02.05.2024

Kurz, aber schnell: Schlaglichter auf Filme aus allen Sektionen des Münchner Dok.fest (in alphabetischer Reihenfolge)

Von artechock-Redaktion

In Koope­ra­tion mit der LMU München.

24 Stunden (Öster­reich 2024 · R: Harald Fried · DOK.deutsch)

Ausbeu­tung in der Pflege. Über 60.000 rumä­ni­sche Pfle­ge­kräfte arbeiten als 24-Stunden-Kräfte in Öster­reich, und eine von ihnen ist Sadina. Sie kommt aus einer Klein­stadt und lässt bei ihrem Abschied ihre weinenden Eltern zurück. Dann begibt sie sich auf die lange Autofahrt nach Öster­reich, wo sie eine schwer­kranke alte Dame pflegt. Sie ist immer freund­lich und scheint klaglos zu arbeiten, doch in Tele­fo­naten mit Freun­dinnen und Familie wirkt sie müde und spricht offen über die Strapazen der Ganz­ta­ges­pflege. Ihr Alltag und die Zweck­be­zie­hung der beiden Frauen werden in langen Einstel­lungen gezeigt. Der Film regt zum Nach­denken an, was wir als westliche Gesell­schaft diesen Frauen aus Rumänien aufbürden, nur weil wir uns nicht um unsere Alten kümmern können oder wollen. – Jonas Hey, LMU München

Archiv der Zukunft (Öster­reich 2023 · R: Joerg Burger · DOK.deutsch)

Einmal hin. Alles drin. In Spiel­film­länge stellt Regisseur Joerg Burger das Natur­his­to­ri­sche Museum in Wien vor. Die Tour durch die Abtei­lungen beginnt mit einem seltenen Papagei und geht weiter über einen Dino­sau­rier zu einem Elefanten. Man bekommt das zu sehen, was man in einem Museum erwarten würde: Einzelne Wissen­schaftler bespre­chen unter­ein­ander die Konser­vie­rung eines Präparats oder erklären dem Zuschauer ihre Arbeit und deren Heraus­for­de­rungen. Allgemein wird dabei die schlechte Finanz­aus­stat­tung beklagt, wobei gerade hier hätte man sich eine Außen­sicht gewünscht, die das Gehörte einordnet und in einen Rahmen stellt. Diese Doku zeigt nur Bekanntes, ohne aber Eigenes oder Origi­nelles abzu­lie­fern. – Jonas Hey, LMU München

Eine schier endlose Wand grüner Kisten; mitten­drin verschwin­dend klein drei Menschen. Dieses Muster einer über­wäl­ti­genden Menge an Material und ihre unmöglich schei­nende Aufar­bei­tung wieder­holt sich immer wieder – mal sind es Tier-Präparate, mal Mine­ra­lien, mal Pflanzen. Der Blick hinter die Kulissen des Natur­his­to­ri­schen Museums Wien verdeut­licht nicht nur die breite Varianz der dortigen Forschung, sondern richtet den Fokus vor allem die Menschen und ihre Arbeit. Gerade Laien wird hier ein tiefer Einblick in museale Grund­la­gen­for­schung und ihre Probleme ermög­licht. Weit weg vom klas­si­schen Blick auf Archi­tektur oder Insti­tu­tion, dennoch oft mit stati­scher Kamera und monu­mental wirkenden Bildern – nur eben nicht von Gebäuden. So kontras­tiert dieser faszi­nie­rende Film die fast schon gespens­ti­sche Atmo­sphäre der unzäh­ligen Lager­räume – immer wieder untermalt von musi­ka­li­schen Klang­betten – mit der nüch­ternen, aber sehr leben­digen Forschungs­um­ge­bung. – Anna Schell­kopf, LMU München

Facet­ten­reich wie Gefieder zeigt Archiv der Zukunft Vignetten aus den selten gesehenen Gefilden des Natur­his­to­ri­schen Museums in Wien. Statt die tradi­ti­ons­träch­tige Insti­tu­tion in ihrer musealen Funktion zu portrai­tieren, nimmt der Film die Band­breite wissen­schaft­li­cher Arbeit am Haus unter die Lupe. Im präzisen Wechsel von Detail­auf­nahme und Makro­struktur bietet er Einblicke in Forschungs­pro­zesse von Biologie, Geologie, Archäo­logie, Anthro­po­logie, Paläon­to­logie. Dabei liegt der Fokus auf den Menschen – Wissen­schaftler*innen, Hand­werker*innen, ehren­amt­liche Rentner*innen – die diese Forschung betreiben oder möglich machen. Ihre viel­fäl­tigen Stimmen formu­lieren wieder­holt die Relevanz von Grund­la­gen­for­schung und deren Bedrohung durch sinkende Finan­zie­rung als eine poli­ti­sche Dring­lich­keit. – Lee Rede­pen­ning, LMU München

Bergfahrt (Schweiz 2023 · Regie: Dominique Margot · DOK.deutsch)

Schwur­bel­alarm am Berg. Die Doku beginnt mit male­ri­schen Aufnahmen der Schweizer Alpen. Dort erfor­schen Wissen­schaftler Schwin­gungen des Berges, Abschmelzen der Gletscher und Berg­ve­ge­ta­tion. Das eintre­tende Wohl­ge­fühl wird schnell durch Unglauben ersetzt, als weitere Prot­ago­nisten ins Bild treten. Das Gefühl einer Berg­füh­rerin, der Tod ihres Mannes sei nicht dem Eiger zuzu­rechnen, ist ob des Verlustes vers­tänd­lich. Ein namen­loser Unter­nehmer tritt auf und erklärt wenig über­zeu­gend, dass nicht Gier ihn antreibt. Dann aller­dings tritt ein Manager im Ruhestand auf, der einer Wasser­ader nachspürt und ein Kraftfeld auf einer Bergwiese findet. Es ist unfassbar, dass diese esote­ri­schen Botschaften unge­fil­tert und unkom­men­tiert im endgül­tigen Film gelandet sind. Man fragt sich, wie ein solcher Meinungs­film zu einem Festival einge­laden wurde. – Jonas Hey, LMU München

Binu: A Two Stars Story (Spanien 2023 · R: Guillem Cabra, Mar Clapés · DOK.panorama)

Wir gehen nicht in Rente. Der Dutt sitzt, die Nägel immer noch knallrot lackiert, die Pumps etwas schief­ge­laufen: Francina kam in den 1970er Jahren nach Argentona, in die Provinz Barcelona, um zu lernen, wie sie einen Tisch perfekt deckt. Das beherrscht sie heute immer noch. Sie arran­giert die Blumen, während ihr Mann Francescs in der Küche den Fisch filetiert. Gemeinsam führen und leben sie seit über 50 Jahren für das Restau­rant »El Raco d’en Binu«. Die Regis­seure Guillem Cabra und Mar Clapés nehmen die Zuschauer mit in die Vergan­gen­heit, die für die beiden Prot­ago­nisten immer noch die eigene Gegenwart ist. Francescs erzählt stolz von den zwei Michelin-Sternen, die er erkocht hatte und mit Groll, wie er sie wieder verlor. Zwar scheinen die goldenen Jahre des Restau­rants vorüber zu sein, doch mit dem von einer jungen Frau gepflegten Instagram-Account erlebt das Binu ein Revival. Übrigens denken die beiden nicht daran, aufzu­hören und in Rente zu gehen, wieso auch. – Ingrid Weidner

Chasing The Dazzling Light (Quatar, Schweden, Syrien 2023 · R: Yaser Kassab · Film­ma­king in Exile)

Fragmente eines Selbst­por­träts. Unterlegt mit still­le­ben­ar­tigen Film­se­quenzen lauschen wir zumeist Tele­fo­naten des Regis­seurs mit seinem Vater. Beide verbindet der Wunsch, Filme zu machen. Die Gespräche fokus­sieren sich häufig auf das Filme­ma­chen, aller­dings auch auf das seelische Innen­leben der Prot­ago­nisten. Entstanden ist ein eindring­li­ches Werk, welches vor allem vom Zuhören und Nach­denken handelt. Das Konzept des Filmes mag zuweilen sperrig wirken, entfaltet jedoch auch aufgrund der inter­es­santen Gespräche sein volles Potential. Was bleibt, ist ein Film über das Filme­ma­chen sowie ein kleiner Einblick in das Leben und die Gedanken eines sich im Exil befin­denden Künstlers, der aus der Korre­spon­denz mit seinem Vater ein frag­men­ta­ri­sches Selbst­por­trät entstehen lässt. – Christian Schmuck, LMU München

Donga (Libyen, Tunesien 2023 · R: Muhannad Lamin · DOK.horizonte)

Vers­tö­rend echter Krieg. Als 19-jähriger filmt der Regisseur Muhannad Lamin (Donga) den arabi­schen Frühling in seiner Heimat Libyen. Er will im Gegensatz zur Propa­ganda unver­fälschte Bilder zeigen. Dabei geht er blauäugig in den Krieg und erlebt sofort Tod und Zers­törung. Nach dem Frieden zieht er 2016 erneut in den Krieg, um diesmal als offi­zi­eller Bericht­erstatter zu filmen. Die Aufnahmen werden schärfer und nehmen die Gräuel noch stärker in den Fokus. In der Gegenwart kontex­tua­li­siert er dann das Gezeigte. Die Kampf­szenen sind mit rhyth­misch bedroh­li­chen Klängen unterlegt, während ruhige Szenen immer wieder von Explo­sionen zerrissen werden. Dieser Krieg ist anders und vor allem echt im Vergleich zu Hollywood-Spiel­filmen. Passend dazu appel­liert Donga am Ende für Frieden, denn der Krieg hat ihn trau­ma­ti­siert. – Jonas Hey, LMU München

E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea (Schweiz 2024 · R: Beatrice Minger, Christoph Schaub · DOK.inter­na­tional)

E-1027
(Foto: DOK.fest | Beatrice Minger, Christoph Schaub)

Farbe als Gewaltakt. Die weißen Wände des Hauses E.1027 bilden das Herzstück von Eileen Grays Schaffen und das Zentrum des Films. In ihnen ist es der Kamera ein Leichtes, in jeder Einstel­lung die Eleganz und persön­liche Relevanz des Gebäudes einzu­fangen. Kontras­tiert wird dieses Spiel von Form, Licht und Material durch Sequenzen in einem abstrakten, schwarzen, bühnen­haften Raum. Dort sind die Körper und Persön­lich­keiten der drei Größen der Moderne – Eileen Gray, Jean Badovici, Le Corbusier – im Fokus. Der zuschau­ende Blick fällt auf kleinste Bewe­gungen, Proxemik und Gefühl.
Das Haus erscheint als Utopie. Bis sich Le Corbusier den Ort mit patri­ar­chaler Selbst­ver­s­tänd­lich­keit aneignet, die Wände bemalt. Dabei zielt der Film nicht auf stumpfe Verur­tei­lung. Mit einem kriti­schen Blick macht er Komplexes sichtbar und gewährt Gray das letzte Wort zu ihrem Werk. – Lee Rede­pen­ning, LMU München

Ein Haus am Meer, davon träumen viele. Eileen Gray hat sich diesen Traum gemeinsam mit ihrem damaligen Lebens­partner, dem rumä­ni­schen Archi­tekten und Kritiker Jean Badovici, erfüllt. 1929 war das von ihr entwor­fene Wohnhaus E.1027 in Roque­brune-Cap-Martin an der Fran­zö­si­schen Riviera fertig. E.1027 ist ein elegantes, L-förmiges Gebäude mit einem Flachdach und boden­tiefen Fenstern, die sich zum Meer hin öffnen, sowie vielen inno­va­tiven Details. Die Wände blieben weiß, das war Gray wichtig. Der kryp­ti­sche Name E.1027 ist ein Kürzel: E steht für Eileen, 10 für Jean (J ist der zehnte Buchstabe des Alphabets), 2 für Badovici und 7 für Gray. Das außer­ge­wöhn­liche Haus wurde bald in Fach­zeit­schriften porträ­tiert und weckte auch das Interesse von Le Corbusier, der eine ganz andere Vorstel­lung von Archi­tektur hatte. Regis­seurin Beatrice Minger wollte keinen weiteren Film mit Exper­ten­in­ter­views, wie es ihn schon gibt, sondern insze­nierte mit drei Schau­spie­lern die Ausein­an­der­set­zung am Origi­nal­schau­platz und auf einer Bühne. Die Dialoge hat sie aus Tage­büchern und Aufzeich­nungen sowie Archiven rekon­stru­iert. Doch der Star des Films und seine große Faszi­na­tion bleibt E.1027. – Ingrid Weidner

Wichtiger Film, aber falsche Zuordnung. In Reenact­ments steht das Leben von Eileen Gray wieder auf. Die Desi­gnerin entwirft und baut eine Villa im Bauhaus-Stil an der Côte d’Azur. Doch bald bemalt der Architekt Le Corbusier die Wände des Hauses und übernimmt noch die Urhe­ber­schaft. In fein­sin­nigen Aufnahmen stellen die Schau­spieler die Szenen nach. Bereits verfal­lene Gebäude werden durch Studio­in­stal­la­tionen ersetzt, in denen sich die Figuren ganz natürlich bewegen. Man verlässt den Film mit einem Bauch­grum­meln über die Unge­rech­tig­keiten, die Gray angetan wurden. Zudem fragt man sich, warum dieser Spielfilm auf einem Doku­men­tar­film­fes­tival läuft. – Jonas Hey, LMU München

Eternal You (Deutsch­land, USA 2024 · R: Hans Block, Moritz Riese­wieck · DOK.panorama)

Wenn künst­liche Intel­li­genz die Toten aufer­weckt. Mehrere Start-ups haben sich diese Idee zu eigen gemacht und bieten den Menschen die Möglich­keit, ein letztes Gespräch mit einem Avatar ihrer verstor­benen Verwandten zu führen. So wollen sie den Trau­ernden helfen. Echter Altru­ismus oder Ausnutzen des mensch­li­chen Leids? Inwieweit kann unser Bewusst­sein durch Tech­no­logie repro­du­ziert werden und welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um unsere Angehö­rigen »unsterb­lich« zu machen? Zwischen Ethik und Kapi­ta­lismus unter­sucht diese Doku­men­ta­tion die schwie­rige Frage der Trauer und die unserer Mensch­lich­keit. Eternal You wirkt wie eine gelungene Dystopie: Sie scho­ckiert und erschüt­tert voll­kommen den Zuschauer, der im Verstand, in seinen Werten oder in seinen Gefühlen keinen Halt mehr findet. –Antonia Steinhoff, LMU München

Die tote Tochter im Abomodell wieder­sehen – diese Zukunft verspricht die soge­nannte »Digital Afterlife Industry«.
Von ihr wird bedient, wer sich auch über den Tod hinaus an den Liebsten fest­klam­mern will und bereit ist, eine fast schon nekro­man­ti­sche Verwen­dung künst­li­cher Intel­li­genz hinzu­nehmen. Im Versuch, das Sterben zu über­winden, sollen mit dieser Tech­no­logie Verstor­bene als digitales Faksimile wieder zum Leben erweckt werden – natürlich gegen entspre­chende Bezahlung und dem Daten­schutz zum Trotz.
Inter­views und Verwen­dung echter Chat­pro­to­kolle mit diesen 'digitalen Untoten' stellen eine intime Nähe zu den Prot­ago­nist:innen her. Diese sorgt für einen eindrück­li­chen, emoti­ons­ge­la­denen Film, der dennoch keine eigene Stellung zum Thema bezieht. Das Publikum bleibt nach­denk­lich zurück – während die Hinter­blie­benen mit ihrer vergeb­li­chen Suche nach Abso­lu­tion noch immer dem Größen­wahn und den Gott­kom­plexen dieses skru­pel­losen Todes­ka­pi­ta­lismus gegen­ü­ber­stehen. – Anna Schell­kopf, LMU München

Fairy Garden / Feengarten (Ungarn 2023 · R: Gergö Semo­gy­vári · Best of Fests)

»Zwei Meter groß, aber sehr mädchen­haft«: So beschreibt sich die 19-jährige Trans-Frau Fanni, die von zuhause wegge­laufen ist. Unter­schlupf findet sie im Bret­ter­ver­schlag des manischen Bastlers Laci am Rand von Budapest. Sie hilft ihm beim Sägen und kann sich hier ungestört schminken. Bei dem 60-Jährigen erfährt sie endlich jene bedin­gungs­lose Sympathie, die ihr Internet-Follower nicht bieten können. Doch dann kommt mit der ersehnten Hormonkur die Depres­sion und Laci weiß nicht mehr, wie er seiner Zieh­tochter helfen soll. Im Rhythmus der stim­mungs­voll foto­gra­fierten Jahres­zeiten fühlt sich Fairy Garden in zwei Außen­seiter in Viktor Orbáns Sauber­mann-Ungarn ein, in dem Obdach­lo­sig­keit krimi­na­li­siert wird und Geschlechts­um­wand­lungen offiziell nicht möglich sind. Inzwi­schen lebt Fanni in Amsterdam. – Katrin Hill­gruber

Filmstunde_23 (Deutsch­land 2023 · R: Jörg Adolph, Edgar Reitz · Münchner Premieren)

Filmstunde_23
(Foto: DOK.fest | Jörg Adolph, Edgar Reitz)

Über den Einsatz von Medien in Schulen und das Beibringen von Medi­en­kom­pe­tenz für Kinder und Jugend­liche wird regel­mäßig disku­tiert. Ähnlich verhielt es sich Ende der 1960er Jahre, wo der Regisseur Edgar Reitz probe­weise eine Schul­klasse im Fach »Film« unter­rich­tete – und dies wiederum in einem Doku­men­tar­film verar­bei­tete. 55 Jahre später treffen sie sich alle wieder, die Mädchen-Schul­klasse von damals und der Regisseur. Filmstunde_23 ist eine bunte Mischung aus Eindrü­cken der heute Erwach­senen und von Edgar Reitz, dem ersten Doku­men­tar­film sowie den Filmen, den die Schü­le­rinnen im Rahmen des Unter­richts damals selbst machten. So wird auf eine anek­do­ti­sche und persön­liche Art erzählt, und zugleich gezeigt, wie Diskus­sionen zum Umgang mit (Massen-)Medien im Schul­un­ter­richt bereits vor einem halben Jahr­hun­dert exis­tierten. – Paula Ruppert

Film im Film im Film. Eine Gruppe älterer Frauen stellt sich zum Foto vor dem Klas­sen­treffen auf. Genau für diese Klasse hatte Regisseur Edgar Reitz im Jahr 1968 Film­un­ter­richt an ihrer Schule angeboten. Mit ihm eigneten sich die damaligen Mädchen Grund­kennt­nisse der Film­theorie an und drehten ihre eigenen Filme. Dies wurde einst von einem Kame­ra­team aufge­nommen und von Reitz zur Doku »Film­stunden« verar­beitet. Jetzt, in der Gegenwart, berichten die ehema­ligen Schü­le­rinnen vom Unter­richt und kommen­tieren ihre eigenen Filme. Es entstehen unge­se­hene Einblicke in das Leben der Mädchen, aber auch in die Methodik des Unter­richts. Edgar Reitz und sein Jetztzeit-Co-Regisseur Jörg Adolph falten diese Zeit­ebenen geschickt zu einem Origami zusammen, das einen tiefen Eindruck hinter­lässt und die Frage aufwirft, warum es eigent­lich keinen verpflich­tenden Film­un­ter­richt an Schulen gibt. – Jonas Hey, LMU München

Flicke­ring Lights (Indien 2023 · Regie: Anupama Srini­vasan, Anirban Dutta · DOK.horizonte)

Warten auf das Licht. In einem indischen Dorf nahe der Grenze zu Myanmar leben die Menschen nachts im Licht der Taschen­lampen. Eine Strom­lei­tung wurde mehrmals verspro­chen, doch bisher müssen sich die Dorf­be­wohner mit Solar­an­lagen behelfen. Zudem führt die nationale Minder­heit der Naga einen Gueril­la­krieg gegen die indische Zentral­re­gie­rung. Als das Vertrauen auf eine Erhellung ihrer Situation bereits wieder schwindet, erhält das Dorf doch noch Strom. Zuerst beleuchten sie nur ihren Veranden, dann wird der erste Kühl­schrank und schließ­lich Fernseher ange­schafft. Der westliche Luxus und mit ihm die Kons­um­kultur hält auch hier Einzug. Leider wird der Film immer wieder durch Text­ein­blen­dungen unter­bro­chen und auch sonst wäre ein stärkerer Fokus auf die Meinungen der Menschen erhellend gewesen. – Jonas Hey, LMU München

Gefähr­lich nah – Wenn Bären töten (Deutsch­land, Italien 2024 · R: Andreas Pichler · DOK.inter­na­tional)

Bär und Mensch im Span­nungs­feld. Der Jogger Andrea Papi stirbt 2023 im Trentino durch einen Bären­an­griff, was Proteste zum Schutz, aber auch die Forderung nach Abschuss der Bärin und juris­ti­scher Aufar­bei­tung auslöst. Dieselbe Bärin hatte bereits 2012 zwei Männer verletzt, aber ihr Abschuss wurde gericht­lich aufge­hoben. Nun flammt der Konflikt zwischen Natur­schüt­zern und besorgten Dorf­be­woh­nern erneut auf. Geradezu popu­lis­tisch heizen beide Seiten den Konflikt an, besonders auch die Eltern des getöteten Joggers. Zwischen den Fronten stehen die Ranger der Region, die die Tiere über­wa­chen, aber im Zweifel auch erschießen müssen. Von den Bären gibt es viele Aufnahmen, die ihr Verhalten anschau­lich zeigen. Der Doku gelingt es, die Spannung zwischen den Gruppen aufzu­zeigen, ohne selbst Position zu beziehen. – Jonas Hey, LMU München

Holly­wood­gate (D 2023 · R: Ibrahim Nash'at · Dok.panorama)

Flackernde Lichter, Handy­ta­schen­lampen. Schub­laden werden aufge­rissen und ihr Inhalt durch­sucht. Innerhalb der Gruppe der Taliban ist das Erstaunen groß, auf welch gewal­tigen Nachschub die US-Truppen in Afgha­ni­stan zurück­greifen konnten. Es ist August 2021, erst vor wenigen Tagen verließen US Armee und CIA den Stütz­punkt Hollywood flucht­artig. Was zurück­blieb, ist nun in den Händen der brutalen neuen Herrscher in Afgha­ni­stan. Filme­ma­cher Ibrahim Nash´at verfolgte die Gruppe um den neuen Komman­deur der Taliban-Luftwaffe ein Jahr lang mit der Kamera, alles unter der Prämisse, dass die Taliban fest­legten, was gefilmt werden durfte – und was nicht. Trotzdem gelingt es dem Regisseur, entlar­vende Szenen zu verfolgen, in denen von der Einnahme Tadji­ki­stans fanta­siert wird und die Kämpfer gleichsam trunken und über­for­dert sind: von ihrer neuen Macht. – Philipp Thurmaier

I’m Not Ever­y­thing I Want To Be (Öster­reich, Slowakei, Tsche­chi­sche Republik 2024, · R: Klára Tasovská · Best of Fests)

Ein Leben in Fotos. Libuše Jarcov­já­ková wehrt sich gegen die Repres­sionen des kommu­nis­ti­schen Regimes in Tsche­chien, reist zunächst illegal und später, mit Hilfe einer Schein­heirat, legal ins Ausland. Ihr erstes Ziel ist Japan. Dort beginnt sie eine Karriere als Mode­fo­to­grafin, kehrt jedoch kurze Zeit später, unzu­frieden mit der mangelnden Selbst­dar­stel­lung in ihren Bildern, nach Prag zurück. Hier gibt sie Tsche­chisch­un­ter­richt und findet in ihren Arbeits­kol­legen neue Freunde. Durch diese lernt sie das illegale und queere Nacht­leben Prags kennen, dessen Wurzeln sie schluss­end­lich dazu verleiten, nach West­berlin zu ziehen.
Von den Prager Früh­lings­de­mons­tra­tionen bis zum Fall der Berliner Mauer doku­men­tiert Libuše Jarcov­já­ková alles mit ihren Foto­gra­fien. Die Foto­ka­mera beschreibt sie später als die einzige Konstante in ihrem Leben, mit welcher sie konti­nu­ier­lich versucht fest­zu­halten, wer sie eigent­lich ist. – Allison Geyer, LMU München

Im Land der Wölfe (Deutsch­land 2023 · Regie: Ralf Bücheler · Münchner Premieren)

Sie sind unter uns. Seit den 90er Jahren sind die Wölfe in Deutsch­land wieder heimisch geworden. Wir sehen sie in einem Maisfeld vor einer Wild­ka­mera vorbei­laufen, durch eine Siedlung trotten oder einen Waldweg kreuzen. Sie werden von Biologen intensiv erforscht, aber ihre Anwe­sen­heit gefällt nicht allen. Besonders Schäfer und Vieh­halter fürchten um ihre Herden. In einer Anhörung im Bundestag treffen verschie­dene Posi­tionen aufein­ander, wobei sachliche Argumente abgewogen und vor allem Herden­schutz­hunde als Lösung präsen­tiert werden. Leider wird auch eine Bauern­demo gezeigt, deren popu­lis­ti­sche Meinungen unge­fil­tert und unkom­men­tiert in die Doku aufge­nommen werden. Ohne Inter­views fehlt dem Film die Gesprächs- und Themen­füh­rung. So bleibt es bei einer seichten Doku aus verschie­denen Versatz­stü­cken. – Jonas Hey, LMU München

Jenseits von Schuld (Deutsch­land 2024 · R: Katharina Köster, Katrin Nemec · DOK.deutsch)

H-Ö-G-E-L. Fünf Buch­staben für das Grauen. Niels Högel ist der Verant­wort­liche für die größte Mordserie der bundes­deut­schen Geschichte. Wie schaffen es seine Eltern, daran nicht zu zerbre­chen? Jenseits von Schuld fängt mal rührend, mal humorvoll die Auswir­kungen von Gräuel­taten auf selten beleuch­tete Opfer ein: Die Eltern des Täters. Gezeigt wird ihr Bemühen, sich nicht in der Schuld ihres Sohnes zu verlieren, jenseits von ihr zu sein, aber auch die Momente, in denen das nicht gelingt. Der Sohn bleibt bei ihnen präsent, ruft zweimal täglich an. Eine seltene Perspek­tive, die Wirkungen von verschie­denen Bewäl­ti­gungs­stra­te­gien und ganz nebenbei das normalste nord­deut­sche Fami­li­en­por­trät, in der erschre­ckendsten Anomalie. – Sela­hattin Genis, LMU München

Joana Mallwitz – Momentum (Deutsch­land 2024 · R: Günter Atteln · DOK.music)

Die Karriere in der Musik: Von ihr träumen viele, erreichen tun sie die wenigsten. Geschafft hat sie Joana Mallwitz, die momentan wohl bekann­teste Diri­gentin klas­si­scher Orchester auf der ganzen Welt. Der Film begleitet sie zwei Jahre bei ihrem Beruf und bietet auch kleine Einblicke in ihr Privat­leben mit Kind und ebenfalls berufs­tä­tigem Mann. All das zeigt der Film, ohne sie dabei nur auf eine Frau zu redu­zieren, die Karriere und Familie vereint. Gezeichnet wird das Portrait einer angenehm boden­s­tän­digen jungen Diri­gentin, die zwar ganz genau weiß, wie die Branche funk­tio­niert und was die Leute von ihr hören wollen, für die aber die Arbeit mit den Orches­ter­mu­si­kern im Zentrum steht. Trotz ein paar Längen bietet der Film einen inter­es­santen Einblick in die Arbeit hinter der Bühne. – Paula Ruppert

Johatsu (Deutsch­land, Japan 2024 · Regie: Andreas Hartmann, Arata Mori – DOK.inter­na­tional)
Viktor Award 2024

Flucht ins Ungewisse. Zu Beginn begleiten wir eine Night Mover, die auf einen Kunden wartet. Durch ihre Dienste können Menschen in Japan über Nacht verschwinden. Durch die Prot­ago­nist:innen erfahren wir, dass es an Ehekrisen, Erpres­sung durch die Mafia oder einen Chef, überhöhte Leis­tungs­er­war­tungen oder Mentale Krank­heiten liegen kann. Hier liegt bereits der Knack­punkt, da bis auf einen Fall nur Opfer zu Wort kommen, die über Nacht ihr altes Leben verlassen haben. Die andere Perspek­tive kommt nicht vor, und so bleibt es unklar, ob die Aussagen der Wahrheit entspre­chen. Durch die Koope­ra­tion mit BR und arte ist eine hoch­wer­tige Doku entstanden, die sich für Figuren und Aufnahmen Zeit nimmt. Das Eintau­chen in diese fremde Welt macht den Reiz des Films aus. – Jonas Hey, LMU München

Just Hear Me Out (Polen 2024 · R: Małgorzata Imielska · DOK.inter­na­tional)

»Full of joy, happiness and love.« So beschreibt Regis­seurin Małgorzata Imielska das Leben der 19-jährigen Gosia. Begriffe, die man zunächst nicht mit psychi­schen Krank­heiten in Verbin­dung bringt; doch sieht man Gosia sorglos tanzen mit Regen­tropfen im Haar und ausdrucks­starker Mimik – jeden einzelnen Beat genießend –, scheinen die Hürden ihres Alltags vergessen. Denn sie sind sehr wohl da; die Geister in ihrem Kopf. Stimmen, die sie einfach nicht in Ruhe lassen. Just hear me out ist ein zartes Portrait über Krankheit und Hoffnung, das mit seinen Höhen und Tiefen den inneren Kampf der Schi­zo­phrenie wider­spie­gelt. Wie erwachsen werden, wenn man die eigenen Eltern bitten muss, zu deren Sicher­heit die Messer in der Küche zu verste­cken? Die Kamera versperrt immer wieder den Blick auf Gosia – eine Verdeut­li­chung ihrer Ohnmacht, ihr Selbst klar zu sehen. Sie kann sich nicht lieben und dabei ist sie es, die stets zur emotio­nalen Stütze für die Menschen um sich herum wird. Erwachsen-Sein zeigt sich in den kleinen Dingen. Der Mut der jungen Frau auf der Leinwand beweist das. – Maria Feckl, LMU München

Das Leben in der Glas­glocke. Drei Jahre lang wird die 19-jährige Gosia begleitet. Just hear me out porträ­tiert die Auf und Abs ihres Lebens mit der Schi­zo­phrenie. Wer nun was hört, ist unklar: Gosia hört Stimmen, die sie quälen. Durch verein­zelte Handy­ka­me­ra­auf­nahmen gelingt es dem Film, dass wir meinen Gosia zu hören. Meinen, zu hören, was sie hört. Aber kann man in die Glas­glocke der psychi­schen Qualen wirklich reinhören? Der Film versucht es, schafft es teilweise, scheitert aller­dings auch an dieser anspruchs­vollen Ziel­set­zung. Gosias Kampf für ein »normales« Leben, der Selbst­mord­ver­such einer engen Freundin, der elter­liche Umgang mit der ständigen Gefahr des Verlustes des eigenen Kindes. Dramatik, die Unbehagen auslöst, aber wird Gosia wirklich verstanden? Just hear her out. – Sela­hattin Genis, LMU München

Kamay (Belgien, Deutsch­land, Frank­reich 2024 ·R: Ilyas Yourish, Shahrokh Bikaran · DOK.horizonte)
Viktor Award 2024

Gerech­tig­keit in Afgha­ni­stan. Zahra hat Selbst­mord begangen und nun fordert ihre Familie Gerech­tig­keit ein. Doch die Familie kann sich häufige Reisen in die ferne Haupt­stadt Kabul nicht leisten, und Gerichte weisen die Klagen ab. Erdrü­ckend langsam vergehen Jahre, die im Film nur am Wechsel der Jahres­zeiten zu erkennen sind. Dazu erzählt die jüngere Schwester Freshta von der Schikane des Profes­sors in Kabul und vom letzten Telefonat. Bald beginnt sie selbst, an einer Provin­zuni zu studieren, und es scheint, als wolle sie die Arbeit ihrer Schwester fort­führen. Der Vormarsch der Taliban stoppt ihr Studium und löst die Struktur der Familie und der Handlung auf. Der Film ist unfassbar langsam erzählt und nur das Warten auf das unaus­weich­liche Ende hält einen wach. – Jonas Hey, LMU München

Das leere Grab (D, TZA 2024 · R: Cece Mlay, Agnes Lisa Wegner · Dok Network Africa)

Songea, Tansania. Eine große Familie umringt ein Grab – sie sprechen zu ihrem Vorfahren, der hier beerdigt wurde. Doch der Tote findet keine Ruhe, ebenso wie seine Angehö­rigen. »Es ist wie ein nie endendes Begräbnis…«, sagt einer der Nach­fahren. Dem toten Songea Mbano wurde der Kopf geraubt, nachdem er von deutschen Kolo­ni­al­truppen zusammen mit 68 anderen gehängt wurde. Der deutsche Afri­ka­for­scher Felix von Luschan raubte allein in Afrika mehr als 12000 Schädel und Gebeine im Dienst der deutschen Wissen­schaft. Bis auf wenige Ausnahmen lagern diese Überreste tausender Menschen immer noch in deutschen Museen und Samm­lungen. Die beiden Regis­seu­rinnen Cece Mlay und Agnes Lisa Wegner nähern sich diesem noch sehr wenig beleuch­teten Kapitel deutscher Gewalt­ge­schichte behutsam und aus der Perspek­tive der Angehö­rigen an. – Philipp Thurmaier

Lange Schatten des Kolo­nia­lismus. In der deutschen Besat­zungs­zeit wurden viele mensch­liche Gebeine aus den Kolonien nach Deutsch­land gebracht. Nun setzen sich die Familien Mbano und Kaaya dafür ein, einen Schädel bzw. den Körper ihrer Vorfahren zurück­zu­er­halten. Während die tansa­ni­sche Regierung untätig bleibt, treibt eine Frei­wil­li­gen­gruppe in Berlin die Suche voran. In langen Einstel­lungen zeigt der Film, wie tief die Trauer um die verschleppten Nach­fahren in den Familien sitzt. Es bricht einem das Herz, diesen gütigen Menschen dabei zuzusehen, wie sie über ihren Verlust und ihre vergeb­liche Suche sprechen. Zwar besucht Bunde­sprä­si­dent Frank-Walter Stein­meier Tansania und entschul­digt sich bei den Opfern, doch bis heute wurden die Gebeine nicht zurück­ge­geben. Nach diesem Film bleibt man scho­ckiert und wütend ob der Unge­rech­tig­keit zurück. – Jonas Hey, LMU München

Let the Canary Sing (Groß­bri­tan­nien, USA 2023 · R: Alison Ellwood · DOK.music)

Ein gewöhn­li­cher Doku­men­tar­film über eine außer­ge­wöhn­liche Sängerin. Cyndi Lauper wächst in den Migran­ten­vier­teln von New York auf und wird durch ihre Mutter musi­ka­lisch geprägt. Nach vielen Fehl­schlägen gelingt ihr mit den Hits »Girls just wanna have fun« und »Time after Time« der inter­na­tio­nale Durch­bruch. Dabei lässt sie sich von Produ­zenten, Studios und der Gesell­schaft keinen Stil vorschreiben. In archi­va­li­schen Aufnahmen sehen wir Lauper aufwachsen, ihre Stücke singen oder in Talkshows auftreten, was durch die Talking Heads von Lauper, ihren Geschwis­tern und Managern einge­ordnet wird. Modern wirken die femi­nis­ti­schen und queeren Inhalte der Lieder. Ansonsten schwimmt die Doku auf der Welle der Dokus über Leben und Karriere geal­terter Stars. – Jonas Hey, LMU München

Machtat (Frank­reich, Libanon, Qatar, Tunesien 2023 · R: Sonia Ben Slama · Best of Fests)

Jedes Detail muss sitzen. Die Stimmung ist andächtig gedrückt, als die Damen der Hoch­zeits­musik die Braut schmücken. Ob man sich zu einem freudigen Anlass oder nur einem Tages­ord­nungs­punkt begibt, bleibt offen. Doch die Musik spricht Bände: wenn die Schwes­tern Najeh und Waffeh mit Mutter Fatma die Braut musi­ka­lisch in den Festsaal geleiten, zeigt diese das Innere der Frauen. Die Stimme der jüngeren Schwester ist klar und bestimmt. »Schließ­lich bin ich noch jung!«, erklärt die geschie­dene Allein­er­zie­hende, als sie sich für ihr Date mit einem neuen Mann fertig­macht. Najeh weiß, was sie will. Anders als ihre Schwester, die ihren aggres­siven Ehemann dem Sohn zuliebe erträgt. Die rhyth­mi­schen Schläge auf Trommeln und Pakaschen des Ensembles verkör­pern diesen Zwiespalt, denn der Hoch­zeitszug klingt stets nach einer Melange aus Euphorie und Vorbe­rei­tung zum Kampf. Der Film zeigt einen intimen Einblick in ein kleines Fami­li­en­un­ter­nehmen, dessen täglich Brot das Glück der anderen ist und damit oft das eigene Leid vor Augen führt. – Maria Feckl, LMU München

Mañana Sol (D 2023 · R: Denis Pavlovic · Student Award)

Das schäu­mende Wasser des Atlantiks spült über einen schwarzen Strand. Palmen stehen an der Promenade, weiße Häuser­burgen über­wu­chern die sanft anstei­genden Berge. Paradies Kanaren – wie so viele deutsche Rentner:innen kamen Jadrenka und Alek­sandar hierher, um ihren Lebens­abend zu genießen. Doch das Paradies ist trüge­risch: der sinn­ent­leerte Alltags­trott entzweit die beiden schnell. Jadrenka zieht auf eine andere Insel und eröffnet eine Bar. Alek­sandar bleibt zurück und hat neben einem letzten gemein­samen Urlaub mit seiner Exfrau nur noch den Traum, einen letzten Tauchgang zu unter­nehmen. Regisseur Denis Pavlovic präsen­tiert in seinem Film eine surreale Plas­tik­welt, die ganz auf den Lebens­abend betuchter Rentner:innen ausgelegt ist. Doch leider kommt der Film nicht über den Bilder­rausch hinaus, das Verhältnis zu Mutter und Vater bleibt unaus­ge­spro­chen. – Philipp Thurmaier

Mann­schaft (Deutsch­land 2023) – R: Tobit Kochanek – Student Award 2024

Sport­liche Thera­pie­stunde im Berliner Ghetto. Mitten im berüch­tigten Görlitzer Park hat die Amateur­fuß­ball­mann­schaft Pulman Negro Kreuzberg ihren Sport­platz. Der Film möchte einen neuen Blick auf den Themen­kom­plex Fußball in Verbin­dung mit gesell­schaft­li­chen Normen, Männ­lich­keit sowie sozialer Unter­schiede aufzeigen. Dabei sind die auffal­lend gestellten Szenen und unzäh­ligen Interview-Antworten auf dieselben Fragen eher hinder­lich, wirklich in den Film und die Geschichten der Männer einzu­tau­chen. Starke Momente gibt es dann, wenn die Grenze zwischen Insze­nie­rung und Wahr­haf­tig­keit zu verschwimmen scheint. Ansonsten sehen wir das, was die meisten ohnehin schon wissen dürften: Dass auch Amateur­fuß­baller dieselben Probleme haben wie der Rest der Gesell­schaft. – Christian Schmuck, LMU München

Mina And The Radio Bandits (Norwegen 2024 · R: Kari Anne Moe · DOK. inter­na­tional Main Compe­ti­tion)

Ein beein­dru­ckendes Werk über das alle Menschen verbin­dende Leben. Mit Geduld und Leiden­schaft verübt die geschasste Radio­mo­de­ra­torin Mina Hadjian ihre Arbeit, bei der sie Insassen von Gefäng­nissen eine Stimme gibt. Die Unvor­ein­ge­nom­men­heit den Häft­lingen gegenüber und die sichtbare Leiden­schaft an ihrer Arbeit ist in jeder Sekunde zu spüren. Regis­seurin Kari Anne Moe erzählt ihre, sowie die Geschichte dreier (Ex-)Häftlinge mit Fein­ge­fühl und dem Blick für das Intime. Während der Fokus zwischen Mina und den »Bandits«, wie sie sich selbst bezeichnen, immer wieder wechselt, entwi­ckelt sich eine Geschichte über das Leben und seine Hochs und Tiefs. Trotz der zuweilen über­wäl­ti­genden Themen­flut, die er präsen­tiert, verliert der Film nie seinen Fokus auf das Wesent­liche und seinen emotio­nalen Leitfaden. – Christian Schmuck, LMU München

Miss Kiet’s Children (Nieder­lande 2016 · R: Petra Lataster-Czisch und Peter Lataster · Hommage)

Auf Augenhöhe, mit viel Geduld und Liebe widmet sich die Grund­schul­leh­rerin Kiet Engels den Kindern in ihrer Inte­gra­ti­ons­klasse. In einem kleinen nieder­län­di­schen Dorf gestrandet, bringen die geflüch­teten Kinder auch ihre leid­vollen Erfah­rungen von Krieg und Flucht mit in diesen geschützten Raum. Miss Kiet, wie die Kinder sie nennen, schlichtet Streit, tröstet ihre Schütz­linge, wenn sie sich in der neuen Welt verloren fühlen. Die Filme­ma­cher Petra Lataster-Czisch und Peter Lataster wollten eigent­lich einen Film über die besondere Leistung einer Lehrkraft machen und fanden in Kiet Engels ihre ideale Prot­ago­nistin. Die Regis­seure konnten sie zwar schnell für ihr Projekt gewinnen, doch sie machte es zur Bedingung, dass nicht sie, sondern die Kinder im Mittel­punkt stehen. Das war eine kluge Forderung, wie das Regie führende Ehepaar Lataster-Czisch im Publi­kums­ge­spräch einräumt. Ebenso wie Miss Kiets begegnet auch die Kamera den Kleinen auf Augenhöhe, zeigt ihre Probleme und wie sie nach und nach wieder Freude, Freunde und ihr Lächeln finden. – Ingrid Weidner

Monisme (Indo­ne­sien 2023 · R: Riar Rizaldi · DOK.panorama)

Monism
(Foto: DOK.fest | Riar Rizaldi)

Eins werden. Fakt, Fiktion und Mythos verschmelzen im Schatten des indo­ne­si­schen Vulkans Merapi. Merapi ist Sinnbild für die kommende Kata­strophe, konkrete Lebens­grund­lage der Minen­ar­beiter, spiri­tu­eller Fokus der lokalen Schamanen. Er ist massiv, unum­stöß­lich und lädt zum Philo­so­phieren ein. In schau­spie­le­risch drama­ti­sierten Sequenzen wird Natur­ge­walt eins mit der greif­baren, gerich­teten Gewalt eines Para­mi­litär-Bosses. Wie der Vulkan, ständig rauchend, immer da, immer gefähr­lich. Doch die drückende, mono­li­thi­sche Atmo­sphäre bröckelt: durch die Darstel­lung über­bor­dender Bruta­lität und in ausge­dehnten Längen. Monisme insze­niert einen Einbruch der Fiktion ins Reale und zurück in die Konstruk­tion des filmi­schen Mediums und stellt die Frage nach Wirk­lich­keiten im (Un-)Echten. – Lee Rede­pen­ning, LMU München

A New Kind of Wilder­ness (Norwegen 2024 · R: Silje Evensmo Jacobsen · Best of Fests)

Der Verlust einer geliebten Person ist nur der Anfang. Maria und Nik leben mit ihren vier Kindern naturnah auf einer Farm in Norwegen. Doch dann stirbt Maria mit nur 41 an Krebs und die Familie muss mit der neuen Situation klar­kommen. Die Kamera kennt keine Scheu, versetzt uns mitten ins Geschehen und lässt uns die Emotionen der verletzten Familie mitfühlen. Dadurch gelingt die Immersion in die Welt der Familie und wir teilen ihren Schmerz. Besonders Ronja und Freya vermissen ihre Mutter und reagieren mit Abschot­tung. Einander können sie sich nicht offen­baren, tun es dann aber durch Briefe, die sie sich und uns wech­sel­seitig vorlesen. Die Verar­bei­tung ihres Verlustes schreitet dabei in der male­ri­schen Land­schaft Norwegens voran. Diesen tief­ge­henden und einfühl­samen Film muss man gesehen haben. – Jonas Hey – LMU München

Of Caravan And The Dogs (Deutsch­land 2024 · R: Askold Kurov, Anonymous1 · DOK.focus DEMOCRAZY)

Vom Ende der Pres­se­frei­heit in Russland. Der Film zeigt eindrück­lich den Weg zur Auflösung der großen regime­kri­ti­schen Medi­en­an­stalten, jedoch durch den Einsatz der Musik auch leicht mani­pu­lie­rend und stark emotio­na­li­sie­rend. Jegliche kritische Einord­nung der Gescheh­nisse und Insti­tu­tionen fehlt hier: Repor­tagen von und bei Memorial und den Medi­en­häu­sern Novaya Gazeta, Radio Ekho Moskvy, Telekanal Dozhd (TV Rain) sowie Nastoyashee Vremya (Current Times) werden kommen­tarlos neben­ein­an­der­ge­stellt. Auch sind die engli­schen Unter­titel teils trotz passender Alter­na­tiven so übersetzt, dass Nuancen verloren gehen, obwohl der Umgang mit Worten selbst oft im Zentrum des Films steht. Die einge­blen­deten rein engli­schen Texte legen ein inter­na­tio­nales, nicht-russisch­spra­chiges Ziel­pu­blikum nahe, weshalb all das verwun­dert und einen zwie­ge­spalten zurück­lässt. – Paula Ruppert

Omi Nobu (Cabo Verde 2023 · Regie: Carlos Yuri Ceuninck · DOK.horizonte)

Omi Nobu
(Foto: DOK.fest | Carlos Yuri Ceuninck)

Ein alter Mann und das Leben­s­ende. An eine felsige Küste auf Kap Verde schmiegt sich ein kleines Dorf. Darin lebt seit 40 Jahren nur noch der alte Quirino, nachdem die Einwohner nach zwei Unglücken wegge­zogen sind. Doch auch er spürt das Alter und beschäf­tigt sich mit dem Sterben. In der rauen Idylle des Geis­ter­dorfes hört er Radio, füttert die Vögel oder blickt in die Ferne und seine Vergan­gen­heit. Der Film zeigt in langsamen Bildern das Ende eines Lebens­weges, das der Prot­ago­nist und seine Schwester mit Erin­ne­rungen anrei­chern. Dazwi­schen schaut man in die Vergan­gen­heit von Quirino, indem man den Kindern aus dem benach­barten Dorf beim Spielen zusieht. So bleibt von diesem schön langsamen Film die Bewun­de­rung über einen hart­nä­ckigen Menschen, der noch dem Tod mit Gelas­sen­heit begegnet. – Jonas Hey, LMU München

Ozogoche (R: Joe Houlberg Silva, Belgium, Ecuador, Qatar 2023 · DOK.horizonte)

Stetig und im Wandel. Ein abge­schie­dener Ort, an den Vögel kommen, um hier zu sterben. Wie einem tableau vivant haucht Ozogoche seinen bild­ge­waltig kompo­nierten, fast foto­gra­fisch wirkenden Eindrü­cken der ecua­do­ria­ni­schen Anden und seiner Menschen filmi­sches Leben ein. Die langen, stati­schen Einstel­lungen verleihen ihnen Nähe und Permanenz, wieder und wieder durch­bro­chen vom Rauschen der Bewe­gungs­un­schärfe. Die Zusam­men­stel­lung legt subtil Kontraste frei: sterbende Vögel und lebhafte Kinder, tief veran­kerter Glaube und profaner Alltag, Geschichten des Groß­va­ters – große Erzäh­lungen über die Berge und den See, über Vorfahren, über Armut – und YouTube-Clips, die Abwe­sen­heit der Männer, die ausge­zogen sind, um in den USA Arbeit zu finden. Ozogoche erhebt keinen Anspruch auf Volls­tän­dig­keit, behält in seiner Aspekt­haf­tig­keit etwas Geheim­nis­volles, fast Mysti­sches. – Lee Rede­pen­ning, LMU München

Patrīcija (Lettland 2023 · Regie: Dāvids Ernštreits, Inese Kļava · DOK.panorama)

Aufop­fe­rung fürs Treppchen. Unsere Prot­ago­nistin Patrīcija wächst in einer Sport­ler­fa­milie auf, und so hat sie scheinbar keine Wahl, als selbst Spit­zen­sport­lerin zu werden. Wie ihr Bruder fährt sie Langlauf und trainiert bis zum Umfallen für Wett­kämpfe. Zu Beginn nimmt die Kamera scho­nungslos ihr Gesicht in den Fokus und zeigt ihre häufigen Schmerzen, aber auch ihre Freude. Die aufge­baute Spannung fällt gleich ihrer Stimmung nach einem abge­bro­chenen Wettkampf in der Filmmitte ab. Als ihr Vater und Coach stirbt, sieht man zwar die Beer­di­gung, aber es entsteht eine Distanz zur Kamera, und die emotio­nalen Momente werden seltener. Auch der Höhepunkt bei Olympia fällt durch fehlende Bild­rechte aus, und es bleibt nur Zuschauen vom Stre­cken­rand, wodurch die Zuschauer sich volls­tändig von der Prot­ago­nistin entfremden. – Jonas Hey, LMU München

The Pickers (Deutsch­land, Grie­chen­land, Portugal 2024 · R: Elke Sasse · DOK.panorama)

Menschen­un­wür­diges Schuften für billiges Obst. Der junge Migrant Seydou arbeitet auf einer Oran­gen­plan­tage in Nord­ita­lien für einen Hunger­lohn. Er und weitere Saison­ar­beiter:innen aus Grie­chen­land, Spanien, Portugal und Grie­chen­land erzählen von den harten Arbeits­be­din­gungen, ausbeu­te­ri­schen Arbeit­ge­bern und kargen Wohnungen. Dabei haben die meisten noch eine Familie zu Hause, die sie finan­ziell unter­s­tützen müssen. Bewegend berichten die Prot­ago­nist:innen über die Härten des Lebens, aber auch über die Hoffnung auf ein legales und besseres Leben. Daneben erzählen Landwirte, dass sie ohne die billigen Arbeits­kräfte selbst bank­rott­gehen würden. Dieser Film verdeut­licht einmal mehr, dass die Kunden in Europa durch den Kauf billiger Lebens­mittel die Verant­wor­tung für die Miss­stände tragen. – Jonas Hey, LMU München

Projekt Ball­haus­platz. Aufstieg und Fall des Sebastian Kurz (Öster­reich 2023 · R: Kurt Langbein · DOK.focus DEMOCRAZY)

Vollen­detes Porträt eines Unvoll­endeten: Kurt Langbein drehte mehr als zwanzig Jahre Doku­men­tar­filme für den ORF. Entspre­chend treff­si­cher illus­triert er den aufhalt­samen Aufstieg des 24-jährigen Studi­en­ab­bre­chers Sebastian Kurz zum ÖVP-»Wunder­wuzzi« ab dem Jahr 2010 mit spre­chenden Bildern wie der Demontage eines SUV oder Aufnahmen aus einer Stachel­draht-Fabrik, wenn es um Kurz' frem­den­feind­liche Politik als Kanzler geht. »Feinde bekämpfen oder kaufen«, war das interne Motto der einge­schwo­renen Clique des Jung­kanz­lers, die wöchent­liche Losungen ausgab, an die sich das von Kurz einge­setzte Kabinett zu halten hatte. Dann kam die Ibiza-Affäre und mit ihr wurde die erschre­ckende Erosion der Demo­kratie endlich öffent­lich. Ein span­nendes Lehrstück zu wuchtiger Musik und mit Einblick in zahl­reiche Wiener Küchen und Wohn­zimmer. – Katrin Hill­gruber

Resto­ra­tion (D 2023 · R: Gudrun Gruber · student award)

Detroit. Die Bilder verfal­lener in Reihe stehender Häuser, über­wu­cherter Gehsteige und ausge­brannter Ruinen ist so sehr im kollek­tiven Gedächtnis verankert, dass andere Geschichten aus dieser Stadt kaum Chancen haben sie zu durch­dringen. Sabrinas Geschichte ist jedoch keine Geschichte des Verfalls, sondern des Aufste­hens und der Erneue­rung. Nach einer Verge­wal­ti­gung in jungen Jahren hatte das Trauma immer mehr Bereiche ihres Lebens erobert – Panik­at­ta­cken, körper­liche Anfälle. Nun steht sie vor diesem verfal­lenen Haus, das Teil ihres Traumas ist und dem sie sich stellen möchte. Regis­seurin Gudrun Gruber zeichnet das Portrait einer starken Frau, die offen mit ihrer Trau­ma­ar­beit umgeht und ihre Familie dabei mit einbe­zieht. – Philipp Thurmaier

A Shepherd (Frank­reich 2024 · Regie: Louis Hanquet · DOK.panorama)

A Shepherd
(Foto: DOK.fest | Louis Hanquet)

Ein stiller Film über einen stillen Schäfer. In weiten Einstel­lungen sieht man die Idylle der fran­zö­si­schen Berg­land­schaften, in denen der junge Schäfer Felix seiner Arbeit nachgeht. Er kümmert sich um verletzte Schafe, repariert einen Zaun oder treibt die Schafe ins Tal. An wenigen Stellen lauscht man ihm im Gespräch mit Vater oder Bekannten. Dazwi­schen zieht in fantas­tisch gefilmten Nacht­auf­nahmen der Wolf seine Kreise durch das Tal. Tagsüber findet Felix dann die zerfetzten Kadaver der Schafe und begräbt sie unter Steinen. Zuletzt begleitet man seine Familie, wie sie die Herde zurück auf die Sommer­weiden treibt. Dem langsam erzählten Doku­men­tar­film fehlt dabei der Fokus auf ein Thema. Allein der stille Felix ist eine Konstante, von dem man gerne mehr gesehen und erfahren hätte. – Jonas Hey, LMU München

Schäfchen zählen. Das ist eine der Haupt­auf­gaben von Schäfer Félix, der in den südfran­zö­si­schen Hochalpen seine Herde mit Schafen und ein paar Ziegen über das dürre Gras führt. Geschlafen wird in einer kargen Hütte, ein paar Seiten Lektüre vor dem Einschlafen müssen als Freizeit reichen, morgens ein Kaffee und die Nach­richten, bevor es bei Wind und Wetter wieder an die Arbeit geht. Erzählt wird von der Besorgnis um den Klima­wandel, die auch die Existenz des Schäfers bedroht, und vom zwangs­läufig tödlich verlau­fenden Kreislauf des Lebens. Und dann kommt auch noch der Wolf, der sich in Nacht­sicht­auf­nahmen als bedroh­lich wendiger weißer Fleck und in den Hörnern der genial natur­nahen Film­mu­sik­kom­po­si­tion ankündigt. Hier muss man beob­achten und selbst hinsehen: der Zuschauer wird zum Hüter des Films. – Dunja Bialas

The Silence of 600 Million Results (D 2023 · R: Sophie Lahusen · student award)

Ein Desk­top­film. Mit dem Handy gefilmt: Szenen aus dem Alltag. Kramen im Droge­rie­markt. Ein Schwan­ger­schafts­test. 3 Minuten. Anleitung lesen, Timer stellen. Das Leben im Device. Nach bangen Minuten auf Whatsapp und Instagram: das Ergebnis ist unein­deutig. Wieder panisches Googeln nach glaub­wür­digen Infor­ma­tionen. Sophie Lahusens Film ist eine Reise in das tägliche Schicksal tausender Frauen: die Entschei­dung, eine Schwan­ger­schaft abzu­bre­chen, oder ein Kind auszu­tragen. Die fiktive Prot­ago­nistin Ava, deren Ratlo­sig­keit und Verzweif­lung auf dem Bild­schirm ihres Handys spürbar wird, steht dabei für so viele Frauen. Der Kampf um eine Entschei­dung, tausende Stimmen und Eindrücke, die auf einen nieder­pras­seln. Die Entschei­dung um etwas Alltäg­li­ches, das gleich­zeitig so außer­or­dent­lich ist. – Philipp Thurmaier

Los Últimos (Paraguay 2023 · R: Sebastián Peña Escobar · DOK.horizonte)

Fata­lis­ti­scher Stamm­tisch am Rande der Zivi­li­sa­tion. Regisseur Sebastían Peña Escobar begibt sich auf einen Roadtrip durch Paraguay, um den titel­ge­benden letzten Rest des Dschun­gels aufzu­nehmen. Dabei filmt er seinen Onkel Jota, einen Orni­tho­logen, und dessen besten Freund Ulf, einen Nacht­fal­ter­ex­perten. Zwischen Droh­nen­auf­nahmen verbrannter Felder und verwa­ckelten Aufnahmen aus dem Auto schimpfen die beiden auf die Kurz­sich­tig­keit der Mensch­heit, die Sinn­lo­sig­keit des Kapi­ta­lismus und den zuneh­menden Konsu­mismus. Besonders Ulfs von Schimpf­wör­tern gespickte Monologe füllen diesen Film. In deren Schatten gibt es lediglich einzelne Infor­ma­ti­ons­schnipsel über Biodi­ver­sität oder Folgen der Brand­ro­dung. Statt eines beein­dru­ckenden Appells zum Natur­schutz hört man Tiraden auf das Ende der Welt. – Jonas Hey, LMU München

Sie sind die letzten ihrer Art. Ob sich der Titel auf die unberührten Wälder Paraguays, die zwei alternden Natur­for­scher oder die Menschen an sich bezieht, bleibt Inter­pre­ta­ti­ons­sache. Wirklich viel Wald gibt es nicht zu sehen. Das ist der Punkt. Die Natur­räume schwinden rapide, Opfer von Rodung und Bränden. Ernüch­ternde Natur­auf­nahmen zeigen den Weg, die Chaco-Wälder zu doku­men­tieren, bevor sie verschwinden: lange Straßen, verdorrte Erde, verein­zelte Palmen. Die Dämmerung rot von Feuer. Begleitet wird der filmische Abschied von zwei Natur­ex­perten, die in einer hoch­ge­bil­deten Statler-und-Waldorf Dynamik zwischen Wissen, Weisheit und sturem Beharren die großen Fragen erörtern: Fort­be­stand der mensch­li­chen Spezies, Klima­ka­ta­strophe, Kapi­ta­lismus, Krieg etc. Regisseur Escobar setzt den defä­tis­ti­schen Aussagen seine Stimme aus dem Off entgegen, die fragend und sanft lebens­be­ja­hend Balance schafft und Impulse zum eigenen Denken gibt. – Lee Rede­pen­ning, LMU München

Der Unter­nehmer, das Dorf und die Künstler (Deutsch­land 2024 · R: Marcelo Busse, Julia Suermondt · DOK.deutsch)

Akti­ons­kunst in Deppen­dorf. Der Hersteller von Insek­ten­sprays Reckhaus macht sich mit den Akti­ons­künst­lern Frank und Patrik Riklin auf den Weg nach Deppen­dorf. Dort wollen sie die Gemeinde für das Projekt »Fliegen retten« gewinnen, wobei dem Sieger einer Lotterie ein Well­ness­wo­chen­ende mit Fliege winkt. Die Idee breitet sich rasant im Dorf aus, immer mehr Leute machen mit und entwi­ckeln neue Ideen: So gibt es eine Gesangs­ein­lage, Papp­auf­steller und ein Flie­gen­hotel. Doch es gibt auch Zweifler, darunter Jour­na­listen vom WDR, die nur einen Marketing-Gag sehen. Reckhaus aber meint es ernst, zieht die Veran­stal­tung mit den beiden beherzten Künstlern durch und begeis­tert Dorf und Zuschauer. Dieser Film zeigt, dass Deutsch­land Humor hat. – Jonas Hey, LMU München

A Wolfpack called Ernesto (Frank­reich, Mexiko, Schweiz 2023 · R: Everardo González · DOK.inter­na­tional)

Ein Film als Podcast. Verschie­dene Jugend­liche erzählen aus dem Off über ihre Zeit in den Gangs von Mexiko. Sie berichten vom Respekt der Älteren, der Allmacht der Schuss­waffe in der Hand, dem Schock nach dem ersten Mord und der Angst vor Vergel­tung danach. Auch geht es um korrupte Poli­zisten, die ihnen Waffen verkaufen, die sie zuvor konfis­ziert haben. Dabei sieht man stets over shoulder einen Jugend­li­chen, wie er über eine Straße läuft oder sich mit Freunden trifft. Meist ist dabei der Hinter­grund verwa­schen, wohl um die gezeigten Personen zu schützen. Dabei bleibt unklar, ob die Gezeigten auch die Sprecher sind. Im Vergleich zu den gehörten Geschichten verblassen die sicht­baren Alltags­szenen. Es bleibt offen, warum ein Film gemacht wurde, statt einfach nur einen Podcast zu produ­zieren. – Jonas Hey, LMU München

The Writer in the Trees / Lo scrittore sugli alberi (Frank­reich/Italien 2023 · R: Duccio Chiarini · DOK.panorama)

»Weißt du, dass dieser Frosch deine Tante sein könnte?«, herrschte Italo Calvino einen Jungen an, dem er bei einem Ausflug an einem Fluss mit seinen Verlags­kol­legen von Einaudi begegnete. Erschro­cken habe dieser das Tier wieder in die Freiheit springen lassen, erinnert sich Jahr­zehnte später ein Mitar­beiter des renom­mierten Turiner Verlags. Mit umfang­rei­chem Archiv­ma­te­rial ab der Geburt des Schrift­stel­lers und Lektors 1923 auf Kuba und zahl­rei­chen Gesprächen illus­triert Duccio Chiarini die über­ra­gende Bedeutung, die der Schöpfer luftig-origi­neller Werke wie »Der Baron auf den Bäumen« für das italie­ni­sche Geis­tes­leben ab dem Zweiten Weltkrieg hatte, den er als Partisan erlebte. Der 1985 verstor­bene Italo Calvino bleibt eine Instanz, das zeigt auch die angeregte Lite­ra­tur­in­ter­pre­ta­tion einer Klasse eines nach ihm benannten Floren­tiner Gymna­siums. – Katrin Hill­gruber