22.09.2023

Der andere Atlantik

I Want to Talk About Duras
Übersehen und schnell vergessen: Claire Simons I Want to Talk About Duras
(Foto: Mubi)

Lose Gedanken vor dem Auftakt: Eine Erinnerung an einen vergessenen San-Sebastian-Film über Duras, ein Blick auf die Jury und ein Seitenblick auf die Berlinale-Chose – Notizen aus San Sebastián, Folge 1

Von Rüdiger Suchsland

San Sebastián liegt am Atlantik, in der Biskaya, im Nordosten Spaniens, dort, wo die See manchmal am stür­mischsten ist.
Die dies­jäh­rige Ausgabe von Venedig sei ein atlan­ti­sches Festival gewesen, hatten wir gesagt. Das war gemünzt auf das Über­ge­wicht an europäi­schen und vor allem US-ameri­ka­ni­schen Filmen. Man kann den Atlantik aber auch ganz anders über­queren.

Die Spanier haben es gezeigt. Sie wollten noch nie Amerika finden, sondern immer den Seeweg nach Indien. Ihre Perspek­tive war immer auf den Bereich unterhalb des Äquators gerichtet, und immer auch ein bisschen über »las Indias« hinaus, auf den Pazifik.

Die Geopo­li­tiker aus der Zeit der Konquis­ta­doren schrieben der fast ganz von Salz­wasser umschlos­senen iberi­schen Halbinsel mit Blick auf die Magel­lan­straße die Funktion eines Schar­niers zwischen den zwei Welten zu.

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Latein­ame­rika und Asien domi­nierten schon im letzten Jahr zumindest die Preise im Basken­land – ein über­fäl­liges Gegen­ge­wicht zu den großen Festivals Cannes, Venedig und Berlin, die zwar in den letzten Jahren verstärkt und deutlich über­be­tont Frauen auszeich­neten, sich zugleich dabei aber allzu oft auf Europa und US-Amerika beschränken, als ob die Welt nur zwei Konti­nente hätte.
In San Sebastián hat sie mehr.

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Die Jury trägt dieser Mischung Rechnung. Sie ist weniger europäisch und gar nicht US-ameri­ka­nisch. Jury Präsi­dentin ist die fran­zö­si­sche Autoren­fil­merin Claire Denis, mitent­scheiden dürfen die chine­si­sche Schau­spie­lerin und Produ­zentin Fan Bing Bing, die bereits 2016 für I Am Not Madame Bovary hier gleich zwei Preise gewonnen hatte und in vielen weiteren Filmen der letzten 20 Jahre, auch in X-Men und dem Spionage Thriller The 355 Haupt­rollen gespielt hatte. 2017 war sie Mitglied in der Wett­be­werbs-Jury von Cannes (Präsident war seiner­zeit der Spanier Pedro Almodóvar). Die fran­zö­si­sche Photo­gra­phin Brigitte Lacombe, die kolum­bia­ni­sche Filme­ma­cherin Cristina Gallego und Vicky Luengo aus Spanien.
Für die Männer­quote sorgen der Kanadier Robert Robert Lantos, der einst Cronen­bergs Eastern Promises produ­zierte, und Atom Egoyans The Sweet Hereafter, und wie erwähnt der Deutsche Christian Petzold, dessen Film Phoenix hier vor neun Jahren im Wett­be­werb lief.

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Mal sehen, ob mir das Festival dabei helfen wird, der Versu­chung zu wider­stehen, über die Berlinale zu schreiben, über den soge­nannten Protest­brief – für Chatrian, gegen Roth? Jeden­falls beides zu spät, verlorene Schlachten – von Regis­seuren, die sämtlich ihre Filme lieber nach Cannes geben, wenn man sie lässt. Aber der Brief gibt sicher allen, die das unter­zeichnet haben, ein gutes Gefühl. Es sind tolle Filme­ma­cher darunter, fast ein Who is Who des inter­es­santen Gegen­warts­kinos. Und trotzdem ist dieser Brief rück­wärts­ge­wandt, fruchtlos und unpo­li­tisch. Es ist Dampf­ab­lassen, aber nicht ziel­füh­rend.
Nicht eine Zeile handelt von Struk­turen, von Konzepten, von dem, was ein Intendant oder meinet­wegen ein Inten­danten-Kollektiv denn tun dürfen müsste.

Und seien wir ehrlich: eine zwei­stel­lige Zahl von Unter­zeichnen hat in persön­li­chen Gesprächen mit mir schon über Carlo Chatrians krude Programm­po­litik und über sein glanz­loses Kura­tieren eines der wich­tigsten Film­fes­ti­vals der Welt geklagt. Insofern ist dieser Brief einfach unehrlich, weil hier wieder einmal Probleme nicht benannt, sondern über­tüncht werden. Vom guten Gefühl und vom allzu guten Gewissen.

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»Je suis Margue­rite Duras. J'ai fait ce film. J'attends vos questions. Si il n'y'a pas des questions, je m'en vais. Je ne suis pas dans ça.« (»Ich bin Margue­rite Duras. Ich habe diesen Film gemacht. Ich warte auf ihre Fragen. Wenn es keine Fragen gibt, gehe ich. Ich brauche das nicht.«) – so stellte sie sich hin im Kino vor ihr Publikum.
Margue­rite Duras (1914-1996) ist eine der inter­es­san­testen Intel­lek­tu­ellen des 20. Jahr­hun­derts. Obwohl sie sich dem »reinen Schreiben« verpflichtet fühlte, Psycho­logie, Mora­lismus, poli­ti­sche Indienst­nahme der Literatur ablehnte, ist ihr Leben noch inter­es­santer als ihre Bücher, und selbst ein Kunstwerk – teilweise bewusst gestaltet. Teilweise erlebt und zuge­lassen.

Ohne genau sagen zu können, warum, habe ich mich immer zu Duras hinge­zogen gefühlt und mich für sie und ihr Werk inter­es­siert. Nach diesem Film, den ich hier vor genau zwei Jahren gesehen hatte, weiß ich nun noch etwas genauer, warum.
Ober­fläch­liche Gründe sind ihre Nähe zu Asien, wo sie in Fran­zö­sisch-Indochina aufwuchs. Die Tatsache, dass sie nicht nur geschrieben, sondern auch Filme gemacht hat. Und ihre kompli­zierte Beziehung zum Faschismus. Ein paar Jahre länger ist es her, da lief im Wett­be­werb von San Sebastián der Film La Douleur von Emmanuel Finkiel nach Duras' auto­bio­gra­phi­schem Klassiker.
Grandios, aber leider übersehen und schnell vergessen.

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I Want to Talk About Duras von Claire Simon ging es genauso. Dies war aber vorher­seh­barer. Denn dies ist ein Film, den man nicht so leicht einordnen kann, weil er zwar schon einer­seits ein Spielfilm ist, ein Film mit Schau­spie­lern, weil ande­rer­seits fast jedes Wort, das in diesem Film gespro­chen wird, auf der Realität basiert, genauer auf einem Interview, das eine Jour­na­listin der Zeit­schrift »Marie Claire« (hier gespielt von Emma­nu­elle Devos) mit Yann Andrea geführt hat. Yann Andrea war der letzte Liebhaber von Duras; ein jüngerer Mann, der in seinen Zwan­zi­gern war. Das Interview dreht sich um die Beziehung der beiden. Andrea hat auch in Filmen von Duras mitge­spielt.

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Dieser Film ist nun eine ganz spannende Unter­su­chung. Es ist einer­seits ein intel­lek­tu­eller Film, der gewiss den einen oder anderen Zuschauer über­for­dern wird – ande­rer­seits muss man das Werk von Duras hierfür gar nicht kennen, sondern es geht eigent­lich um eine sehr univer­sale Liebes­be­zie­hung. Es geht um Macht und Ohnmacht, um Aufgabe und Selbst­auf­gabe, um Unter­drü­ckung, versteckte wie offene, bis hin zu sadis­ti­schen und maso­chis­ti­schen Verhal­tens­weisen im psychi­schen Sinn. Denn es geht ganz eindeutig auch um gegen­sei­tige Unter­drü­ckung und Unter­wer­fung, um eine Art Macht­kampf zwischen dem Liebes­paar. »You don‘t exist. You exist because of me«, sagt sie ihm einmal.
Und das ist etwas, das Duras in vielen ihrer Bücher variiert hat – wenn wir an »Der Schmerz« denken, an »Der Liebhaber«. Es ist auch hoch­be­ein­dru­ckend, Duras selber in diesem Film zu sehen, sie sprechen zu hören. Nicht nur wegen ihrer äußeren Erschei­nung, die sehr prägnant war, sondern auch, weil sie hier gar nicht so sympa­thisch erscheint. Dieser Film ist kein verklä­rendes Porträt einer genialen Autorin, die wir einfach nur zu vergöt­tern haben – ganz im Gegenteil. Es ist kritisch, zeigt Schat­ten­seiten; es hat aller­dings den paradoxen Effekt, dass wir gerade dadurch, dass Duras mensch­lich ist, dass sie teilweise auch unan­ge­nehm erscheint, uns auch nahekommt, einen faszi­niert und dass man als Zuschauer die Faszi­na­tion des Liebenden Yann Andrea teilt, und große Lust hat, nach diesem Film das Werk von Duras näher zu erfor­schen und ihre Filme zu sehen – was kann man eigent­lich Besseres über einen Film sagen?

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Nun, kurz vor Anfang, hoffe ich, an den nächsten zehn Tagen zumindest eine ähnliche Erfahrung zu machen. Ich bin zuver­sicht­lich.

(to be continued)