76. Filmfestspiele Cannes 2023
Zweimal Sandra Hüller |
![]() |
|
Wang Bings Man in Black: Erinnerung an an die wahre Schönheit des Kinos... | ||
(Foto: Cannes 2023 Media Library) |
»I‘ve never understood the notion of guilty pleasure. Pleasure is pleasure. I personally love raw freaky twisted movies.« – Quentin Tarantino bei der Preisverleihung
Sich aufs Schlimmste vorzubereiten, das ist immer gut, es war auch nötig am Samstag, aber nicht wegen der Preise. Die waren ganz in Ordnung, nicht nur weil ich an dieser Stelle ziemlich alle Preisträgerfilme vorhergesagt hatte. Sie waren sogar sehr in Ordnung, wenn man mal davon absieht, dass die Preise für den Aki Kaurismäki-Film und den Hauptdarsteller von Wenders völlig unnötig waren, mindestens und auch meiner Ansicht nach unangemessen. Zu den Gründen dann am Mittwochabend
im ausführlicheren Cannes-Rückblick.
Am Ende haben dann auch vom Hauptpreis abgesehen, relativ wenig junge Frauen und viele Altmännerwerke Palmen bekommen. Vielleicht hätte man anstatt Kaurismäki eine Palme dafür zu geben, dass er eben Kaurismäki ist, besser Alicia Rohrwacher einen Preis gegeben.
Aber es hätte echt schlimmer kommen können.
+ + +
Kurzfristig verbreitete sich übrigens das Gerücht, Wim Wenders habe die Goldene Palme gewonnen. Nachricht: »Der Klomann hat gewonnen« Ein Schreck durchfuhr meine Glieder. Später erklärte man mir die Fehlinformation so: »Wie der auf dem roten Teppich gestanden hat, war klar, dass er was kriegt.«
+ + +
Ich habe hier schon geschrieben, dass ich mit der Goldenen Palme, Anatomie d’une chute von der Regisseurin Justine Triet nicht viel anfangen kann. Aber der Film ist auch nicht aus irgendeinem Grund ärgerlich; ich finde ihn eher belanglos und er ist für mich kein richtig würdiger Cannes-Sieger. Vielmehr erinnert er mich zum Beispiel an den Film Die Klasse, der 2008 die
Goldene Palme gewonnen hatte. Oder Dheepan von Jacques Audiard. So etwas gibt es immer wieder mal hier an der Croisette, und die genannten Preisträger waren schon vergessen, bevor im September in Venedig der Goldene Löwe vergeben wurde. Ich glaube, hier wird es ähnlich sein, aber das ist ganz ohne jede Häme gesagt, denn dem deutschen Verleih, der den Film schon gekauft hat, wünsche ich damit alles
Gute.
Ich glaube auch, dass eine zweite Sichtung mir wahrscheinlich ganz gut tut, denn es kann ja sein, dass ich den Film beim ersten Mal einfach nicht verstanden habe oder irgendwie keine Beziehung zu ihm finden konnte – es gibt zu viele geschätzte Kollegen, die ihm mehr abgewinnen können als ich, als dass ich das einfach übersehen möchte, aber wie gesagt: Vorläufig bleibt hier einfach mal Achselzucken.
Die Palme verdient hat in jedem Fall Sandra Hüller, deren Performance
wirklich alles das ausmacht, was an dem Film besonders ist, den Film trägt und der ohne Frage diese Goldene Palme auch gilt.
Ich habe auch den Verdacht, dass dieser Film für die Jury ein akzeptabler Jury-Kompromiss war, womöglich, weil man sich über zwei andere in vieler Hinsicht exzessivere Filme nicht einigen konnte – oder zwischen einem Kino exzessiver Opulenz und einem Kino kühler Askese. Die haben dann aber die beiden zweitwichtigsten Preise bekommen, und dies hat mich in beiden Fällen richtig gefreut: Dass Pot-au-Feu von Tran Anh Hung die Silberne Palme für die »Beste Regie« bekam, hat mich überrascht, denn der Film ist fast zu gefällig, zu »schön«, um bei so einem Kunstfestival der passende Preisträger zu sein.
Einen Preis für Jonathan Glazers Martin-Amis-Verfilmung The Zone of Interest hatte man allgemein erwartet. Dass es dann tatsächlich sogar der »Grand Prix du Jury« werden würde, war toll.
Einmal also die helle, einmal die pechschwarze Seite der Zivilisation, und dazwischen, in Anatomie d’une chute, eine Art Synthese, der Prozess der Aufklärung, die letztliche Unmöglichkeit, sichere Wahrheiten zu gewinnen, die Notwendigkeit
trotzdem zu entscheiden, und die Legitimation dieser Entscheidung durch Verfahren. Damit kann man sehr gut leben – auch wenn das alles fast etwas zu schön und rund klingt.
+ + +
Fetischistisch sind die Filme von Glazer und Tran Anh Hung übrigens beide: Wenn Frédéric Jaeger in seiner Rezension zu Pot-au-Feu treffend darauf hinweist, dass in diesem Film der Fetischcharakter des künstlerischen Aktes, des gemeinschaftlichen Kochens und der Zutaten selbst beschworen wird, wäre also hinzuzufügen, dass das für die Filme von Glazer
(und Jessica Hausner) genauso gilt. Nur eben anders.
Meine Gegenfrage an den sehr geschätzten Kollegen wäre daher: Ist nicht das Kino per se fetischistisch?
+ + +
In jedem Fall geht es um Genuss und Begehren, um Spaß und Sinnlichkeit, um Lust und Verführung.
Vor zehn Jahren gewann übrigens Blau ist eine warme Farbe die Goldene Palme.
+ + +
Am letzten Abend dann noch mit den Italienern und der Berliner Regisseurin Aleksandra Odic zusammensitzend durchfuhr mich eine schmerzhafte Erinnerung an Hans Hurch, den ich sehr vermisse. Genau hier an dieser Ecke hatten wir uns bei seinem letzten Cannes verabredet, noch am letzten Abend zusammen essen zu gehen, was wir dann auch gemacht haben. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.
+ + +
Alles das Gesagte gilt auch für jenen Film, der in diesem Jahr in Cannes den »Beatrice Sartori Award« gewann, den Preis der »Independent Critics«, der vom italienischen Freund Ugo Busaporco gegründet und in diesem Jahr zum 11. Mal vergeben wurde, und bei dem ich diesmal als »Jurypräsident« mitentscheiden durfte.
Er ging an Wang Bings sehr besonderen und insgesamt großartigen Film Man in Black.
In der Jurybegründung heißt es:
»Von den vielen Filmen, die wir auf dem Festival 2023 in Cannes gesehen haben, kann nur einer den Anspruch erheben, Teil einer kinematografischen Legende zu werden: Man in Black von Wang Bing, ein ›mittellanger Film‹, wie man früher sagte, als das Kino noch eine Partitur war, der man folgen musste, und nicht – wie es heute allzu oft der Fall ist – ein Produkt, das man
mit Werbung vollstopft. Und es ist kein Zufall, dass wir das Wort ›Partitur‹ verwenden, um diesen Film zu beschreiben, denn sein einziger Protagonist ist der 86-jährige Wang Xilin, einer der wichtigsten modernen klassischen Komponisten nicht nur in China, sondern weltweit. Es war ein seltenes Vergnügen, seiner Musik zu lauschen und seine Gedanken über das Leben, die Politik und die Humanität zu teilen, für die er zeitlebens eingestanden ist. Und es war bewundernswert,
wie der Regisseur ihn präsentierte, nackt, mit dem ganzen Gewicht seines langen Lebens, in einer Einheit aus seinen Worten und seiner Musik – die eben auch Worte sind, nur in einer anderen Sprache –, in den Falten und Verletzungen seines Fleisches.
Ein außergewöhnlicher Film – in jedem Sinne des Wortes. ›Man in Black‹ bleibt uns in Erinnerung und erinnert uns an die wahre Schönheit des Kinos.«
+ + +
Die andere Seite des Kinos – und in Cannes sind glücklicherweise alle seine Seiten angemessen gleichberechtigt vertreten – repräsentiert The Zone of Interest. Wir haben schon über den erstaunlichen Betrag für die deutschen Rechte geschrieben. 1,4 Millionen Euro wurden bezahlt.
Keine Fake News war dabei unsere Aussage, dass Parasite in Deutschland 500.000 Zuschauer bekommen hat. Trotzdem war sie falsch. Denn Parasite hat die 500.000 Zuschauer sogar zweimal gehabt: nämlich knapp über eine Million.
Wenn ich dazu den Satz zitiert habe »Die machen den Markt kaputt«, muss man nachfragen: Wer ist hiermit eigentlich gemeint? Die, die diese Summen bezahlen, weil sie es sich leisten können? Oder das US-amerikanische Studio A24, der im Augenblick wichtigste Branchenplayer für US-Independent-Filme. Letzterer zumindest macht eigentlich nur genau das, was sich alle in der Filmbranche wünschen und gerade die, denen das Kino am Herzen liegt, mit Recht verlangen: Film muss etwas wert sein. Und nur wer diesen Wert auch bereit ist, zu bezahlen, wertschätzt die entsprechende Arbeit. Wem Film am Herzen liegt, der muss auch entsprechende Summen verlangen und bezahlen.
+ + +
Dieser Ankauf steht im Zeichen einer neuen Kino-Offensive und Marketingstrategie von Leonine: Bereits zu Festivalbeginn hatte Leonine die Gründung eines gemeinsamen Filmverleihs mit A24 verkündet. Damit wird die Zusammenarbeit der beiden Unternehmen auf Dauer gestellt. Mittelfristiges Ziel dürfte es dabei auch sein, in Deutschland gemeinsame Deutsch-US-Produktionen umzusetzen und die zahlreichen Möglichkeiten der deutschen Filmförderung zur Co-Finanzierung ausländischer Filme (Branchenjargon: »stupid German money«) auszunutzen.
Fred Kogel, Ex-Programmgeschäftsführer bei SAT1, Ex-Vorstandschef der Constantin Film und Gründer von Leonine, wird bei Screen wie folgt zitiert:
»Die mutige Erzählweise von A24 und ihre Leidenschaft für herausragende, qualitativ hochwertige Inhalte, die niemals konventionell und immer einzigartig sind, sind spektakulär. Es ist ihnen gelungen, ein neues Publikum in die Kinos zu locken, was
ein großer Erfolg ist. Diese Partnerschaft passt perfekt zu unserer Vision und unserem Engagement für den Vertrieb und die Lizenzierung von Premium-Inhalten in jeder Form.«
+ + +
Auch das gehört zu dem dialektischen Paar Exzess gegen Enthaltsamkeit, der meine diesjährige Cannes-Wahrnehmung des ersten postpandemischen Cannes-Jahres dominiert hat.
Dies für heute, am Mittwoch dann noch diverse weitere Überlegungen zu Cannes 2023 und einzelnen Filmen.