte selbst bankrottgehen würden. Dieser Film verdeutlicht einmal mehr, dass die Kunden in Europa durch den Kauf billiger Lebensmittel die Verantwortung für die Missstände tragen. – Jonas Hey, LMU München
Vollendetes Porträt eines Unvollendeten: Kurt Langbein drehte mehr als zwanzig Jahre Dokumentarfilme für den ORF. Entsprechend treffsicher illustriert er den aufhaltsamen Aufstieg des 24-jährigen Studienabbrechers Sebastian Kurz zum ÖVP-»Wunderwuzzi« ab dem Jahr 2010 mit sprechenden Bildern wie der Demontage eines SUV oder Aufnahmen aus einer Stacheldraht-Fabrik, wenn es um Kurz' fremdenfeindliche Politik als Kanzler geht. »Feinde bekämpfen oder kaufen«, war das interne Motto der eingeschworenen Clique des Jungkanzlers, die wöchentliche Losungen ausgab, an die sich das von Kurz eingesetzte Kabinett zu halten hatte. Dann kam die Ibiza-Affäre und mit ihr wurde die erschreckende Erosion der Demokratie endlich öffentlich. Ein spannendes Lehrstück zu wuchtiger Musik und mit Einblick in zahlreiche Wiener Küchen und Wohnzimmer. – Katrin Hillgruber
Detroit. Die Bilder verfallener in Reihe stehender Häuser, überwucherter Gehsteige und ausgebrannter Ruinen ist so sehr im kollektiven Gedächtnis verankert, dass andere Geschichten aus dieser Stadt kaum Chancen haben sie zu durchdringen. Sabrinas Geschichte ist jedoch keine Geschichte des Verfalls, sondern des Aufstehens und der Erneuerung. Nach einer Vergewaltigung in jungen Jahren hatte das Trauma immer mehr Bereiche ihres Lebens erobert – Panikattacken, körperliche Anfälle. Nun steht sie vor diesem verfallenen Haus, das Teil ihres Traumas ist und dem sie sich stellen möchte. Regisseurin Gudrun Gruber zeichnet das Portrait einer starken Frau, die offen mit ihrer Traumaarbeit umgeht und ihre Familie dabei mit einbezieht. – Philipp Thurmaier
Ein stiller Film über einen stillen Schäfer. In weiten Einstellungen sieht man die Idylle der französischen Berglandschaften, in denen der junge Schäfer Felix seiner Arbeit nachgeht. Er kümmert sich um verletzte Schafe, repariert einen Zaun oder treibt die Schafe ins Tal. An wenigen Stellen lauscht man ihm im Gespräch mit Vater oder Bekannten. Dazwischen zieht in fantastisch gefilmten Nachtaufnahmen der Wolf seine Kreise durch das Tal. Tagsüber findet Felix dann die zerfetzten Kadaver der Schafe und begräbt sie unter Steinen. Zuletzt begleitet man seine Familie, wie sie die Herde zurück auf die Sommerweiden treibt. Dem langsam erzählten Dokumentarfilm fehlt dabei der Fokus auf ein Thema. Allein der stille Felix ist eine Konstante, von dem man gerne mehr gesehen und erfahren hätte. – Jonas Hey, LMU München
Schäfchen zählen. Das ist eine der Hauptaufgaben von Schäfer Félix, der in den südfranzösischen Hochalpen seine Herde mit Schafen und ein paar Ziegen über das dürre Gras führt. Geschlafen wird in einer kargen Hütte, ein paar Seiten Lektüre vor dem Einschlafen müssen als Freizeit reichen, morgens ein Kaffee und die Nachrichten, bevor es bei Wind und Wetter wieder an die Arbeit geht. Erzählt wird von der Besorgnis um den Klimawandel, die auch die Existenz des Schäfers bedroht, und vom zwangsläufig tödlich verlaufenden Kreislauf des Lebens. Und dann kommt auch noch der Wolf, der sich in Nachtsichtaufnahmen als bedrohlich wendiger weißer Fleck und in den Hörnern der genial naturnahen Filmmusikkomposition ankündigt. Hier muss man beobachten und selbst hinsehen: der Zuschauer wird zum Hüter des Films. – Dunja Bialas
Ein Desktopfilm. Mit dem Handy gefilmt: Szenen aus dem Alltag. Kramen im Drogeriemarkt. Ein Schwangerschaftstest. 3 Minuten. Anleitung lesen, Timer stellen. Das Leben im Device. Nach bangen Minuten auf Whatsapp und Instagram: das Ergebnis ist uneindeutig. Wieder panisches Googeln nach glaubwürdigen Informationen. Sophie Lahusens Film ist eine Reise in das tägliche Schicksal tausender Frauen: die Entscheidung, eine Schwangerschaft abzubrechen, oder ein Kind auszutragen. Die fiktive Protagonistin Ava, deren Ratlosigkeit und Verzweiflung auf dem Bildschirm ihres Handys spürbar wird, steht dabei für so viele Frauen. Der Kampf um eine Entscheidung, tausende Stimmen und Eindrücke, die auf einen niederprasseln. Die Entscheidung um etwas Alltägliches, das gleichzeitig so außerordentlich ist. – Philipp Thurmaier
Fatalistischer Stammtisch am Rande der Zivilisation. Regisseur Sebastían Peña Escobar begibt sich auf einen Roadtrip durch Paraguay, um den titelgebenden letzten Rest des Dschungels aufzunehmen. Dabei filmt er seinen Onkel Jota, einen Ornithologen, und dessen besten Freund Ulf, einen Nachtfalterexperten. Zwischen Drohnenaufnahmen verbrannter Felder und verwackelten Aufnahmen aus dem Auto schimpfen die beiden auf die Kurzsichtigkeit der Menschheit, die Sinnlosigkeit des Kapitalismus und den zunehmenden Konsumismus. Besonders Ulfs von Schimpfwörtern gespickte Monologe füllen diesen Film. In deren Schatten gibt es lediglich einzelne Informationsschnipsel über Biodiversität oder Folgen der Brandrodung. Statt eines beeindruckenden Appells zum Naturschutz hört man Tiraden auf das Ende der Welt. – Jonas Hey, LMU München
Sie sind die letzten ihrer Art. Ob sich der Titel auf die unberührten Wälder Paraguays, die zwei alternden Naturforscher oder die Menschen an sich bezieht, bleibt Interpretationssache. Wirklich viel Wald gibt es nicht zu sehen. Das ist der Punkt. Die Naturräume schwinden rapide, Opfer von Rodung und Bränden. Ernüchternde Naturaufnahmen zeigen den Weg, die Chaco-Wälder zu dokumentieren, bevor sie verschwinden: lange Straßen, verdorrte Erde, vereinzelte Palmen. Die Dämmerung rot von Feuer. Begleitet wird der filmische Abschied von zwei Naturexperten, die in einer hochgebildeten Statler-und-Waldorf Dynamik zwischen Wissen, Weisheit und sturem Beharren die großen Fragen erörtern: Fortbestand der menschlichen Spezies, Klimakatastrophe, Kapitalismus, Krieg etc. Regisseur Escobar setzt den defätistischen Aussagen seine Stimme aus dem Off entgegen, die fragend und sanft lebensbejahend Balance schafft und Impulse zum eigenen Denken gibt. – Lee Redepenning, LMU München
Aktionskunst in Deppendorf. Der Hersteller von Insektensprays Reckhaus macht sich mit den Aktionskünstlern Frank und Patrik Riklin auf den Weg nach Deppendorf. Dort wollen sie die Gemeinde für das Projekt »Fliegen retten« gewinnen, wobei dem Sieger einer Lotterie ein Wellnesswochenende mit Fliege winkt. Die Idee breitet sich rasant im Dorf aus, immer mehr Leute machen mit und entwickeln neue Ideen: So gibt es eine Gesangseinlage, Pappaufsteller und ein Fliegenhotel. Doch es gibt auch Zweifler, darunter Journalisten vom WDR, die nur einen Marketing-Gag sehen. Reckhaus aber meint es ernst, zieht die Veranstaltung mit den beiden beherzten Künstlern durch und begeistert Dorf und Zuschauer. Dieser Film zeigt, dass Deutschland Humor hat. – Jonas Hey, LMU München
Ein Film als Podcast. Verschiedene Jugendliche erzählen aus dem Off über ihre Zeit in den Gangs von Mexiko. Sie berichten vom Respekt der Älteren, der Allmacht der Schusswaffe in der Hand, dem Schock nach dem ersten Mord und der Angst vor Vergeltung danach. Auch geht es um korrupte Polizisten, die ihnen Waffen verkaufen, die sie zuvor konfisziert haben. Dabei sieht man stets over shoulder einen Jugendlichen, wie er über eine Straße läuft oder sich mit Freunden trifft. Meist ist dabei der Hintergrund verwaschen, wohl um die gezeigten Personen zu schützen. Dabei bleibt unklar, ob die Gezeigten auch die Sprecher sind. Im Vergleich zu den gehörten Geschichten verblassen die sichtbaren Alltagsszenen. Es bleibt offen, warum ein Film gemacht wurde, statt einfach nur einen Podcast zu produzieren. – Jonas Hey, LMU München
»Weißt du, dass dieser Frosch deine Tante sein könnte?«, herrschte Italo Calvino einen Jungen an, dem er bei einem Ausflug an einem Fluss mit seinen Verlagskollegen von Einaudi begegnete. Erschrocken habe dieser das Tier wieder in die Freiheit springen lassen, erinnert sich Jahrzehnte später ein Mitarbeiter des renommierten Turiner Verlags. Mit umfangreichem Archivmaterial ab der Geburt des Schriftstellers und Lektors 1923 auf Kuba und zahlreichen Gesprächen illustriert Duccio Chiarini die überragende Bedeutung, die der Schöpfer luftig-origineller Werke wie »Der Baron auf den Bäumen« für das italienische Geistesleben ab dem Zweiten Weltkrieg hatte, den er als Partisan erlebte. Der 1985 verstorbene Italo Calvino bleibt eine Instanz, das zeigt auch die angeregte Literaturinterpretation einer Klasse eines nach ihm benannten Florentiner Gymnasiums. – Katrin Hillgruber