25.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Wo bleibt das Schmutzige?

Club Zero
Club Zero: Das alles reicht für einen Kurzfilm, aber nicht mehr...
(Foto: Cannes 2023 Media Library)

Die keineswegs zwecklose Zwecklosigkeit des Genusses und der Überschreitung, Filme von Jessica Hausner und Tran An Hungh, und erste Palmen-Prognosen – Cannes-Tagebuch, 05. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»'Eure Schafe', sagte ich, 'die so sanft zu sein und so wenig zu fressen pflegten, haben ange­fangen so gefräßig und zügellos zu werden, dass sie die Menschen selbst auffressen und die Äcker, Häuser, Fami­li­en­heime verwüsten und entvöl­kern.'«
– Thomas Morus, »Utopia«, 1516

»Conscious eating – what nonsense!«
– aus: »Club Zero«

»Vielen Dank, vielen Dank, ich verspreche Ihnen: ich werde wieder kommen mit einem besseren Film.« – das ist mal ein Auftritt eines Regis­seurs. Also sprach Takeshi Kitano nach zehn­minü­tigem Applaus nach der Premiere seines Films Kubi, eines klas­si­schen, etwas verla­berten Samurai-Films, bei dem überaus viele Köpfe rollen. Ein brett­hartes Werk, konse­quent, opulent und leiden­schaft­lich, aber nichts für jeden.

Man musste danach wieder mal die Frage stellen, ob es wirklich Sinn macht, Filme wie diesen in einer eigenen neuen Reihe zu präsen­tieren, und »Cannes Premieres« zu nennen? Das gilt ebenso für Amat Escalante, Lisandro Alonso und einige andere. Wäre es nicht besser, wenn die einfach »außer Konkur­renz« im Wett­be­werb laufen würden? Oder sogar in Konkur­renz?
Der Sinn der »Cannes Premieres« hat sich mir auch im dritten Jahr nicht erschlossen.

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Konse­quenz, Opulenz und Leiden­schaft – das gilt auch für Marco Belloc­chio. Rapito heißt sein ausge­zeich­neter neuer Film im Wett­be­werb. Über den wie über Kitano habe ich im Cannes-Podcast schon ausführ­li­cher berichtet.

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Die Halbzeit der Film­fest­spiele ist bereits vorüber, und es häufen sich die ersten Speku­la­tionen für die Palmen am Samstag. Die fran­zö­si­sche Presse und die inter­na­tio­nale sind zwar nicht immer einer Ansicht. In diesem Jahr gibt es aber deutliche Über­schnei­dungen bei ihren Lieb­lingen, nämlich Anatomie d’une Chute, May, December, Firebrand und The Zone of Interest.
Zum Teil kann ich das hier nur wieder­geben, aber nicht bewerten. Denn in diesem Jahr gebe ich mir im Gegensatz zu den Vorjahren keine Mühe, den Wett­be­werb komplett gesehen zu haben. Statt­dessen versuche ich, aus Erfahrung der letzten Jahre, möglichst viele Filme in der Reihe »Un Certain Regard« und den »Cannes Premieres« zu sehen, und dann noch das ein oder andere aus der Quinzaine.

Todd Haynes ist seit jeher ein Kriti­ker­lieb­ling, mehr als einer des Publikums. Ähnlich wie der Finne Aki Kauris­mäki. Beide Filme habe ich nicht gesehen, werde sie erst am Samstag nachholen und kann deswegen dazu nichts sagen. Bislang leider verpasst habe ich Wes Anderson, weil ich zwei Scree­nings nicht wahr­nehmen konnte und mich heute morgen um 8:30 Uhr nicht aus dem Bett zu quälen vermochte. Aber ich habe für den einen eine sichere Karte am Samstag.

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Wer in den verschie­denen Kriti­ker­spie­geln vorne liegt, ist nur ein vages Indiz. Was mir ein absolutes Rätsel ist, ist warum Anatomie d’une chute so gut bei vielen ankommt. Es kann nicht nur fran­zö­si­scher Patrio­tismus sein, auch wenn dies einer der in diesem Jahr auffal­lend wenigen Filme aus Frank­reich ist, der im Wett­be­werb läuft. Nicht weniger als fünf Mal bekommt er bei der »Film Français«-Abstim­mung eine Palme, aller­dings bekommt er am gleichen Ort auch zweimal sehr niedrige Wertungen.

Screen­daily steht für angelsäch­si­schen Geschmack, die dort votieren sind die Alten, Etablierten. Das sieht man den Voten an, wo die männ­li­chen Altmeister gegenüber Jungen, Neuen und Frauen regel­mäßig besser wegkommen.

Bei critic.de ist dagegen ein bestimmter Schlag der jüngeren Film­kritik versam­melt und ich komme mir da manchmal wie der Quoten­boomer vor. Umso mehr weiß ich es natürlich zu schätzen, dass ich da überhaupt mitmachen darf.
Hier ist das Urteil auch deutlich diverser. Belloc­chio kommt ganz gut weg, Todd Haynes, Jonathan Glazer und der Chinese Only the River Flows aus dem »Certain Regard«.

Über­ra­schend oft einig bin ich mir in diesem Jahr mit Till Kadritzke, mit dem ich aller­dings seit jeher die Liebe für den gleichen Fußball­club teile. Für uns beide ist wohl die Bundes­liga-Entschei­dung die weitaus wich­ti­gere am Samstag.

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Eine Abstim­mung anderer Art ist die des Cannes-Marktes. Erstaun­liche Beträge gehen da über den Tisch: Leonine hat für die deutschen Rechte an The Zone of Interest von Jonathan Glazer 1,4 Millionen Euro bezahlt – keine Ahnung wie die das Geld wieder herein­kriegen wollen.
Selbst wenn der Film einen wichtigen Preis gewinnen sollte, kann man ihn mit einem Cannes-Erfolg wie Parasite, der in Deutsch­land 500.000 Zuschauer bekam, nicht verglei­chen.

Von anderen deutschen Markt­teil­neh­mern hört man entweder Verär­ge­rung – »Die machen den Markt kaputt« – oder den nüch­ternen Befund, das sei komplett unrea­lis­tisch, »eine Großkotz-Nummer«, »dicke E...«; der Film werde gerade mal 20.000 Zuschauer bekommen.
»Irgend­wann wird denen der Stecker gezogen, es dauert nicht mehr lang.«

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Das passt aber ins Bild der absurden Preise in manchen Restau­rants in Cannes. Im »Cali­fornie« werden zum Beispiel für einen Thun­fisch­salat 32 € aufge­rufen, für einen Hamburger 40 €.

Auch sonst ist der Ort Cannes seit der Pandemie asozial geworden: Die Kneipen schließen fast alle um Mitter­nacht, zu essen gibt es schon früher nichts. Die schönen Zeiten bis halb zwei im »Le Crillon« gehören einst­weilen der Vergan­gen­heit an.

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Die zweit­schlech­teste Wertung im »Screen« hat Jessica Hausners zumindest von mir sehr opti­mis­tisch erwar­teter Film Club Zero.

Jessica Hausners Film wird aus dem Abstand ein bisschen besser. In einer ersten Reaktion habe ich im Podcast den Film im Großen und Ganzen verrissen. Das würde ich heute schon etwas diffe­ren­zierter beur­teilen. Es bleibt zwar dabei, dass..... trotzdem erscheint es mir ganz klar, dass dieser Film einen der wichtigen Preise gewinnen wird.

Grund­sätz­lich handelt es sich um eine Satire über unser aller Essver­halten. Über unsere Obsession mit Ernährung und Gesund­heit und mit unserer Selbst­op­ti­mie­rung. Über unsere Obsession mit der Rettung der Welt – als ob die sich nicht selbst retten könnte und müsste.

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Es beginnt mit einem typischen Jessica-Hausner-Blick: Der Blick von links oben, ein Raum ist genau choreo­gra­phiert, dann zoomt die Kamera langsam heran – und mir geht es seit dem Godard-Doku­men­tar­film so, dass ich bei jedem Zoom, den ich sehe, an Godards Bemerkung denke: Zoom ist Fernsehen. Beim Kino muss man die Einstel­lung vorher wählen. Das ist in seiner Abso­lut­heit natürlich voll­kommen dogma­tisch, aber es gibt schon eine ganz gute Richtung vor.

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Eine englische Boarding School bekommt eine neue Lehrerin, die für Ernäh­rungs­un­ter­richt zuständig ist, und »Conscious eating« bzw. »Reduced consu­me­rism« propa­giert. Diese Lehrerin soll einer­seits irgendwie charis­ma­tisch sein, zugleich aber bewusst spießig und asketisch wirken. So lang­weilig und unsexy sah Mia Wasi­kowska noch nie aus.

Sechs Schüler werden ihre gläubigen Anhänger, und entwi­ckeln sich zu »Fress­nazis« und Über­zeu­gungs­ro­bo­tern mit monotonem, immer gleichen Blick.

Alles geht hier über Körper: Schüler prak­ti­zieren Ballett, Trampolin, tragen Luxus­kla­motten, kotzen nach dem Essen. Bücher lesen sie nie.

Die Lehrerin veteidigt das: »It shows prejudice when you question their truth.« Der Film thema­ti­siert die Arroganz der Kinder. Und man muss hier auch an die Arroganz realer Weltretter, ob bei den »Fridays for Future«, den Corona-Gehor­samen, den Russ­land­kri­ti­kern denken.

Die Lehrerin heißt übrigens auch Nowak und sie ähnelt der Figur aus dem Film Das Lehrer­zimmer mit dem gleichen Namen auch sonst: Es ist ebenfalls eine junge Frau, mit einer sehr ähnlichen Frisur und einem ähnlich fehl­ge­lei­teten Idea­lismus, einer über­trie­benen Über­zeu­gung, die ziemlich nah am Fana­tismus dran ist. Irgend­wann isst ein Mädchen dann ihr eigenes zuvor Ausge­kotztes.

Alles erinnert auch an eine Sekte: »Try to become the person you really are«

Wichtig ist die Form, das Set- und Kostüm­de­sign: Man trägt Polo­hemden von Ralph Lauren und anderen Designer-Marken, die Pastell­farben sind Olivgrün, zitro­nen­gelb, hellbraun. Der Spielstil der Darsteller ist flach und antid­ra­ma­tisch, stili­siert.
Musik und Sprache wirken vor allem affek­tiert.

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Das alles reicht für einen Kurzfilm, aber nicht mehr. Es passiert nach der Expo­si­tion kaum etwas. Wir erleben eine vom Thema Essen besessene Gesell­schaft, die ihre Mitglieder mit Über­wa­chung und sozialem Druck normiert.

Club Zero ist okay, aber nicht wahn­sinnig gut. Er formu­liert zum Teil eine tolle Kritik an gesell­schaft­li­chen Tendenzen, aber stilis­tisch schwach. Vor allem leidet Club Zero genau an dem, was er vermeint­lich kriti­siert: Unter dem Hang zur Reduktion, zum Verzicht, zum Kontrol­lieren. Das nicht-loslassen-können. Etwas grund­sätz­lich Zurück­ge­nom­menes durch­zieht diesen irgendwie ein bisschen zusam­men­ge­pressten Film. Ein Beispiel für jenes Kino, in dem ganz viele Latenzen auf die Leinwand gebracht werden, sich aber diese Latenzen zu wenig ausleben oder gar ausbre­chen.
In diesem Sinn ist Club Zero Zeitgeist pur.

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Auch wenn mal gekotzt wird, ist das bei Hausner immer erstaun­lich sauber. Wo bleibt das Schmut­zige? Die Entgren­zung?
In vieler Hinsicht ähneln auch andere Cannes-Filme der Grund­hal­tung aus Club Zero. Nämlich der Haltung zu verdichten, zu redu­zieren, zu sparen, etwas zurück­zu­nehmen, etwas wegzu­lassen. Es gibt wenig Filme, in denen etwas hinzu­ge­fügt wird, in denen sich eins aufs andere türmt und in denen es ein Zuviel gibt, eine Über­schrei­tung, eine barocke Über­la­dung. Es gibt immer nur eine aske­ti­sche Unter­la­dung und Zurück­nahme. Viele Filme sind protes­tan­tisch darin, dass sie die Askese suchen, dass sie den Worten mehr Vertrauen als den Bildern, der Ruhe mehr als der Geschwin­dig­keit, den langen Einstel­lungen mehr als der Montage, dem Still­stand mehr als der Bewegung. Aber es heißt »movies«, weil es mal die sich bewe­genden Bilder waren, die moving pictures.

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Genau das Gegenteil von Club Zero erlebte man in La Passsion de Dodin Bouffant von Tran An Hungh. Auf den ersten Blick handelt es sich um staats­tra­gendes fran­zö­si­sches Starkino mit Juliette Binoche und Benoit Magimel in den Haupt­rollen.

Auf den zweiten Blick aber ist dies sehr viel mehr: Nämlich ein Film über die Kunst; über Geschmack; über die feinen Unter­schiede; über Eleganz und Anmut; über alles das, was dem aller­meisten Kino fehlt und viel­leicht unserer Zeit überhaupt fehlt. Über den gras­sie­renden Bewusst­seins- und Kultur­ver­lust. Aber der Reihe nach.

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Man sollte das Rührei mit dem Löffel essen, dann schmeckt es besser, sagt Magimels Dodin Bouffant.

Wir sehen Mörser, Kupfer­kessel, einen alten Herd aus Eisen mit Kohle, und dann die verschie­denen Metall­ringe, die man heraus­nehmen kann. Eine Art zu kochen, wie es sie heute nicht mehr gibt, auf die aber heute immer noch einige Küchen­chefs schwören. Solche Küchen bekommt man heute nur noch extrem teuer.
So zu kochen ist, wie auf analogen Material Film machen. Wie 35mm-Vorfüh­rungen, Kino auf eine alte Art.

Der ganze Film versucht zu erklären, dass es darum geht, auf eine kontrol­lierte Art die Kontrolle zu verlieren, dass man Ruhe braucht beim Kochen und der Kunst; keine Hektik.

Geschmacks­schu­lung, Geschmacks­trai­ning. Das ist Zivi­li­sa­tion.

Zivi­li­sa­tion ist das Gegenteil von zweck­ge­rich­tetem Essen. Es geht beim Essen nicht darum, ein besserer Mensch zu werden; es geht auch nicht um Gesund­heit, auch nicht um Ernährung, sondern es geht um Genuss und Stil.

Dieser Film feiert die keines­wegs zwecklose Zweck­lo­sig­keit des Genusses. Eine Feier der Künste, eine Feier des Über­flusses, eine Feier der Zweck­lo­sig­keit, die natürlich aus Sicht dieser Menschen keines­wegs zwecklos ist.

Das Geschirr ist ebenso wichtig. Es ist Teil des Kunst­werks: das Silber­be­steck, die Kris­tall­gläser. Später dann im Raum: die Blumen, die vielen Kerzen­leuchter, vier mindes­tens, die nur für eine einzige Person ange­zündet werden, die hier isst. Und es ist eine Bedi­ens­tete. Dieser Film löst auch die Diskurse um Klas­sismus und Klas­sen­ver­hält­nisse für einen langen Film-Augen­blick ins Nichts auf. Hier sprechen und verhalten sich zwei Menschen auf Augenhöhe und auch die beiden anderen Dienst­mäd­chen Violette und Pauline sind Teil einer Familie, nichts anderes.

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Kriterien werden genannt: Opulenz und Genau­ig­keit, Klasse, Eleganz, Anmut.

Dieser Film ist in jeder Hinsicht das Gegenteil zum Film von Jessica Hausner. Es geht hier um Opulenz, um Überfluss, um das Zuviel, zugleich um die Lust am Expe­ri­men­tieren, um eine Kontrolle, die mit Kontroll­ver­lust spielt, die die Bereit­schaft zum Kontroll­ver­lust mitein­baut. Eine Kunst, die zu tun hat mit dem Loslassen-können. Dieses Verhältnis zwischen Kontrolle und Kontroll­ver­lust ist das Entschei­dende, hier kommt es auf den Moment an, auf das berühmte »Bauch­ge­fühl«, die Intuition.

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Cannes ist ein extrem reiches, viel­fäl­tiges Festival. Der Markt geht heute am Mitt­woch­abend zu Ende. Er hat die sagen­hafte Zahl von 13.500 Akkre­di­tierten versam­melt. Die Bilder, an die man sich aus den schönen Tagen vor Corona erinnert, kommen zurück, die Massen der Film­händler sind zurück, der Käufer und Verkäufer aus der ganzen Welt.
In Cannes zeigen sich alle Facetten des Kinos. Natürlich ist dies ein Tempel der »siebten Kunst«, ein Gipfel des Glamour mit den Stars aus Hollywood, es ist das ökono­mi­sche Herz der welt­weiten Film­in­dus­trie. Aber dies ist auch ein Ort der Kenner­schaft, der Reflexion, der Eleganz und der Anmut; des geistigen Austauschs, des produk­tiven Streits der Experten. Cannes ist eine sinnliche Erfahrung und es ist ein intel­lek­tu­eller Ort!