76. Filmfestspiele Cannes 2023
Der Tag der Entscheidungen |
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La Chimera: großbürgerliches souveränes Kino... | ||
(Foto: Cannes 2023 Media Library) |
»Prepare for the worst!« sagt der argentinische Kollege Roger Koza, als wir über die Preise spekulieren.
Darum besser nichts weiter über Fußball hier. Denn hier fallen heute die weitaus wichtigeren Entscheidungen. Schon klar ist: Virtus Verona steigt nicht auf; Cadiz und Almeria sind weiterhin gefährdet; der AS Rom ist zurzeit aus den internationalen Plätzen geflogen – prepare for the
worst.
Lieber erinnere ich an Rogers kluge Fragen zum »internationalen Stil« und »ästhetischen Imperativ« des Kinos, über die ich vor einigen Monaten geschrieben hatte. Das passt auch zu Cannes.
Das globale Kino, so Roger Koza, sei »zu kodifiziert und zu bequem geworden«. »Es gibt eine bestimmte Tendenz im lateinamerikanischen Kino, die man als internationalen Stil bezeichnen könnte. Dieser bedient bestimmte Erwartungen des internationalen Publikums an die Realität Lateinamerikas und deren Darstellungen im Film: Soziale Gewalt, eine revisionistische Lesart der Diktaturen des letzten Jahrhunderts, ein Hauch von magischem Realismus sowie Portraits von Menschen, die fernab vom Einflussbereich der moderne Leben und mit einer tieferen mystischen Weisheit ausgestattet sind.«
Und dann fast noch wichtiger seine beiläufige Bemerkung über »den ästhetischen Imperativ ..., der im internationalen Festivalbetrieb vorherrschend ist.« Kino, das kritisch sein möchte, sollte solche Imperative nicht bedienen, sondern sie kritisieren. Es sollte sich hinterfragen, es sollte sie parodieren, es sollte sie dekonstruieren und dadurch offenlegen in dem, was sie vor allem sind: Imperial. Die Imperien des internationalen Kinos heißen nicht Vereinigte Staaten von Amerika, Russische Föderation, oder China. Sie sind schwerer zu finden und zu bezeichnen. Wir sollten sie versuchen, zu beschreiben.
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Heute Abend ist alles schon wieder vorbei: Mit der Vergabe der Goldenen und Silbernen Palmen – den neben dem Oscar wichtigsten Filmpreisen der Welt – geht an der französischen Riviera die 76. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes zu Ende. Der Rote Teppich und die metergroßen Plakate werden eingerollt, und der kleine französische Badeort versinkt wieder in seinen monatelangen gefühlten Winterschlaf, der außer durch die Filmfestspiele nur gelegentlich durch andere Filmmessen – Werbefilme, Fernsehen, Musik und Porno – kurz unterbrochen wird.
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Es gibt keinen klaren Favoriten im Wettbewerb von 21 Filmen, der allgemein als stark empfunden wurde, ohne allerdings das Kino neu zu erfinden oder formal und erzählerisch Zukunftsweisendes zu bieten. Das liegt nicht unbedingt daran, dass viele der im Wettbewerb vertretenen Filmemacher ihre größte Zeit im 20. Jahrhundert erlebten. Manche dieser »alten weißen Männer«, deren Wettbewerbsteilnahme im Vorfeld vor allem von jüngeren deutschen Filmkritikern bekrittelt wurde,
haben fortschrittlichere Filme gemacht als viele Junge. So etwa der in Frankreich lebende, in Vietnam geborene 60-jährige Tran Anh Hung, oder der 83-jährige Italiener Marco Bellocchio.
Bellocchios neuer Film Rapito erzählt die unglaubliche, aber wahre Geschichte vom Raub jüdischer Kinder in Italien durch den Vatikan Mitte des 19. Jahrhunderts. Getragen von großartigen Kinderdarstellern und eine fantastischen Musik, die zum gleichberechtigten
künstlerischen Mitspieler wird, gelingt Bellocchio ein aufrüttelndes politisches Melodram über Fanatismus, Antisemitismus und Manipulation durch Religion. Rapito ist leidenschaftliches engagiertes politisches Kino, das eine bemerkenswert aktuelle Geschichte dem historischen Vergessen entreißt.
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Der dritte italienische und letzte Film im Wettbewerb war am Freitagabend La Chimera von Alice Rohrwacher. Die Chimären, das sind jene antiken Mischwesen aus Tier und Mensch, Geschwister der Sphinx und der Hydra; es sind aber auch verbotene genetische Kreuzungen und ganz allgemein meint der Begriff Trugbilder.
Um die geht es hier vor allem: Anfangs fährt ein Zug von links nach rechts, es ist ein altmodischer Zug; das Ganze muss in den 70er oder
frühen 80er Jahren spielen. Später dann glaube ich zu bemerken dass es genau 1981 spielt: Man sieht Fußbälle aus dem Jahr 1982.
Zu den Eröffnungscredits läuft Musik von Monteverdi: Der »Orpheus« des Komponisten durchzieht den Film wie ein Ariadnefaden und gibt das Sujet vor: Die Hauptfigur Arthur (Josh O’Connor, der »Prinz Charles« der Serie »The Crown«) ist ein Ausgestoßener aus eigenem Willen, und ein Ausländer, vor allem ein moderner Orpheus auf der Suche nach seiner
Eurydike.
Diese seine Chimäre heißt Beniamina. Das aus unbekannten Gründen verlorene Mädchen hat von ihm Besitz ergriffen und ist zu einem abstrakten Ideal geworden, das ihn in der Gegenwart lähmt, weil er von ihr nicht lassen kann.
Weil er eine privilegierte Verbindung zur Unterwelt hat, besitzt Arthur das mythisch-poetische Talent, mit Hilfe einer Wünschelrute alte Gräber aufzuspüren. So reist er in die Toskana, zurück zum Heimatort von Beniamina, wo die Mutter (Isabella
Rosselini) mit ihren Töchtern auf einem zu atemberaubender Schönheit verfallenenen Adelspalast lebt. Sie ist eine charmante Frau voller Großzügigkeit und Verständnis, aber als Angehörige ihrer Klasse eben auch eine zynische Ausbeuterin, deren Dienerin nicht zufällig »Italia« heißt.
Im Ort – alles geschieht irgendwo im Westen der Toskana, in Blera und an anderen Orten, denen die Geschichte eingeschrieben ist. Die Gräber der Etrusker sind zahlreich, das Meer liegt nahe
– versammelt Arthur eine Fellini-eske Gruppe von schrägen Figuren um sich, arme Bauern und Dorftrottel, die sich als Grabräuber verdingen. So führt die Regisseurin en passant auch eine Debatte um die Rolle der Kunst. Haben die Armen das Recht, sie zu stehlen, oder darf Kunst nicht zur Ware werden, sondern muss auf Marmorsockeln angebetet werden? In Cannes geschieht beides.
Und im Film liegt die Gegenwelt zum Adelspalast in einem verlassenen Bahnhof, der von Frauen und Kindern
gekapert und zu einer utopischen Solidargemeinschaft umgebaut wurde, wie sie die Regisseurin liebt.
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Alice Rohrwacher ist eine Regisseurin des Magischen Naturalismus. Ihr Kino – zuvor Le meraviglie und Glücklich wie Lazzaro – arbeitet sich am obskuren Auftauchen des Heiligen im Alltäglichen ab, Utopisches tritt neben Ruinen, Heiliges neben Profanes, alles ist beiläufig.
Rohrwacher zeigt Folklore: Dorffeste, Umzüge, Trinkfeste, Tänze und volkstümliche Balladen, aber eben auch eine Reise in den Hades, zu Tempeln der Etrusker. Ein Straßenumzug, Wein, Volkskunst, Karneval, man denkt an Fellini, man denkt an Pasolini. Eine Einfachheit, ein grundsätzlicher Naturalismus durchzieht diesen Film. Karneval und Zirkus – alles was Moretti nicht ist, wohl nie war, ist dieser Film.
Aber es ist auch gelegentlich ein langweiliger Film. Nur dann
passiert immer wieder irgendetwas, was ihn herausreißt, wo der Film wieder Gas gibt. Zum Beispiel die Musik, zum Beispiel diese wunderbaren Räume, zum Beispiel die pastoralen Landschaften.
Rohrwacher hat in drei verschiedenen Formaten gedreht: 35-mm für die Totalen, ansonsten Super16 und 16-mm. Im Ergebnis ein eigenwilliger unvergleichlicher Stil, ein Zwielicht-Film zwischen dem Kino-Heiligen und dem Profanen, zwischen Naivität und sprühender Intelligenz.
Es wird viel geraucht, es wird viel getrunken. Ein großbürgerliches souveränes Kino; ein Kino gegen die Spießigkeit der Gegenwart.
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Die Figur der Alba Rohrwacher, Schwester der Regisseurin, eine zynische Kunsthändlerin, sagt zu Artur: »Du kannst dich so dreckig anziehen wie du willst, aber du wirst nie etwas anderes sein, als das was du bist. Ein Kind deiner Klasse.«
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Wer wird gewinnen? Auf einen Preis hoffen kann die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller. Nach wie vor liegen die beiden Filme, in denen sie jeweils eine Hauptrolle spielt – Jonathan Glazers The Zone of Interest und Justine Triets Anatomie d’une Chute – an der Spitze der Kritikerspiegel und Umfragen unter den professionellen Festivalteilnehmern, wenn auch hautnah gefolgt von den neuen Filmen von Aki Kaurismäki,
Todd Haynes und dem Türken Nuri Bilge Ceylan.
Solche Umfragen sind allerdings immer nur begrenzt aussagekräftig, zumal sie nur Durchschnittswerte angeben. Eine Jury, erst recht eine, in der wie in diesem Jahr zwei Preisträger der Goldenen Palme vertreten sind, entscheidet durch Diskussion und Abwägung, nicht mit geheimer Abstimmung. So könnten sich auch zwei andere Filme am Ende nach vorne schieben: Club Zero von der Österreicherin Jessica Hausner und Pot-au-Feu vom erwähnten Tran Anh Hung. Beide Filme zeichnen sich durch besondere formale Konsequenz aus und beide kreisen um das Thema Essen, bzw. um die Bedeutung von Ernährung und Genuss; beide zielen erkennbar auf unser heutiges Essverhalten. Und beide sind derart unterschiedlich, dass sie exemplarisch für zwei Ideen von Kino stehen, über die ebenfalls heute Abend entschieden werden wird.
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Grob gesagt geht es um Opulenz gegen Enthaltsamkeit, Pädagogik gegen Genuss, Exzess gegen Askese. Jessica Hausners Film, eine Satire über unser aller Essverhalten und die krankhaften Obsessionen moderner Gesellschaften mit Ernährung, Gesundheit und Selbstoptimierung, ist dem Thema entsprechend irgendwie ins Korsett gepresst. Er schneidet zwar schlecht bei den Kritikern ab, aber ich glaube, er ist am Ende ein typischer Preiskandidat in Cannes.
Und umgekehrt denkt ausgerechnet ein französischer Einwanderer der ersten Generation über den grassierenden Kulturverlust nicht nur in Essensfragen nach und hat eine engagierte Verteidigung der europäischen Zivilisation auf die Leinwand gebracht: Man sieht hier vier Menschen zweieinhalb Stunden lang gemeinsam Kochen, es gibt kaum Hierarchien, aber viel Kommunikation. Sie läuft kaum über Sprache, sondern über Blicke, Gesten, Berührungen. Die von Binoche gespielte Köchin Eleonore und der Koch Dodin sind selbst zum kleinsten Gemüse, zum Brot und zu totem Fleisch zärtlich, wie auch zu den prachtvollen Kupferkesseln, den Küchengeräten und einem alte Herd aus Eisen. Der Film feiert die Geduld und den Respekt vor allem; der ganze Film versucht zu zeigen, dass auch Kochen eine Kunst ist, in der es wie in jeder Kunst darum geht, auf eine kontrollierte Art die Kontrolle zu verlieren.
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Andere haben andere Favoriten. Die neulich erwähnte Kollegin Maryam, die übrigens nicht für »independent Media in Persien« schreibt, sondern für den Independent Persia, also die persische Ausgabe der britischen Zeitung, favorisiert Nuri Bilge Ceylan. Wer Farsi lesen kann oder sich die Mühe machen möchte, das Ganze hier zu übersetzen, dem möchte ich ihr Interview empfehlen.
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Träumen, atmen, stillstehen und langsam liegen – das mag für manche der Sinn des Kinos sein, für mich ist er das nicht.
Aber Filme sind die Spiegel ihrer Macher. Das sagt auch der italienische Freund Ugo Brusaporco. Und es ist vielleicht keine völlig neue oder originelle Erkenntnis, aber doch eine sehr kluge Erinnerung. Denn tatsächlich stimmt es ja: Nani Morettis neuer Film ist so eitel wie unsympathisch wie dieser Regisseur, Jessica Hausners Film ist so kontrolliert und insgeheim ein bisschen ängstlich wie diese Regisseurin.
Der Film Anatomie d’une Chute hat in seinen zweieinhalb Stunden im Prinzip die Struktur einer Fernsehserie – ein Dreiteiler. Das Gleiche entdeckt man auch bei Martin Scorseses Film. Und man muss hier gar nicht den Gegensatz zum Kino sehen, man kann hier sogar die Rückkehr des Kinos zu seinen Ursprüngen entdecken: Der kurzen Form.
Demgegenüber hätte man auf ein paar Altherrenfilme im Wettbewerb verzichten können: Der Italiener Nanni Moretti bekam mit seinem enttäuschenden narzisstischen Film A brighter tomorrow zu Recht die schlechteste von allen Wertungen. Viel zu gut kam Wim Wenders weg, dazu morgen mehr.
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Zum Mitternachtsfilm zu gehen, das bedarf jetzt einer gewissen Anstrengung, auch wenn der Film von Roberto Rodriguez stammt. Nach 12 Tagen sitzen einem die vielen Filme in den Knochen. Rund 40 Filme habe ich am Ende hier gesehen, an den meisten Tagen fünf. Das neulich beschriebene »asozial-werden« von Cannes, die fehlende Gelegenheit, mit Kollegen wegzugehen, außer zu knalligen Partys, und vor allem die fehlenden Orte, zu denen man zwischendurch einmal hingehen kann, wenn die Vorstellungen vorbei sind, sind die wirklichen Pandemieschäden. Sie führen dazu, dass wir alle mehr sehen, oder auf Grundsätzliches verzichten. Das wollte ich nicht tun. Um deutsche Kollegen zu treffen, dafür gibt es bessere Orte als Cannes. Also konzentriere ich mich hier auf die Freunde aus dem Ausland: Italiener, Argentinier. Spanier habe ich fast keine gesehen und wenn dann immer nur so von fern.
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Sinnliche Gewissheit versus intellektuelle Reflexion. Gerade wo das Kino das intellektuelle betont, ist es im Effekt antiintellektuell, weil es den Zorn und die Distanz gegenüber allem Intellektuellen verstärkt.
Die Behauptung mancher Berliner Kollegen, dass die Filmkritik in Cannes keinerlei Relevanz habe, muss man zurückweisen. Es kommt allerdings schon darauf an, was für eine Filmkritik. Deutsche Tageszeitungen liest hier niemand.
Um ihre Relevanz zu sichern, muss Filmkritik auch etwas tun. Etwas, das über bloße brave Berichterstattung und Abbildung von Vorurteilen und jahrelang bekannten Ressentiments hinausgeht. Filmkritik müsse sich selbst überraschen.
Die Filmkritik hat Kategorien zu entwickeln, mit denen man allgemein auf Film und auf Kunst blicken kann. So wie die Kunstkritik Kategorien entwickelt hat, die der Filmkritik nur nutzen. Oder ihr jedenfalls nur nutzen könnten, wenn sie ihrer gewahr wäre.
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Wer also bekommt nun die Preise?
Meine Top-Ten-Liste sieht so aus: LA PASSION DE DODIN BOUFFANT; ONLY THE RIVER FLOWS; THE ZONE OF INTEREST; THE BREAKING ICE; LOS DELINQUENTES; LA CHIMERA; RAPITO; MAN IN BLACK; A SONG SUNG BLUE; PERDIDOS EN LA NOCHE
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Aber wer bekommt nun wirklich die Preise? Hausner, Rohrwacher, Triet, Frazer, Kaurismäki, Wenders. Prepare for the worst.