28.09.2023

Gefühle zu verschenken

Alemania
Alemania: konzentriert und intim, ernst, aber niemals traurig
(Foto: Filmfestival San Sebastian)

Emotionaler Realismus, der Duft des Meeres und Lehren vom Weltmeister – Notizen aus San Sebastián, Folge 3

Von Rüdiger Suchsland

Es muss schön sein, in San Sebastian aufzu­wachsen. Man sieht hier, nicht nur am Sonntag, 10- oder 12-jährige Girls, die mit ihrem Surfbrett zum Strand gehen. Ältere Jugend­liche sowieso. Sie scheinen alle ein bisschen Kinder des Meeres zu sein.

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Auch Christoph Friedel, deutscher Produzent von der Kölner »Pandora«, der hier zwei Filme im Wett­be­werb hat, erzählt, dass man sich viel­leicht irgend­welche Sorgen über die Zukunft des Kinos macht – aber nur so lange, bis man mal wieder mit offenen Augen durch diese Stadt gelaufen ist oder auf das Meer geblickt hat. Heute sind die Wellen sehr hoch. Die Sonne scheint, es ist fast 30 Grad, aber es kommt ein konstanter Wind von Norden, der den Duft des Meeres in die Stadt hinein trägt. Das Parfum von San Sebastián.

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Als er die zwei Platten mit Meeres­früchten bringt, sagt der Kellner: »Vale compañeros, al ataque!«

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Es könnte alles so schön sein! Das Festival von San Sebastián zeigt auch, wie es ist, wenn eine Film­kultur ziemlich viele Filme hat, die klare Kinofilme sind und nicht fern­seh­do­mi­niert. So eben die spanische. Hier wird nicht so viel mit Kriterien und zu erfül­lenden Punkten operiert, wie bei uns. Schon gar nicht mit außer­fil­mi­schen, kunst­fremden. Alles wirkt offener. Und es gibt viel mehr Gemein­sinn unter den Filme­ma­chern, keine ungute Konkur­renz. Hier in Spanien ist alles etwas mehr in Bewegung. Zusätz­lich profi­tiert Spanien natürlich davon, dass es den latein­ame­ri­ka­ni­schen Sprach­raum quasi in der Hinter­hand hat.

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Argen­ti­nien ist nicht nur das Land des Fußball­welt­meis­ters und von Lionel Messi; es ist natürlich auch eines der wich­tigsten Film­länder des latein­ame­ri­ka­ni­schen Konti­nents.
»Es ist das argen­ti­ni­sche Jahr« sagt Roger Koza, Kurator und Film­kri­tiker aus Argen­ti­nien, der aber auch in Deutsch­land arbeitet, nämlich unter anderem für das Filmfest Hamburg, das Ende der Woche beginnt, und wo wir uns wieder­sehen werden. Roger meint damit die besonders starke Präsenz des argen­ti­ni­schen Kinofilms beim dies­jäh­rigen Film­fes­tival von San Sebastián: nicht weniger als 15 Filme aus Argen­ti­nien sind bei diesem Festival zu sehen.
Das stärkt die dortigen Künstler und die Branche auch ange­sichts rigi­dester Spar­maß­nahmen.

Aber was ist eigent­lich das Besondere des Kinos aus diesem tollen Land?

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Alemania, »Deutsch­land«, das ist nicht das Thema des Films, der genauso heißt, sondern Alemania könnte auch Japan sein, oder Italien, ein Sehn­suchtsort; Ziel für Eska­pismus, eine offene Möglich­keit und ein Rettungs­anker für die jugend­liche Haupt­figur in diesem sensiblen argen­ti­ni­schen Debüt der Regis­seurin María Zanetti.
Auto­bio­gra­phisch inspi­riert geht es in diesem Film, der in den 90er Jahren spielt, um eine 16-jährige Heran­wach­sende, deren ältere Schwester psychisch krank ist, während die Eltern mitten in der Wirt­schafts­krise ums finan­zi­elle Überleben kämpfen.
In diesem Fall heißt die Haupt­figur Lola. Sie ist voll der Hoff­nungen und Träume, aber auch der Verwir­rungen und des Herz­schmerzes des Erwach­sen­wer­dens, des Erwachens der Sexua­lität und all deren Geheim­nissen.
Wir sehen sie, wie sie Auto­fahren übt, sich ein Nasen­pier­cing stechen lässt, in Clubs geht und beginnt, mit Jungen zu flirten. Doch die psychi­schen Probleme ihrer Schwester hängen wie eine schwarze Wolke über der Familie und Lolas Zukunft. So steht ihre Begeis­te­rung für die Möglich­keit eines Schü­ler­aus­tauschs mit Deutsch­land, vor allem auch für die Möglich­keit eines ganz anderen Lebens. In ihrem Zimmer hängt ein Poster von Der Himmel über Berlin.
Für Lola wird Europa zu einer Art Wunder­land, in dem sie sich ein besseres Leben vorstellen kann.

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Der Film zeichnet nebenbei ein Porträt dreier Frau­en­ge­nera­tionen: Die in den 10er Jahren geborene souveräne groß­bür­ger­liche Groß­mutter, die der Enkelin Trost und Gelas­sen­heit spendet; die einge­schüch­terte, früh enttäuschte, angst­ge­trie­bene, in den frühen 50ern geborene Mutter, die versucht, die Probleme ihrer Kinder zu lösen, aber doch vor allem auf Vorsicht und Sicher­heit setzt. Und die Teen­agerin selbst, ein Kind der 70er Jahre.
Mit einer Kamera, die ganz nah an den Gesich­tern ihrer Darsteller liegt, baut Zanetti einen konzen­trierten intimen Film, der ernst ist, aber niemals traurig; eine Feier der Zuneigung und der Wider­stands­fähig­keit, die sich noch in einer Zeit vor der digitalen Revo­lu­tion entfaltet, als Musik-Cassetten noch ein Mittel waren, um Gefühle zu verschenken.

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Ebenfalls sehr persön­lich und ebenfalls um Erin­ne­rungen gestrickt ist Clara se pierde en el bosque von Camilla Fabbri. Hier ist es eine junge Erwach­sene, die mit ihrem Freund aufs Land fährt. Zwischen der Begegnung mit dessen etwas schräger Familie und dem Für und Wider des Mutter­wer­dens spürt sie mit einer Freundin gemein­samen Erin­ne­rungen nach – zu denen auch die Erfahrung einer Brand­ka­ta­strophe gehört. Ein sehr beson­derer, guter Film, zu dem viel­leicht noch mehr zu sagen ist.

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Die Macht der Erin­ne­rung und der Umgang mit ihr sind ein konstantes Thema im argen­ti­ni­schen Kino. Ebenso wie das Verhältnis zwischen Stadt und Land, vor allem der Megacity Buenos Aires und den schier unend­li­chen Weiten der Pampa und der Wälder im Rest des Landes.

Das zweite Leitmotiv ist eine Art von emotio­nalem Realismus, eine Grund-Melan­cholie, die die gute Laune nicht trübt. Die Menschen in diesen Filmen kämpfen ums Überleben im Alltag, sie machen sich ihre Gedanken, sie hängen viel herum, aber immer ohne Lange­weile, oft umgeben von Tieren, und immer gibt es gut zu essen.

Neben den erwähnten zwei Coming-of-Age-Filmen beweisen zwei andere Werke, zweimal Komödien im Geist eines Woody Allen, dass man sich auch über Intel­lek­tu­elle lustig machen kann, ohne sie zu verachten, sondern mit ihnen sympa­thi­sieren und sie dabei ironi­sieren.

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Puan vom Regieduo María Alché (Familia sumergida) und Benjamín Naishtat (Rojo) ist eigent­lich eine Hommage an die klas­si­sche Philo­so­phie: Nach dem Tod des Dekans muss sich eine Philo­so­phie­fa­kultät neu finden. Bei der Nach­fol­ge­re­ge­lung scheint Haupt­figur Marcelo der natür­liche Kandidat. Doch er leidet unter Selbst­zwei­feln und bekommt Konkur­renz durch einen charis­ma­ti­schen Kollegen.
Marcelo liest die Klassiker: Hobbes, Rousseau, Kant. Er steht für die klas­si­sche Moderne, die hier durch eine post­mo­derne, mit Spinoza einseitig gefüt­terte Multitude, verkör­pert durch den char­manten, rheto­risch starken, im entschei­denden Moment aber schwachen Konkur­renten verkör­pert wird.
Unter­gründig geht es natürlich auch um die struk­tu­rellen und poli­ti­schen Probleme der argen­ti­ni­schen Gesell­schaft.
Vor allem aber ist dies ein sehr lustiger Film; die modernere Version von Woody Allen-Themen: Selbst­zweifel, unter­drückter Ehrgeiz, Älter­werden, die allge­meine Misere des Daseins füttern diese erwach­sene, selten alberne Komödie eines Menschen dem viel miss­glückt, und der trotzdem etwas Heroi­sches hat.

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Spricht man mit Argen­ti­niern selbst über diesen Film, dann machen sie schnell auch Witze: Eigent­lich dürften sie das alles hier ja gar nicht tun, was sie hier tun, denn es sei ja »kultu­relle« Aneignung, wenn Argen­ti­nier Kant lesen und Hobbes und Rousseau.

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Auch La práctica von Martín Rejtman erzählt von einem etwas lächer­li­chen, aber liebens­werten Stadt­neu­ro­tiker: einem Yoga-Lehrer, dem sein ganzes Wissen im Alltag nicht viel hilft. Er lebt in Chile in Scheidung, wird von seiner Mutter gedrängt, nach Buenos Aires zurück­zu­kehren.
Hier macht sich der Regisseur auch gut über den modernen Esote­rik­boom lustig, über die Verach­tung von Schul­me­dizin; aber es gibt auch ein Erdbeben und eine deutsche Austausch­stu­dentin, die – Achtung: Joke! – ihr Gedächtnis verliert und vieles mehr, um die leicht­ge­wichtig, aber souverän erzählte Handlung anzu­rei­chern.
Beide letztere Filme sind von der Kölner Firma Pandora kopro­du­ziert – sie werden also auch in Deutsch­land zu sehen sein. Wie hoffent­lich viele Werke aus dem faszi­nie­renden Filmland Argen­ti­nien.

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Worauf man beim Sehen dieser und anderer Filme kommt: Die Komödie kehrt zurück! Glück­li­cher­weise. Diese Rückkehr enthüllt aber auch unsere, vor allem (aber nicht nur) deutsche Schwie­rig­keit, überhaupt mit Komödien umzugehen.
Denn ich kenne Kollegen, denen fällt es total schwer, diese Filme überhaupt ernst­zu­nehmen. Sie sind so sehr das schwer­blü­tige, melo­dra­ma­ti­sche, bedeu­tungs­hei­schende Kino gewöhnt, den langsamen, heutigen Autoren­film, der eigent­lich nichts mehr mit dem Autoren­film der Nouvelle Vague zu tun hat. Sodass sie sich gar nicht klar machen, wie lustig Autoren­kino sein kann und sein sollte. Auch Film­künstler sind Unter­halter, auch Film­künstler sind Menschen, die auf dem Jahrmarkt auftreten, die gele­gent­lich schlechte dumme Witze machen, die nur auf einer Schen­kel­klopf-Ebene funk­tio­nieren, und die man trotzdem ernst­nehmen muss. Das gehört dazu, es ist ein Mittel, ernste Inhalte zu trans­por­tieren.

Aber Filme, die an einen Kirchgang erinnern, sind kein Mittel dafür, denn die Kirchen werden immer weniger besucht. Heute brauchen wir Filme, die eine leichte Form fürs Schwere haben, die zugäng­lich sind, die nicht mit dem erhobenen Zeige­finger und nicht mit einer Lehrer­at­ti­tüde an das Publikum heran­gehen.

Wir brauchen mehr Lubitsch und Wilder und weniger Berliner Schule. Auch das können wir vom Land des Welt­meis­ters lernen.

(to be continued)