Deutschland 2023 · 89 min. Regie: Jörg Adolph, Edgar Reitz Drehbuch: Jörg Adolph, Edgar Reitz Kamera: Matthias Reitz-Zausinger, Markus Schindler u.a. Schnitt: Jörg Adolph, Anja Pohl |
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Ein Filmemacher aus der Tiefe der Zeit: Edgar Reitz | ||
(Foto: Berlinale · © Simon Haseneder) |
»Wenn sich die Dame in der ersten Reih bitte a no hinstellen würd.« Die Profis hinter der Kamera justieren bereits an finalen Positionen und Belichtungseinstellungen, doch die Hauptakteurinnen der Szene liegen sich noch strahlend in den Armen; in Erinnerungen schwelgend, weil sie sich viel zu erzählen haben. Jetzt aber mal Ruhe. Noch etwas nach links, ein wenig enger zusammen, fertig ist das Klassenfoto!
Einzig die ein oder andere graue Haarsträhne der Abgelichteten auf den Stufen des Münchner Luisengymnasiums erinnert daran, dass es sich nicht tatsächlich um jugendliche Pausenplaudereien handelt. Die g’standenen Frauen haben ganze Leben hinter sich, seit sie sich das letzte Mal in derselben Konstellation trafen, doch eines verbindet sie spürbar: Sie alle waren Teil eines nie zuvor dagewesenen Pilotprojektes – dem Filmunterricht für die Schule.
Filmstunde_23 ist eine Retrospektive. Die Regisseure Edgar Reitz und Jörg Adolph widmen sich dabei Archivmaterial, welches Reitz im Jahre 1968 über einen Monat lang in einem Münchner Klassenzimmer sammelte. Ganz im Sinne eines Jahrgangstreffens reflektieren vor der Kamera Schülerinnen samt Lehrer erneut das gemeinsame Experiment. Dessen Ziel war gleichermaßen innovativ wie herrlich idealistisch: die Auseinandersetzung mit Film an allen Schulen verpflichtend in den Lehrplan zu integrieren.
Die Begründung dazu liefert das einleitende Zitat des Filmtheoretikers und Drehbuchautors Béla Bálazs, wodurch der Ton des Dokumentarfilms gesetzt ist: »Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.«
Rewind – 55 Jahre zuvor. Ein noch etwas steifer junger Mann steht vor einer Klasse kichernder Schulmädchen. Zunächst könnte man ihn auch für den Heimat- & Sachkundelehrer halten, doch er stellt ganz andere Fragen, als es die Schülerinnen gewohnt sind: »Was gefällt dir denn an Geschichten? Wie würdest du deine erzählen?« Die Close-ups seiner Mimik zeigen, dass er es ernst meint, doch die errötenden Gesichter der Mädchen weichen dem verfolgenden Blick der ungewohnten Gerätschaften im Klassenzimmer verstohlen aus. Noch – denn ihre Neugier ist geweckt.
Die nahtlose Montage zwischen großen Kulleraugen in körnigem Schwarz-Weiß und deren hochauflösenden Pendants heute lässt das Publikum der kreativen Leidenschaft der Frauen besonders nahekommen. Das Leben hat seine Spuren in den Gesichtern hinterlassen, doch die Begeisterung in ihren Augen beim Thema Film bleibt unverändert. »Zum ersten Mal hat sich jemand für meine Meinung und Gedanken interessiert«, erzählt eine ehemalige Schülerin gerührt. Aus dieser unter der Oberfläche schlummernden Glut entfachte mehr, als sie selbst für möglich gehalten haben. Eindrucksvoll und intim dokumentieren die Aufnahmen das vorsichtige Herantasten der Schülerinnen an die Praxis, das schon bald dem unverkennbaren Selbstbewusstsein von Kindern weicht, sich unerschrocken auf neues Terrain zu begeben.
Eins der Mädchen holt für ihr abschließendes Filmprojekt den eigenen Vater vor die Linse. Thema: männliche Eitelkeit. Szenen wechseln zwischen dem Krähen eines Hahnes und dem morgendlichen Blick in den Spiegel. Assoziatives Erzählen, wie es an den französischen Autorenfilm der Nouvelle Vague erinnert. Edgar Reitz diskutiert auch solche Entwicklungen in der Klasse, denn wenn Film das meistkonsumierte Medium der Zeit ist, wie kann man dann zulassen, dass der Nachwuchs auf diesem Gebiet zu »Analphabeten« wird?
Fast Forward. – Das Jahr 2023 in einem Münchner Kaffee. Wieder sitzt Edgar Reitz in gewohnter Rollenverteilung seinen Schülerinnen gegenüber, die ihm gespannt lauschen. Noch einmal bekommen sie die Super-8-Kamera in die Hände gelegt. Ein Relikt der Vergangenheit, doch der Blick durchs Objektiv sitzt, als wäre es erst gestern gewesen. Die Hände heute etwas größer als in den Archivaufnahmen, in denen eine Traube junger Mädchen auf der Jagd nach Material durch München spaziert; eine jede die Kamera fest umschlossen. Sie fangen gezielt ein, was sie inspiriert. – Die Regisseurinnen der Zukunft, idealerweise.
In einem herrlich selbstreferenziellen Moment des digitalen Zeitalters wird eine der Damen dabei gefilmt, wie sie mit ihrem i-Phone den Blick ihrer Freundin durch die Super-8 festhält. Es erinnert mit einem bitteren Nachgeschmack an den Ausgang des Experiments, der nicht ausgesprochen und doch thematisiert werden muss. Edgar Reitz ist ein renommierter deutscher Regisseur, der vielfach für seine Werke ausgezeichnet wurde. Besonders seine Heimat-Trilogie, die er über Jahrzehnte hinweg fortsetzte, erzielte große Erfolge. Doch wie viele Einzelphänomene zog er mit seiner Karriere an der Entwicklung der deutschen Filmbranche vorbei. Dem Film wurde im Bildungsalltag nur kurz eine Bühne geboten. In einer ausgewählten Schulklasse, ohne Chance auf Verlängerung.
Der damalige Vorwurf einer Mutter an den unterrichtenden Regisseur beschreibt diese mystifizierende Haltung dem Medium gegenüber treffend: »Sie geben den Kindern eine Süßigkeit, die Sie ihnen dann doch wieder wegnehmen.« Und so bleibt der Film bis heute eine elitäre Welt in den Köpfen der Menschen, von der viele aus der Ferne begeistert sind und es doch nur wenige wagen, in dessen Inneres vorzudringen. Ob sich die ein oder andere Person von den Lektionen der Filmstunde unterrichten lässt? Leider kann in der Realität nicht vorgespult werden.