Filmstunde_23

Deutschland 2023 · 89 min.
Regie: Jörg Adolph, Edgar Reitz
Drehbuch: ,
Kamera: Matthias Reitz-Zausinger, Markus Schindler u.a.
Schnitt: Jörg Adolph, Anja Pohl
Ein Filmemacher aus der Tiefe der Zeit: Edgar Reitz
(Foto: Berlinale · © Simon Haseneder)
39. DOK.fest München 2024

Warum sollten nicht alle Geschichten erzählen?

Eine Geschichtsstunde der besonderen Art zeigt Filmstunde_23, eine Revision eines zurückliegenden Schulklassen-Experiments, als man noch an den deutschen Film glaubte

»Wenn sich die Dame in der ersten Reih bitte a no hinstellen würd.« Die Profis hinter der Kamera justieren bereits an finalen Posi­tionen und Belich­tungs­ein­stel­lungen, doch die Haupt­ak­teu­rinnen der Szene liegen sich noch strahlend in den Armen; in Erin­ne­rungen schwel­gend, weil sie sich viel zu erzählen haben. Jetzt aber mal Ruhe. Noch etwas nach links, ein wenig enger zusammen, fertig ist das Klas­sen­foto!

Einzig die ein oder andere graue Haar­strähne der Abge­lich­teten auf den Stufen des Münchner Luisen­gym­na­siums erinnert daran, dass es sich nicht tatsäch­lich um jugend­liche Pausen­plau­de­reien handelt. Die g’standenen Frauen haben ganze Leben hinter sich, seit sie sich das letzte Mal in derselben Konstel­la­tion trafen, doch eines verbindet sie spürbar: Sie alle waren Teil eines nie zuvor dage­we­senen Pilot­pro­jektes – dem Film­un­ter­richt für die Schule.

Filmstunde_23 ist eine Retro­spek­tive. Die Regis­seure Edgar Reitz und Jörg Adolph widmen sich dabei Archiv­ma­te­rial, welches Reitz im Jahre 1968 über einen Monat lang in einem Münchner Klas­sen­zimmer sammelte. Ganz im Sinne eines Jahr­gangs­tref­fens reflek­tieren vor der Kamera Schü­le­rinnen samt Lehrer erneut das gemein­same Expe­ri­ment. Dessen Ziel war glei­cher­maßen innovativ wie herrlich idea­lis­tisch: die Ausein­an­der­set­zung mit Film an allen Schulen verpflich­tend in den Lehrplan zu inte­grieren.

Die Begrün­dung dazu liefert das einlei­tende Zitat des Film­theo­re­ti­kers und Dreh­buch­au­tors Béla Bálazs, wodurch der Ton des Doku­men­tar­films gesetzt ist: »Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wich­tigste Revo­lu­tion der mensch­li­chen Bildung nicht zur Kenntnis.«

Rewind – 55 Jahre zuvor. Ein noch etwas steifer junger Mann steht vor einer Klasse kichernder Schul­mäd­chen. Zunächst könnte man ihn auch für den Heimat- & Sach­kun­de­lehrer halten, doch er stellt ganz andere Fragen, als es die Schü­le­rinnen gewohnt sind: »Was gefällt dir denn an Geschichten? Wie würdest du deine erzählen?« Die Close-ups seiner Mimik zeigen, dass er es ernst meint, doch die errö­tenden Gesichter der Mädchen weichen dem verfol­genden Blick der unge­wohnten Gerät­schaften im Klas­sen­zimmer verstohlen aus. Noch – denn ihre Neugier ist geweckt.

Die nahtlose Montage zwischen großen Kuller­augen in körnigem Schwarz-Weiß und deren hoch­auf­lö­senden Pendants heute lässt das Publikum der kreativen Leiden­schaft der Frauen besonders nahe­kommen. Das Leben hat seine Spuren in den Gesich­tern hinter­lassen, doch die Begeis­te­rung in ihren Augen beim Thema Film bleibt unver­än­dert. »Zum ersten Mal hat sich jemand für meine Meinung und Gedanken inter­es­siert«, erzählt eine ehemalige Schülerin gerührt. Aus dieser unter der Ober­fläche schlum­mernden Glut entfachte mehr, als sie selbst für möglich gehalten haben. Eindrucks­voll und intim doku­men­tieren die Aufnahmen das vorsich­tige Heran­tasten der Schü­le­rinnen an die Praxis, das schon bald dem unver­kenn­baren Selbst­be­wusst­sein von Kindern weicht, sich uner­schro­cken auf neues Terrain zu begeben.

Eins der Mädchen holt für ihr abschließendes Film­pro­jekt den eigenen Vater vor die Linse. Thema: männliche Eitelkeit. Szenen wechseln zwischen dem Krähen eines Hahnes und dem morgend­li­chen Blick in den Spiegel. Asso­zia­tives Erzählen, wie es an den fran­zö­si­schen Autoren­film der Nouvelle Vague erinnert. Edgar Reitz disku­tiert auch solche Entwick­lungen in der Klasse, denn wenn Film das meist­kon­su­mierte Medium der Zeit ist, wie kann man dann zulassen, dass der Nachwuchs auf diesem Gebiet zu »Anal­pha­beten« wird?

Fast Forward. – Das Jahr 2023 in einem Münchner Kaffee. Wieder sitzt Edgar Reitz in gewohnter Rollen­ver­tei­lung seinen Schü­le­rinnen gegenüber, die ihm gespannt lauschen. Noch einmal bekommen sie die Super-8-Kamera in die Hände gelegt. Ein Relikt der Vergan­gen­heit, doch der Blick durchs Objektiv sitzt, als wäre es erst gestern gewesen. Die Hände heute etwas größer als in den Archiv­auf­nahmen, in denen eine Traube junger Mädchen auf der Jagd nach Material durch München spaziert; eine jede die Kamera fest umschlossen. Sie fangen gezielt ein, was sie inspi­riert. – Die Regis­seu­rinnen der Zukunft, idea­ler­weise.

In einem herrlich selbst­re­fe­ren­zi­ellen Moment des digitalen Zeital­ters wird eine der Damen dabei gefilmt, wie sie mit ihrem i-Phone den Blick ihrer Freundin durch die Super-8 festhält. Es erinnert mit einem bitteren Nach­ge­schmack an den Ausgang des Expe­ri­ments, der nicht ausge­spro­chen und doch thema­ti­siert werden muss. Edgar Reitz ist ein renom­mierter deutscher Regisseur, der vielfach für seine Werke ausge­zeichnet wurde. Besonders seine Heimat-Trilogie, die er über Jahr­zehnte hinweg fort­setzte, erzielte große Erfolge. Doch wie viele Einzel­phä­no­mene zog er mit seiner Karriere an der Entwick­lung der deutschen Film­branche vorbei. Dem Film wurde im Bildungs­alltag nur kurz eine Bühne geboten. In einer ausge­wählten Schul­klasse, ohne Chance auf Verlän­ge­rung.

Der damalige Vorwurf einer Mutter an den unter­rich­tenden Regisseur beschreibt diese mysti­fi­zie­rende Haltung dem Medium gegenüber treffend: »Sie geben den Kindern eine Süßigkeit, die Sie ihnen dann doch wieder wegnehmen.« Und so bleibt der Film bis heute eine elitäre Welt in den Köpfen der Menschen, von der viele aus der Ferne begeis­tert sind und es doch nur wenige wagen, in dessen Inneres vorzu­dringen. Ob sich die ein oder andere Person von den Lektionen der Film­stunde unter­richten lässt? Leider kann in der Realität nicht vorge­spult werden.