06.07.2023
40. Filmfest München 2023

Explosiver Bubble Tea

40. Filmfest München - Clashing Differences
Gruppenbild mit Damen und Preis für das beste Drehbuch (Clashing Differences)
(Foto: 40. Filmfest München)

Auch in diesem Jahr war die Sektion Neues Deutsches Kino ein faszinierender Seismograph für die Wellen und Schwingungen, die Deutschlands Tektonik (und die westliche Welt) gerade erschüttern

Von Axel Timo Purr

Um Deutsch­land zu verstehen, reicht es eigent­lich, einmal im Jahr auf das Filmfest München zu gehen und sich die Filme der so liebevoll wie klug kura­tieren Reihe Neues Deutsches Kino anzusehen.

War es im letzten Jahr eine Lehr­stunde darüber, wie sehr sich eine Gesell­schaft nach Krisen aus allen Himmels­rich­tungen auf eine fast schon verzwei­felte Suche nach Heim und Heimat begab, scheint diese Option für den jetzigen Jahrgang nicht mehr gültig zu sein bzw. hat sich als trüge­risch heraus­ge­stellt. Denn jede Heimat ist immer auch ein gesell­schaft­li­ches Konvolut, das aus Angst, sich zu verlieren, sich zurück­zieht oder schlimmer noch: andere Heimat­blasen angreift.

Womit wir bei dem Wort wären, das die meisten Filme dieses Jahres am besten beschreibt: ein Glas explo­siven Bubble-Teas, der deshalb so explosiv ist, weil er deutlich macht, dass soziale Blasen bzw. der komple­xere Begriff der Filter­blase auf Dauer kaum koexis­tieren können, dass am Ende immer Handeln, Aushan­deln oder simple Kriegs­füh­rung nötig ist, um – nicht nur moralisch – hand­lungs­fähig zu bleiben. Und Heimat damit tatsäch­lich als äußerst fragiler und vor allem äußerst kurz­le­biger und mitunter lebens­ge­fähr­li­cher Zustand beschrieben wird.

So wie in Erol Afşins ES BRENNT, der radikal austa­riert, wo der deutsche Rechts­staat seine Grenzen hat. Mit einem betont hilflos agie­renden Kida Kodr Ramadan und einer beklem­mend groß­ar­tigen Halima Ilter in den Haupt­rollen und hervor­ra­gend besetzten Neben­rollen erzählt Afşin eine wahre Geschichte, die am Ende so erschüt­ternd ist, dass man diesen Film kein zweites Mal sehen will. Auch, weil er kris­tall­klar und mit großer ethno­gra­fi­scher Genau­ig­keit von geglückter Assi­mi­lie­rung erzählt. Umso bitterer ist die Erkenntnis, dass auch das nur eine der vielen Blasen ist, die schnell zerplatzen kann, nimmt sie erst einmal Reibung an der »falschen« Stelle auf. Deutlich wird auch, wie zerbrech­lich letzt­end­lich die eigene Identität (auch wieder so eine Blase), das sozia­li­sierte Deutsch­sein ist, weil die Angst am Ende dann doch die Seele aufisst. Und nicht nur die Angst, sondern mehr noch die soziale Realität. Ein Film, der unbedingt an jeder deutschen Schule (also auch jeder Schulform) ab der 8. Klasse gezeigt werden sollte, nein: gezeigt werden muss.

Ähnlich exis­ten­tiell und sozi­al­kri­tisch verhan­delt Aslı Özges wichtiger BLACK BOX dieses Thema, das hier der gnaden­losen Flug­schrei­ber­aus­wer­tung einer Gesell­schaft nach dem Absturz gleich­kommt. So wie İlker Çatak in seinem Lehrer­zimmer seziert auch Aslı Özge die deutsche Gesell­schaft über einen Mikro­kosmos. Statt ein Lehrer­zimmer sind es hier die sich zunehmend reibenden sozialen Blasen eines Berliner Mietshaus. Aber die Konstanten und auch das Ergebnis sind ähnlich. Jeder will sein Recht und vergisst dabei mehr und mehr die Regeln des Rechts­staats. Konkur­renz­kampf und Neoli­be­ra­lismus als Krebs­ge­schwür, ausgelöst durch die Gier nach einer eigenen Immobilie und die Angst um den Verlust alter Miet­ver­hält­nisse. Das ist zutiefst gesell­schafts­kri­tisch, univer­sell anwendbar und geschickt multi­ch­arak­te­ris­tisch aufge­fächert, krankt aber hin und wieder an allzu erklä­renden, hölzernen Dialogen und ein paar schmerz­haften Stereo­typen.

Auch der zurecht mit dem FIPRESCI-Preis ausge­zeich­neten FOSSIL von Henning Beckhoff umkreist diesen Topos gnadenlos und macht klar, dass aus seiner eigenen Blase niemand den Leuten in der benach­barten Blase in den Kopf gucken kann und niemand den Wandel einer Gesell­schaft wirklich begreift. Ein Wandel, der inzwi­schen Familien zerreißt und in Paral­lel­welten (oder halt Blasen) frag­men­tiert und eine wichtige Erklärung dafür ist, warum in Deutsch­land die AFD so floriert und Trump immer noch im Spiel ist. Henning Beckhoff lässt diese Asso­zia­tionen unwei­ger­lich zu, denn in seinem starken, wuchtigen und immer wieder auch zärt­li­chen Porträt eines Bagger­füh­rers auf dem Tagebau, fließen unsere eigenen filmi­schen Erin­ne­rungen unwei­ger­lich mit ein, an Gunder­mann oder an das groß­ar­tige Porträt der Bagger­band-Arbei­terin Martha (1978), die zeigten, dass Arbeit immer auch Seele ist und wird die genommen, der Mensch nichts mehr ist. Auch in Fossil implo­diert ein Leben, eine Familie, eine ganze Gesell­schaft. Die Bilder der Einsam­keit und der sich nicht mehr berüh­renden gesell­schaft­li­chen Mikro­blasen sind so grausam wie der verein­zelte Sex und die bittere Erkenntnis des totalen Kontroll­ver­lusts und am Ende immer der Blöde zu sein.

Diesen fast schon von allem losgelösten priva­tis­ti­schen Ansatz verfolgt auch eine der wenigen Genre-Arbeiten, der heraus­ra­gende THE DIVE von Maxi­mi­lian Erlenwein, in dem die Kata­strophe immerhin auch Katharsis sein darf. Dabei beginnt Maxi­mi­lans Erlen­weins delikat und souverän insze­nierter Über­le­bens­thriller wie ein E.E. Cummings-Gedicht: maggie and milly and molly and may went down to the beach(to play one day). and maggie disco­vered a shell that sang, doch der doppel­bö­dige und bis zum Ende spannende Thriller trans­for­miert schnell zum nackten Über­le­bens­kampf unter und über Wasser, denn es ist nicht nur das Leben, das hier an einem seidenen Faden hängt, sondern auch eine lebens­lange Beziehung. Das prickelnde Score und eine fantas­ti­sche Kamera unter­s­tützen die dezent einge­streuten Leer­stellen und Fami­li­en­trau­mata und die beiden Haupt­dar­stel­le­rinnen trans­por­tieren selbst mit Taucher­maske ihre Ängste und Hoff­nungen so über­zeu­gend, dass bei all dem Dekom­pres­si­ons­horror immer auch der mensch­liche Horror trans­pa­rent bleibt und die Hoffnung auf ein Leben in einer gemein­samen „Blase“ nicht stirbt.

Auch in der zweiten Genre-Arbeit geht es um das nackte Überleben, wenn eine der elemen­tarsten Regeln unserer Gegenwart nicht befolgt wird: Bleib in deiner Blase, sonst fällst du aus deinem Leben. Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto (der auch den über­ra­gend gespielten „Helden“ verkör­pert) insze­nieren mit SCHOCK – KEIN WEG ZURÜCK eine so über­ra­schenden wie soghaften Thriller, der in gesell­schaft­liche Blasen Deutsch­lands vordringt, die man so selten gesehen hat. Ein illegaler Arzt, der Illegale versorgt, der zwischen alten Freunden und der Mafia zerrieben wird, aber dennoch aufrichtig bleibt. Die kargen Dialoge stimmen, die mit skal­pell­ar­tiger Kamera sezierte Alltag deutscher Schat­ten­rea­lität überzeugt und der Rhythmus, den das Genre vorgibt, ist virtuos inter­pre­tiert.

Erheblich theti­scher inter­pre­tiert Merle Grimmes CLASHING DIFFERENCES den hier unter­stellten Blasen­the­men­schwer­punkt, für den sie immerhin den Preis für das beste Drehbuch erhielt. Und tatsäch­lich venti­liert ihr schrille Tragi­komödie so ziemlich alles durch, was dieses Thema zu bieten hat, mehr noch als der dogma­ti­sche Leitfaden lautet: Lasst uns doch mal unter­schied­lich sein. Wie schwer das innerhalb der Blase einer inter­sek­tional femi­nis­tisch aufge­stellten Frau­en­gruppe und unter Einbe­zie­hung von Diver­si­täts­de­batten zwischen Empower­ment und Tokenism dann aber wirklich ist, zeigt Grimme in 75 Minuten dezidiert auf. Bipoc-Akti­vismus eskaliert zu gnaden­losen Hier­ar­chie- und Bezie­hungs­kämpfen, so dass bei all dem Wirbel am Ende die ernüch­ternde Erkenntnis steht, dass weder das sozia­li­sierte noch das ange­bo­rene Geschlecht den Menschen besser macht. Merles ironi­sches Spiel mit rassis­ti­schen und Gender-Stereo­typen ist klug, witzig und immer wieder über­ra­schend, doch das Komö­di­en­kor­sett und die betont leichte Strei­cher­musik hätte es nicht unbedingt gebraucht.

Ein wenig jünger als in CLASHING DIFFERENCES sind die Mädchen in Anna Rollers DEAD GIRLS DANCING, die auf ihrer privaten Abifahrt merken, dass die Blase Schule eine trüge­ri­sche Blase ist und das wirklich, oder halt – die anderen Leben auch andere Regeln hat. Anna Roller insze­niert die Ignoranz der Jugend mit gnaden­loser Präzision und demas­kiert den naiven Wunsch der Mädchen nach „Unver­nunft“ über einen Road-Movie, der es in sich hat, weil er auch deutlich macht, dass hier ein Bildungs­system auf allen Ebenen versagt hat, das häusliche genauso wie das schu­li­sche. Gleich­zeitig ist Rollers Film auch eine empa­thi­sche Intro­spek­tion junger Bezie­hungen mit der ernüch­ternden Erkenntnis, dass Bezie­hungen immer auch situa­tiven Charakter und vor allem über­ra­schende Grenzen haben.

Sind es bei Roller die Mädchen, die dumme Dinge tun, sind es in Sylvain Cruiziats hyper­realem Porträt seines Bruders und seiner Freunde die fast gleich­alt­rigen Jungs. BOYZ ist fast schon klas­si­sches GenZ-Coming of Age und erinnert in dem puris­ti­schen doku­men­ta­ri­schen Ansatz, Lebens­alltag in einer eng umris­senen sozialen Blase zu foto­gra­fieren und Gespräche über das erste Mal, Blut- und Fleisch­pe­nisse und Mikro­pe­nisse zu führen, das Saufen und Kotzen und das Labern über Männer­bilder- und Sozia­li­sie­rungen an die (nicht-) doku­men­ta­ri­schen Filme von Larry Clark. Gleich­zeitig könnte der Unter­schied nicht größer sein, sind diese anders als Clarks Kids in Münchner Watte gepackt. Aber all die Ängste, Unsi­cher­heiten, Verletz­lich­keiten und Gegen­in­sze­nie­rungen bleiben. Und die Ahnung, dass sie die durch­schnitt­lichsten Leben der Welt leben und am Ende so dastehen werden wie das alte Paar in Rainer Kaufmanns Weißt du noch.

Auch MORE THAN STRANGERS von Sylvie Michel, der mit dem Preis für die beste Regie ausge­zeichnet wurde, ist das gesell­schaft­liche Expe­ri­ment deutlich anzusehen. Hier heißt es jedoch nicht: Lasst uns doch mal unter­schied­lich sein oder einfach unver­nünftig sein, sondern hier ist sofort klar: wir sind alle unter­schied­lich und sitzen alle im gleichen Boot. Oder halt im gleichen Auto. Wie damit umgehen? Slyvie Michel findet über den Mikro­kosmos Auto starke Bilder und Dialoge für die Blasen unserer Gesell­schaft, die erst in einer Krisen­si­tua­tion zum Tragen und Implo­dieren kommen. Ihr Film ist ein Zerr­spiegel deutscher oder besser: europäi­scher Gesell­schaft und zeigt vor allem, wie unmöglich es ist, nicht zu handeln, verlässt man erst einmal seine eigene Blase. Ein extremer Road Movie, in dem endlich einmal nicht der Weg das Ziel ist, sondern das Ziel der Weg ist. Ein dichtes Kammer­spiel, das relevante Themen wie Migration, Arbeits- und Liebes­alltag leicht­händig hinter­fragt, Pflicht oder Wahrheit für junge Erwach­sene und dazu noch mit einem geilen
Elektro-Sound­track garniert.

SÜDSEE von Henrika Kull reduziert und erweitert Sylvie Michels Ansatz zugleich. Aktuelle poli­ti­sche Para­digmen werden hier noch konse­quenter und subtiler gegen den Strich gebürstet. In einem inten­siven Kammer­spiel treffen in einem Haus in Israel während konti­nu­ier­li­cher Rake­ten­an­griffe der Hisbollah ein Deutsch­land und Wagner liebender Israeli und eine Israel liebende deutsche Regis­seurin aufein­ander. Dass das sogar (fast) ohne Erotik geht, ist erstaun­lich. Dafür wird umso mehr über die Verzweif­lung bei Fass­binder, Wagner und vor allem Martin Bubers Ich und Du und das echte Gespräch sinniert, erzeugt das israe­li­sche Flug­ab­wehr­system Iron Dome ein fast schon kunst­volles Feuerwerk und lässt alten Liebes­schmerz zunehmend verblassen, geht es dann aber doch auch knallhart realis­tisch zu: Warum seid ihr Deutschen nur alle so schreck­lich pazi­fis­tisch? Diese und andere Fragen werden diffe­ren­ziert und immer wieder über­ra­schend beant­wortet und wer glaubt, dass Filter­blasen, Offline-Blasen, also soziale Blasen und Bubble-Tea-Trinken über den soge­nannten Echo­kammer-Effekt zu immer stärkerer, sich von allem „Anderen“ abgren­zender Homo­philie führt, der wird hier eines besseren belehrt und darf und kann endlich einmal aufatmen. Dafür gab es immerhin den Preis für die beste schau­spie­le­ri­sche Leistung für Dor Aloni, der in seinem hybriden, ambi­va­lenten Spiel dann auch fast so etwas wie eine Brücke zum nächsten Jahrgang baut.

Alles ist offen, alles scheint möglich.