27.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Der Tag der Entscheidungen

La Chimera
La Chimera: großbürgerliches souveränes Kino...
(Foto: Cannes 2023 Media Library)

Opulenz gegen Askese: Heute ist Finale und es werden beim Filmfestival von Cannes die Palmen vergeben. Die Entscheidung ist auch der Kampf zweier Ideen vom Kino – Cannes-Tagebuch, 07. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Prepare for the worst!« sagt der argen­ti­ni­sche Kollege Roger Koza, als wir über die Preise speku­lieren.
Darum besser nichts weiter über Fußball hier. Denn hier fallen heute die weitaus wich­ti­geren Entschei­dungen. Schon klar ist: Virtus Verona steigt nicht auf; Cadiz und Almeria sind weiterhin gefährdet; der AS Rom ist zurzeit aus den inter­na­tio­nalen Plätzen geflogen – prepare for the worst.

Lieber erinnere ich an Rogers kluge Fragen zum »inter­na­tio­nalen Stil« und »ästhe­ti­schen Imperativ« des Kinos, über die ich vor einigen Monaten geschrieben hatte. Das passt auch zu Cannes.

Das globale Kino, so Roger Koza, sei »zu kodi­fi­ziert und zu bequem geworden«. »Es gibt eine bestimmte Tendenz im latein­ame­ri­ka­ni­schen Kino, die man als inter­na­tio­nalen Stil bezeichnen könnte. Dieser bedient bestimmte Erwar­tungen des inter­na­tio­nalen Publikums an die Realität Latein­ame­rikas und deren Darstel­lungen im Film: Soziale Gewalt, eine revi­sio­nis­ti­sche Lesart der Dikta­turen des letzten Jahr­hun­derts, ein Hauch von magischem Realismus sowie Portraits von Menschen, die fernab vom Einfluss­be­reich der moderne Leben und mit einer tieferen mysti­schen Weisheit ausge­stattet sind.«

Und dann fast noch wichtiger seine beiläu­fige Bemerkung über »den ästhe­ti­schen Imperativ ..., der im inter­na­tio­nalen Festi­val­be­trieb vorherr­schend ist.« Kino, das kritisch sein möchte, sollte solche Impe­ra­tive nicht bedienen, sondern sie kriti­sieren. Es sollte sich hinter­fragen, es sollte sie parodieren, es sollte sie dekon­stru­ieren und dadurch offen­legen in dem, was sie vor allem sind: Imperial. Die Imperien des inter­na­tio­nalen Kinos heißen nicht Verei­nigte Staaten von Amerika, Russische Föde­ra­tion, oder China. Sie sind schwerer zu finden und zu bezeichnen. Wir sollten sie versuchen, zu beschreiben.

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Heute Abend ist alles schon wieder vorbei: Mit der Vergabe der Goldenen und Silbernen Palmen – den neben dem Oscar wich­tigsten Film­preisen der Welt – geht an der fran­zö­si­schen Riviera die 76. Ausgabe der Film­fest­spiele von Cannes zu Ende. Der Rote Teppich und die meter­großen Plakate werden einge­rollt, und der kleine fran­zö­si­sche Badeort versinkt wieder in seinen mona­te­langen gefühlten Winter­schlaf, der außer durch die Film­fest­spiele nur gele­gent­lich durch andere Film­messen – Werbe­filme, Fernsehen, Musik und Porno – kurz unter­bro­chen wird.

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Es gibt keinen klaren Favoriten im Wett­be­werb von 21 Filmen, der allgemein als stark empfunden wurde, ohne aller­dings das Kino neu zu erfinden oder formal und erzäh­le­risch Zukunfts­wei­sendes zu bieten. Das liegt nicht unbedingt daran, dass viele der im Wett­be­werb vertre­tenen Filme­ma­cher ihre größte Zeit im 20. Jahr­hun­dert erlebten. Manche dieser »alten weißen Männer«, deren Wett­be­werbs­teil­nahme im Vorfeld vor allem von jüngeren deutschen Film­kri­ti­kern bekrit­telt wurde, haben fort­schritt­li­chere Filme gemacht als viele Junge. So etwa der in Frank­reich lebende, in Vietnam geborene 60-jährige Tran Anh Hung, oder der 83-jährige Italiener Marco Belloc­chio.
Belloc­chios neuer Film Rapito erzählt die unglaub­liche, aber wahre Geschichte vom Raub jüdischer Kinder in Italien durch den Vatikan Mitte des 19. Jahr­hun­derts. Getragen von groß­ar­tigen Kinder­dar­stel­lern und eine fantas­ti­schen Musik, die zum gleich­be­rech­tigten künst­le­ri­schen Mitspieler wird, gelingt Belloc­chio ein aufrüt­telndes poli­ti­sches Melodram über Fana­tismus, Anti­se­mi­tismus und Mani­pu­la­tion durch Religion. Rapito ist leiden­schaft­li­ches enga­giertes poli­ti­sches Kino, das eine bemer­kens­wert aktuelle Geschichte dem histo­ri­schen Vergessen entreißt.

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Der dritte italie­ni­sche und letzte Film im Wett­be­werb war am Frei­tag­abend La Chimera von Alice Rohr­wa­cher. Die Chimären, das sind jene antiken Misch­wesen aus Tier und Mensch, Geschwister der Sphinx und der Hydra; es sind aber auch verbotene gene­ti­sche Kreu­zungen und ganz allgemein meint der Begriff Trug­bilder.
Um die geht es hier vor allem: Anfangs fährt ein Zug von links nach rechts, es ist ein altmo­di­scher Zug; das Ganze muss in den 70er oder frühen 80er Jahren spielen. Später dann glaube ich zu bemerken dass es genau 1981 spielt: Man sieht Fußbälle aus dem Jahr 1982.
Zu den Eröff­nungs­credits läuft Musik von Monte­verdi: Der „Orpheus“ des Kompo­nisten durch­zieht den Film wie ein Ariad­ne­faden und gibt das Sujet vor: Die Haupt­figur Arthur (Josh O’Connor, der „Prinz Charles“ der Serie „The Crown“) ist ein Ausge­stoßener aus eigenem Willen, und ein Ausländer, vor allem ein moderner Orpheus auf der Suche nach seiner Eurydike.
Diese seine Chimäre heißt Beniamina. Das aus unbe­kannten Gründen verlorene Mädchen hat von ihm Besitz ergriffen und ist zu einem abstrakten Ideal geworden, das ihn in der Gegenwart lähmt, weil er von ihr nicht lassen kann.
Weil er eine privi­le­gierte Verbin­dung zur Unterwelt hat, besitzt Arthur das mythisch-poetische Talent, mit Hilfe einer Wünschel­rute alte Gräber aufzu­spüren. So reist er in die Toskana, zurück zum Heimatort von Beniamina, wo die Mutter (Isabella Rosselini) mit ihren Töchtern auf einem zu atem­be­rau­bender Schönheit verfal­le­nenen Adels­pa­last lebt. Sie ist eine charmante Frau voller Groß­zü­gig­keit und Vers­tändnis, aber als Angehö­rige ihrer Klasse eben auch eine zynische Ausbeu­terin, deren Dienerin nicht zufällig „Italia“ heißt.
Im Ort – alles geschieht irgendwo im Westen der Toskana, in Blera und an anderen Orten, denen die Geschichte einge­schrieben ist. Die Gräber der Etrusker sind zahlreich, das Meer liegt nahe – versam­melt Arthur eine Fellini-eske Gruppe von schrägen Figuren um sich, arme Bauern und Dorf­trottel, die sich als Grab­räuber verdingen. So führt die Regis­seurin en passant auch eine Debatte um die Rolle der Kunst. Haben die Armen das Recht, sie zu stehlen, oder darf Kunst nicht zur Ware werden, sondern muss auf Marmor­so­ckeln angebetet werden? In Cannes geschieht beides.
Und im Film liegt die Gegenwelt zum Adels­pa­last in einem verlas­senen Bahnhof, der von Frauen und Kindern gekapert und zu einer utopi­schen Soli­dar­ge­mein­schaft umgebaut wurde, wie sie die Regis­seurin liebt.

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Alice Rohr­wa­cher ist eine Regis­seurin des Magischen Natu­ra­lismus. Ihr Kino – zuvor Le mera­vi­glie und Glücklich wie Lazzaro – arbeitet sich am obskuren Auftau­chen des Heiligen im Alltäg­li­chen ab, Utopi­sches tritt neben Ruinen, Heiliges neben Profanes, alles ist beiläufig. Rohr­wa­cher zeigt Folklore: Dorffeste, Umzüge, Trink­feste, Tänze und volks­tüm­liche Balladen, aber eben auch eine Reise in den Hades, zu Tempeln der Etrusker. Ein Straßen­umzug, Wein, Volks­kunst, Karneval, man denkt an Fellini, man denkt an Pasolini. Eine Einfach­heit, ein grund­sätz­li­cher Natu­ra­lismus durch­zieht diesen Film. Karneval und Zirkus – alles was Moretti nicht ist, wohl nie war, ist dieser Film.
Aber es ist auch gele­gent­lich ein lang­wei­liger Film. Nur dann passiert immer wieder irgend­etwas, was ihn heraus­reißt, wo der Film wieder Gas gibt. Zum Beispiel die Musik, zum Beispiel diese wunder­baren Räume, zum Beispiel die pasto­ralen Land­schaften.

Rohr­wa­cher hat in drei verschie­denen Formaten gedreht: 35-mm für die Totalen, ansonsten Super16 und 16-mm. Im Ergebnis ein eigen­wil­liger unver­gleich­li­cher Stil, ein Zwielicht-Film zwischen dem Kino-Heiligen und dem Profanen, zwischen Naivität und sprühender Intel­li­genz.

Es wird viel geraucht, es wird viel getrunken. Ein groß­bür­ger­li­ches souver­änes Kino; ein Kino gegen die Spießig­keit der Gegenwart.

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Die Figur der Alba Rohr­wa­cher, Schwester der Regis­seurin, eine zynische Kuns­thänd­lerin, sagt zu Artur: »Du kannst dich so dreckig anziehen wie du willst, aber du wirst nie etwas anderes sein, als das was du bist. Ein Kind deiner Klasse.«

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Wer wird gewinnen? Auf einen Preis hoffen kann die deutsche Schau­spie­lerin Sandra Hüller. Nach wie vor liegen die beiden Filme, in denen sie jeweils eine Haupt­rolle spielt – Jonathan Glazers The Zone of Interest und Justine Triets Anatomie d’une chute – an der Spitze der Kriti­ker­spiegel und Umfragen unter den profes­sio­nellen Festi­val­teil­neh­mern, wenn auch hautnah gefolgt von den neuen Filmen von Aki Kauris­mäki, Todd Haynes und dem Türken Nuri Bilge Ceylan.
Solche Umfragen sind aller­dings immer nur begrenzt aussa­ge­kräftig, zumal sie nur Durch­schnitts­werte angeben. Eine Jury, erst recht eine, in der wie in diesem Jahr zwei Preis­träger der Goldenen Palme vertreten sind, entscheidet durch Diskus­sion und Abwägung, nicht mit geheimer Abstim­mung. So könnten sich auch zwei andere Filme am Ende nach vorne schieben: Club Zero von der Öster­rei­cherin Jessica Hausner und Pot-au-Feu vom erwähnten Tran Anh Hung. Beide Filme zeichnen sich durch besondere formale Konse­quenz aus und beide kreisen um das Thema Essen, bzw. um die Bedeutung von Ernährung und Genuss; beide zielen erkennbar auf unser heutiges Essver­halten. Und beide sind derart unter­schied­lich, dass sie exem­pla­risch für zwei Ideen von Kino stehen, über die ebenfalls heute Abend entschieden werden wird.

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Grob gesagt geht es um Opulenz gegen Enthalt­sam­keit, Pädagogik gegen Genuss, Exzess gegen Askese. Jessica Hausners Film, eine Satire über unser aller Essver­halten und die krank­haften Obses­sionen moderner Gesell­schaften mit Ernährung, Gesund­heit und Selbst­op­ti­mie­rung, ist dem Thema entspre­chend irgendwie ins Korsett gepresst. Er schneidet zwar schlecht bei den Kritikern ab, aber ich glaube, er ist am Ende ein typischer Preis­kan­didat in Cannes.

Und umgekehrt denkt ausge­rechnet ein fran­zö­si­scher Einwan­derer der ersten Gene­ra­tion über den gras­sie­renden Kultur­ver­lust nicht nur in Essens­fragen nach und hat eine enga­gierte Vertei­di­gung der europäi­schen Zivi­li­sa­tion auf die Leinwand gebracht: Man sieht hier vier Menschen zwei­ein­halb Stunden lang gemeinsam Kochen, es gibt kaum Hier­ar­chien, aber viel Kommu­ni­ka­tion. Sie läuft kaum über Sprache, sondern über Blicke, Gesten, Berüh­rungen. Die von Binoche gespielte Köchin Eleonore und der Koch Dodin sind selbst zum kleinsten Gemüse, zum Brot und zu totem Fleisch zärtlich, wie auch zu den pracht­vollen Kupfer­kes­seln, den Küchen­geräten und einem alte Herd aus Eisen. Der Film feiert die Geduld und den Respekt vor allem; der ganze Film versucht zu zeigen, dass auch Kochen eine Kunst ist, in der es wie in jeder Kunst darum geht, auf eine kontrol­lierte Art die Kontrolle zu verlieren.

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Andere haben andere Favoriten. Die neulich erwähnte Kollegin Maryam, die übrigens nicht für »inde­pen­dent Media in Persien« schreibt, sondern für den Inde­pen­dent Persia, also die persische Ausgabe der briti­schen Zeitung, favo­ri­siert Nuri Bilge Ceylan. Wer Farsi lesen kann oder sich die Mühe machen möchte, das Ganze hier zu über­setzen, dem möchte ich ihr Interview empfehlen.

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Träumen, atmen, still­stehen und langsam liegen – das mag für manche der Sinn des Kinos sein, für mich ist er das nicht.

Aber Filme sind die Spiegel ihrer Macher. Das sagt auch der italie­ni­sche Freund Ugo Brus­a­porco. Und es ist viel­leicht keine völlig neue oder origi­nelle Erkenntnis, aber doch eine sehr kluge Erin­ne­rung. Denn tatsäch­lich stimmt es ja: Nani Morettis neuer Film ist so eitel wie unsym­pa­thisch wie dieser Regisseur, Jessica Hausners Film ist so kontrol­liert und insgeheim ein bisschen ängstlich wie diese Regis­seurin.

Der Film Anatomie d’une chute hat in seinen zwei­ein­halb Stunden im Prinzip die Struktur einer Fern­seh­serie – ein Drei­teiler. Das Gleiche entdeckt man auch bei Martin Scorseses Film. Und man muss hier gar nicht den Gegensatz zum Kino sehen, man kann hier sogar die Rückkehr des Kinos zu seinen Ursprüngen entdecken: Der kurzen Form.

Demge­genüber hätte man auf ein paar Alther­ren­filme im Wett­be­werb verzichten können: Der Italiener Nanni Moretti bekam mit seinem enttäu­schenden narziss­ti­schen Film A Brighter Tomorrow zu Recht die schlech­teste von allen Wertungen. Viel zu gut kam Wim Wenders weg, dazu morgen mehr.

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Zum Mitter­nachts­film zu gehen, das bedarf jetzt einer gewissen Anstren­gung, auch wenn der Film von Roberto Rodriguez stammt. Nach 12 Tagen sitzen einem die vielen Filme in den Knochen. Rund 40 Filme habe ich am Ende hier gesehen, an den meisten Tagen fünf. Das neulich beschrie­bene »asozial-werden« von Cannes, die fehlende Gele­gen­heit, mit Kollegen wegzu­gehen, außer zu knalligen Partys, und vor allem die fehlenden Orte, zu denen man zwischen­durch einmal hingehen kann, wenn die Vorstel­lungen vorbei sind, sind die wirk­li­chen Pande­mie­schäden. Sie führen dazu, dass wir alle mehr sehen, oder auf Grund­sätz­li­ches verzichten. Das wollte ich nicht tun. Um deutsche Kollegen zu treffen, dafür gibt es bessere Orte als Cannes. Also konzen­triere ich mich hier auf die Freunde aus dem Ausland: Italiener, Argen­ti­nier. Spanier habe ich fast keine gesehen und wenn dann immer nur so von fern.

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Sinnliche Gewiss­heit versus intel­lek­tu­elle Reflexion. Gerade wo das Kino das intel­lek­tu­elle betont, ist es im Effekt anti­in­tel­lek­tuell, weil es den Zorn und die Distanz gegenüber allem Intel­lek­tu­ellen verstärkt.

Die Behaup­tung mancher Berliner Kollegen, dass die Film­kritik in Cannes keinerlei Relevanz habe, muss man zurück­weisen. Es kommt aller­dings schon darauf an, was für eine Film­kritik. Deutsche Tages­zei­tungen liest hier niemand.

Um ihre Relevanz zu sichern, muss Film­kritik auch etwas tun. Etwas, das über bloße brave Bericht­erstat­tung und Abbildung von Vorur­teilen und jahrelang bekannten Ressen­ti­ments hinaus­geht. Film­kritik müsse sich selbst über­ra­schen.

Die Film­kritik hat Kate­go­rien zu entwi­ckeln, mit denen man allgemein auf Film und auf Kunst blicken kann. So wie die Kunst­kritik Kate­go­rien entwi­ckelt hat, die der Film­kritik nur nutzen. Oder ihr jeden­falls nur nutzen könnten, wenn sie ihrer gewahr wäre.

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Wer also bekommt nun die Preise?

Meine Top-Ten-Liste sieht so aus: La passion de Dodin Bouffant; Only the River flows; The Zone of Interest; The Breaking Ice; Los delin­cuentes; La Chimera; Rapito; Man in Black; A Song Sung Blue; Perdidos en la noche

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Aber wer bekommt nun wirklich die Preise? Hausner, Rohr­wa­cher, Triet, Frazer, Kauris­mäki, Wenders. Prepare for the worst.