29.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Zweimal Sandra Hüller

Man in Black
Wang Bings Man in Black: Erinnerung an an die wahre Schönheit des Kinos...
(Foto: Cannes 2023 Media Library)

These, Antithese, Synthese: Es hätte schlimmer kommen können; oder? Justine Triet gewinnt die Goldene Palme – Cannes-Tagebuch, 08. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»I‘ve never unders­tood the notion of guilty pleasure. Pleasure is pleasure. I perso­nally love raw freaky twisted movies.« – Quentin Tarantino bei der Preis­ver­lei­hung

Sich aufs Schlimmste vorzu­be­reiten, das ist immer gut, es war auch nötig am Samstag, aber nicht wegen der Preise. Die waren ganz in Ordnung, nicht nur weil ich an dieser Stelle ziemlich alle Preis­trä­ger­filme vorher­ge­sagt hatte. Sie waren sogar sehr in Ordnung, wenn man mal davon absieht, dass die Preise für den Aki Kauris­mäki-Film und den Haupt­dar­steller von Wenders völlig unnötig waren, mindes­tens und auch meiner Ansicht nach unan­ge­messen. Zu den Gründen dann am Mitt­woch­abend im ausführ­li­cheren Cannes-Rückblick.
Am Ende haben dann auch vom Haupt­preis abgesehen, relativ wenig junge Frauen und viele Altmän­ner­werke Palmen bekommen. Viel­leicht hätte man anstatt Kauris­mäki eine Palme dafür zu geben, dass er eben Kauris­mäki ist, besser Alicia Rohr­wa­cher einen Preis gegeben.

Aber es hätte echt schlimmer kommen können.

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Kurz­fristig verbrei­tete sich übrigens das Gerücht, Wim Wenders habe die Goldene Palme gewonnen. Nachricht: »Der Klomann hat gewonnen« Ein Schreck durchfuhr meine Glieder. Später erklärte man mir die Fehl­in­for­ma­tion so: »Wie der auf dem roten Teppich gestanden hat, war klar, dass er was kriegt.«

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Ich habe hier schon geschrieben, dass ich mit der Goldenen Palme, Anatomie d’une chute von der Regis­seurin Justine Triet nicht viel anfangen kann. Aber der Film ist auch nicht aus irgend­einem Grund ärgerlich; ich finde ihn eher belanglos und er ist für mich kein richtig würdiger Cannes-Sieger. Vielmehr erinnert er mich zum Beispiel an den Film Die Klasse, der 2008 die Goldene Palme gewonnen hatte. Oder Dheepan von Jacques Audiard. So etwas gibt es immer wieder mal hier an der Croisette, und die genannten Preis­träger waren schon vergessen, bevor im September in Venedig der Goldene Löwe vergeben wurde. Ich glaube, hier wird es ähnlich sein, aber das ist ganz ohne jede Häme gesagt, denn dem deutschen Verleih, der den Film schon gekauft hat, wünsche ich damit alles Gute.
Ich glaube auch, dass eine zweite Sichtung mir wahr­schein­lich ganz gut tut, denn es kann ja sein, dass ich den Film beim ersten Mal einfach nicht verstanden habe oder irgendwie keine Beziehung zu ihm finden konnte – es gibt zu viele geschätzte Kollegen, die ihm mehr abge­winnen können als ich, als dass ich das einfach übersehen möchte, aber wie gesagt: Vorläufig bleibt hier einfach mal Achsel­zu­cken.
Die Palme verdient hat in jedem Fall Sandra Hüller, deren Perfor­mance wirklich alles das ausmacht, was an dem Film besonders ist, den Film trägt und der ohne Frage diese Goldene Palme auch gilt.

Ich habe auch den Verdacht, dass dieser Film für die Jury ein akzep­ta­bler Jury-Kompro­miss war, womöglich, weil man sich über zwei andere in vieler Hinsicht exzes­si­vere Filme nicht einigen konnte – oder zwischen einem Kino exzes­siver Opulenz und einem Kino kühler Askese. Die haben dann aber die beiden zweit­wich­tigsten Preise bekommen, und dies hat mich in beiden Fällen richtig gefreut: Dass Pot-au-Feu von Tran Anh Hung die Silberne Palme für die »Beste Regie« bekam, hat mich über­rascht, denn der Film ist fast zu gefällig, zu »schön«, um bei so einem Kunst­fes­tival der passende Preis­träger zu sein.

Einen Preis für Jonathan Glazers Martin-Amis-Verfil­mung The Zone of Interest hatte man allgemein erwartet. Dass es dann tatsäch­lich sogar der »Grand Prix du Jury« werden würde, war toll.
Einmal also die helle, einmal die pech­schwarze Seite der Zivi­li­sa­tion, und dazwi­schen, in Anatomie d’une chute, eine Art Synthese, der Prozess der Aufklärung, die letzt­liche Unmög­lich­keit, sichere Wahr­heiten zu gewinnen, die Notwen­dig­keit trotzdem zu entscheiden, und die Legi­ti­ma­tion dieser Entschei­dung durch Verfahren. Damit kann man sehr gut leben – auch wenn das alles fast etwas zu schön und rund klingt.

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Feti­schis­tisch sind die Filme von Glazer und Tran Anh Hung übrigens beide: Wenn Frédéric Jaeger in seiner Rezension zu Pot-au-Feu treffend darauf hinweist, dass in diesem Film der Fetisch­cha­rakter des künst­le­ri­schen Aktes, des gemein­schaft­li­chen Kochens und der Zutaten selbst beschworen wird, wäre also hinzu­zu­fügen, dass das für die Filme von Glazer (und Jessica Hausner) genauso gilt. Nur eben anders.
Meine Gegen­frage an den sehr geschätzten Kollegen wäre daher: Ist nicht das Kino per se feti­schis­tisch?

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In jedem Fall geht es um Genuss und Begehren, um Spaß und Sinn­lich­keit, um Lust und Verfüh­rung.
Vor zehn Jahren gewann übrigens Blau ist eine warme Farbe die Goldene Palme.

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Am letzten Abend dann noch mit den Italie­nern und der Berliner Regis­seurin Alek­sandra Odic zusam­men­sit­zend durchfuhr mich eine schmerz­hafte Erin­ne­rung an Hans Hurch, den ich sehr vermisse. Genau hier an dieser Ecke hatten wir uns bei seinem letzten Cannes verab­redet, noch am letzten Abend zusammen essen zu gehen, was wir dann auch gemacht haben. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.

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Alles das Gesagte gilt auch für jenen Film, der in diesem Jahr in Cannes den »Beatrice Sartori Award« gewann, den Preis der »Inde­pen­dent Critics«, der vom italie­ni­schen Freund Ugo Busaporco gegründet und in diesem Jahr zum 11. Mal vergeben wurde, und bei dem ich diesmal als »Jury­prä­si­dent« mitent­scheiden durfte.
Er ging an Wang Bings sehr beson­deren und insgesamt groß­ar­tigen Film Man in Black.

In der Jury­be­grün­dung heißt es:

»Von den vielen Filmen, die wir auf dem Festival 2023 in Cannes gesehen haben, kann nur einer den Anspruch erheben, Teil einer kine­ma­to­gra­fi­schen Legende zu werden: Man in Black von Wang Bing, ein ›mittel­langer Film‹, wie man früher sagte, als das Kino noch eine Partitur war, der man folgen musste, und nicht – wie es heute allzu oft der Fall ist – ein Produkt, das man mit Werbung voll­stopft. Und es ist kein Zufall, dass wir das Wort ›Partitur‹ verwenden, um diesen Film zu beschreiben, denn sein einziger Prot­ago­nist ist der 86-jährige Wang Xilin, einer der wich­tigsten modernen klas­si­schen Kompo­nisten nicht nur in China, sondern weltweit. Es war ein seltenes Vergnügen, seiner Musik zu lauschen und seine Gedanken über das Leben, die Politik und die Humanität zu teilen, für die er zeit­le­bens einge­standen ist. Und es war bewun­derns­wert, wie der Regisseur ihn präsen­tierte, nackt, mit dem ganzen Gewicht seines langen Lebens, in einer Einheit aus seinen Worten und seiner Musik – die eben auch Worte sind, nur in einer anderen Sprache –, in den Falten und Verlet­zungen seines Fleisches.
Ein außer­ge­wöhn­li­cher Film – in jedem Sinne des Wortes. ›Man in Black‹ bleibt uns in Erin­ne­rung und erinnert uns an die wahre Schönheit des Kinos.«

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Die andere Seite des Kinos – und in Cannes sind glück­li­cher­weise alle seine Seiten ange­messen gleich­be­rech­tigt vertreten – reprä­sen­tiert The Zone of Interest. Wir haben schon über den erstaun­li­chen Betrag für die deutschen Rechte geschrieben. 1,4 Millionen Euro wurden bezahlt.

Keine Fake News war dabei unsere Aussage, dass Parasite in Deutsch­land 500.000 Zuschauer bekommen hat. Trotzdem war sie falsch. Denn Parasite hat die 500.000 Zuschauer sogar zweimal gehabt: nämlich knapp über eine Million.

Wenn ich dazu den Satz zitiert habe »Die machen den Markt kaputt«, muss man nach­fragen: Wer ist hiermit eigent­lich gemeint? Die, die diese Summen bezahlen, weil sie es sich leisten können? Oder das US-ameri­ka­ni­sche Studio A24, der im Augen­blick wich­tigste Bran­chen­player für US-Inde­pen­dent-Filme. Letzterer zumindest macht eigent­lich nur genau das, was sich alle in der Film­branche wünschen und gerade die, denen das Kino am Herzen liegt, mit Recht verlangen: Film muss etwas wert sein. Und nur wer diesen Wert auch bereit ist, zu bezahlen, wert­schätzt die entspre­chende Arbeit. Wem Film am Herzen liegt, der muss auch entspre­chende Summen verlangen und bezahlen.

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Dieser Ankauf steht im Zeichen einer neuen Kino-Offensive und Marke­ting­stra­tegie von Leonine: Bereits zu Festi­val­be­ginn hatte Leonine die Gründung eines gemein­samen Film­ver­leihs mit A24 verkündet. Damit wird die Zusam­men­ar­beit der beiden Unter­nehmen auf Dauer gestellt. Mittel­fris­tiges Ziel dürfte es dabei auch sein, in Deutsch­land gemein­same Deutsch-US-Produk­tionen umzu­setzen und die zahl­rei­chen Möglich­keiten der deutschen Film­för­de­rung zur Co-Finan­zie­rung auslän­di­scher Filme (Bran­chen­jargon: »stupid German money«) auszu­nutzen.

Fred Kogel, Ex-Programm­ge­schäfts­führer bei SAT1, Ex-Vorstands­chef der Constantin Film und Gründer von Leonine, wird bei Screen wie folgt zitiert:
»Die mutige Erzähl­weise von A24 und ihre Leiden­schaft für heraus­ra­gende, quali­tativ hoch­wer­tige Inhalte, die niemals konven­tio­nell und immer einzig­artig sind, sind spek­ta­kulär. Es ist ihnen gelungen, ein neues Publikum in die Kinos zu locken, was ein großer Erfolg ist. Diese Part­ner­schaft passt perfekt zu unserer Vision und unserem Enga­ge­ment für den Vertrieb und die Lizen­zie­rung von Premium-Inhalten in jeder Form.«

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Auch das gehört zu dem dialek­ti­schen Paar Exzess gegen Enthalt­sam­keit, der meine dies­jäh­rige Cannes-Wahr­neh­mung des ersten post­pan­de­mi­schen Cannes-Jahres dominiert hat.

Dies für heute, am Mittwoch dann noch diverse weitere Über­le­gungen zu Cannes 2023 und einzelnen Filmen.