Wo bleibt das Schmutzige? |
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Club Zero: Das alles reicht für einen Kurzfilm, aber nicht mehr... | ||
(Foto: Cannes 2023 Media Library) |
»'Eure Schafe', sagte ich, 'die so sanft zu sein und so wenig zu fressen pflegten, haben angefangen so gefräßig und zügellos zu werden, dass sie die Menschen selbst auffressen und die Äcker, Häuser, Familienheime verwüsten und entvölkern.'«
– Thomas Morus, »Utopia«, 1516»Conscious eating – what nonsense!«
– aus: »Club Zero«
»Vielen Dank, vielen Dank, ich verspreche Ihnen: ich werde wieder kommen mit einem besseren Film.« – das ist mal ein Auftritt eines Regisseurs. Also sprach Takeshi Kitano nach zehnminütigem Applaus nach der Premiere seines Films Kubi, eines klassischen, etwas verlaberten Samurai-Films, bei dem überaus viele Köpfe rollen. Ein bretthartes Werk, konsequent, opulent und leidenschaftlich, aber nichts für jeden.
Man musste danach wieder mal die Frage stellen, ob es wirklich Sinn macht, Filme wie diesen in einer eigenen neuen Reihe zu präsentieren, und »Cannes Premieres« zu nennen? Das gilt ebenso für Amat Escalante, Lisandro Alonso und einige andere. Wäre es nicht besser, wenn die einfach »außer Konkurrenz« im Wettbewerb laufen würden? Oder sogar in Konkurrenz?
Der Sinn der »Cannes Premieres« hat sich mir auch im dritten Jahr nicht erschlossen.
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Konsequenz, Opulenz und Leidenschaft – das gilt auch für Marco Bellocchio. Rapito heißt sein ausgezeichneter neuer Film im Wettbewerb. Über den wie über Kitano habe ich im Cannes-Podcast schon ausführlicher berichtet.
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Die Halbzeit der Filmfestspiele ist bereits vorüber, und es häufen sich die ersten Spekulationen für die Palmen am Samstag. Die französische Presse und die internationale sind zwar nicht immer einer Ansicht. In diesem Jahr gibt es aber deutliche Überschneidungen bei ihren Lieblingen, nämlich Anatomie d’une Chute, May, December, Firebrand und The Zone of Interest.
Zum Teil
kann ich das hier nur wiedergeben, aber nicht bewerten. Denn in diesem Jahr gebe ich mir im Gegensatz zu den Vorjahren keine Mühe, den Wettbewerb komplett gesehen zu haben. Stattdessen versuche ich, aus Erfahrung der letzten Jahre, möglichst viele Filme in der Reihe »Un Certain Regard« und den »Cannes Premieres« zu sehen, und dann noch das ein oder andere aus der Quinzaine.
Todd Haynes ist seit jeher ein Kritikerliebling, mehr als einer des Publikums. Ähnlich wie der Finne Aki Kaurismäki. Beide Filme habe ich nicht gesehen, werde sie erst am Samstag nachholen und kann deswegen dazu nichts sagen. Bislang leider verpasst habe ich Wes Anderson, weil ich zwei Screenings nicht wahrnehmen konnte und mich heute morgen um 8:30 Uhr nicht aus dem Bett zu quälen vermochte. Aber ich habe für den einen eine sichere Karte am Samstag.
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Wer in den verschiedenen Kritikerspiegeln vorne liegt, ist nur ein vages Indiz. Was mir ein absolutes Rätsel ist, ist warum Anatomie d’une chute so gut bei vielen ankommt. Es kann nicht nur französischer Patriotismus sein, auch wenn dies einer der in diesem Jahr auffallend wenigen Filme aus Frankreich ist, der im Wettbewerb läuft. Nicht weniger als fünf Mal bekommt er bei der »Film Français«-Abstimmung eine Palme, allerdings bekommt er am gleichen Ort auch zweimal sehr niedrige Wertungen.
Screendaily steht für angelsächsischen Geschmack, die dort votieren sind die Alten, Etablierten. Das sieht man den Voten an, wo die männlichen Altmeister gegenüber Jungen, Neuen und Frauen regelmäßig besser wegkommen.
Bei critic.de ist dagegen ein bestimmter Schlag der jüngeren Filmkritik versammelt und ich komme mir da manchmal wie der Quotenboomer vor. Umso mehr weiß ich es natürlich zu schätzen, dass ich da überhaupt mitmachen darf.
Hier ist das Urteil auch deutlich diverser. Bellocchio kommt ganz gut weg, Todd Haynes, Jonathan Glazer und der Chinese Only the River Flows aus
dem »Certain Regard«.
Überraschend oft einig bin ich mir in diesem Jahr mit Till Kadritzke, mit dem ich allerdings seit jeher die Liebe für den gleichen Fußballclub teile. Für uns beide ist wohl die Bundesliga-Entscheidung die weitaus wichtigere am Samstag.
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Eine Abstimmung anderer Art ist die des Cannes-Marktes. Erstaunliche Beträge gehen da über den Tisch: Leonine hat für die deutschen Rechte an The Zone of Interest von Jonathan Glazer 1,4 Millionen Euro bezahlt – keine Ahnung wie die das Geld wieder hereinkriegen wollen.
Selbst wenn der Film einen wichtigen Preis gewinnen sollte, kann man ihn mit einem Cannes-Erfolg wie Parasite, der in Deutschland 500.000 Zuschauer bekam, nicht vergleichen.
Von anderen deutschen Marktteilnehmern hört man entweder Verärgerung – »Die machen den Markt kaputt« – oder den nüchternen Befund, das sei komplett unrealistisch, »eine Großkotz-Nummer«, »dicke E...«; der Film werde gerade mal 20.000 Zuschauer bekommen.
»Irgendwann wird denen der Stecker gezogen, es dauert nicht mehr lang.«
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Das passt aber ins Bild der absurden Preise in manchen Restaurants in Cannes. Im »Californie« werden zum Beispiel für einen Thunfischsalat 32 € aufgerufen, für einen Hamburger 40 €.
Auch sonst ist der Ort Cannes seit der Pandemie asozial geworden: Die Kneipen schließen fast alle um Mitternacht, zu essen gibt es schon früher nichts. Die schönen Zeiten bis halb zwei im »Le Crillon« gehören einstweilen der Vergangenheit an.
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Die zweitschlechteste Wertung im »Screen« hat Jessica Hausners zumindest von mir sehr optimistisch erwarteter Film Club Zero.
Jessica Hausners Film wird aus dem Abstand ein bisschen besser. In einer ersten Reaktion habe ich im Podcast den Film im Großen und Ganzen verrissen. Das würde ich heute schon etwas differenzierter beurteilen. Es bleibt zwar dabei, dass..... trotzdem erscheint es mir ganz klar, dass dieser Film einen der wichtigen Preise gewinnen wird.
Grundsätzlich handelt es sich um eine Satire über unser aller Essverhalten. Über unsere Obsession mit Ernährung und Gesundheit und mit unserer Selbstoptimierung. Über unsere Obsession mit der Rettung der Welt – als ob die sich nicht selbst retten könnte und müsste.
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Es beginnt mit einem typischen Jessica-Hausner-Blick: Der Blick von links oben, ein Raum ist genau choreographiert, dann zoomt die Kamera langsam heran – und mir geht es seit dem Godard-Dokumentarfilm so, dass ich bei jedem Zoom, den ich sehe, an Godards Bemerkung denke: Zoom ist Fernsehen. Beim Kino muss man die Einstellung vorher wählen. Das ist in seiner Absolutheit natürlich vollkommen dogmatisch, aber es gibt schon eine ganz gute Richtung vor.
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Eine englische Boarding School bekommt eine neue Lehrerin, die für Ernährungsunterricht zuständig ist, und »Conscious eating« bzw. »Reduced consumerism« propagiert. Diese Lehrerin soll einerseits irgendwie charismatisch sein, zugleich aber bewusst spießig und asketisch wirken. So langweilig und unsexy sah Mia Wasikowska noch nie aus.
Sechs Schüler werden ihre gläubigen Anhänger, und entwickeln sich zu »Fressnazis« und Überzeugungsrobotern mit monotonem, immer gleichen Blick.
Alles geht hier über Körper: Schüler praktizieren Ballett, Trampolin, tragen Luxusklamotten, kotzen nach dem Essen. Bücher lesen sie nie.
Die Lehrerin veteidigt das: »It shows prejudice when you question their truth.« Der Film thematisiert die Arroganz der Kinder. Und man muss hier auch an die Arroganz realer Weltretter, ob bei den »Fridays for Future«, den Corona-Gehorsamen, den Russlandkritikern denken.
Die Lehrerin heißt übrigens auch Nowak und sie ähnelt der Figur aus dem Film Das Lehrerzimmer mit dem gleichen Namen auch sonst: Es ist ebenfalls eine junge Frau, mit einer sehr ähnlichen Frisur und einem ähnlich fehlgeleiteten Idealismus, einer übertriebenen Überzeugung, die ziemlich nah am Fanatismus dran ist. Irgendwann isst ein Mädchen dann ihr eigenes zuvor Ausgekotztes.
Alles erinnert auch an eine Sekte: »Try to become the person you really are«
Wichtig ist die Form, das Set- und Kostümdesign: Man trägt Polohemden von Ralph Lauren und anderen Designer-Marken, die Pastellfarben sind Olivgrün, zitronengelb, hellbraun. Der Spielstil der Darsteller ist flach und antidramatisch, stilisiert.
Musik und Sprache wirken vor allem affektiert.
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Das alles reicht für einen Kurzfilm, aber nicht mehr. Es passiert nach der Exposition kaum etwas. Wir erleben eine vom Thema Essen besessene Gesellschaft, die ihre Mitglieder mit Überwachung und sozialem Druck normiert.
Club Zero ist okay, aber nicht wahnsinnig gut. Er formuliert zum Teil eine tolle Kritik an gesellschaftlichen Tendenzen, aber stilistisch schwach. Vor allem leidet Club Zero genau an dem, was er vermeintlich kritisiert: Unter dem Hang zur Reduktion, zum Verzicht, zum Kontrollieren. Das nicht-loslassen-können. Etwas grundsätzlich Zurückgenommenes durchzieht diesen irgendwie ein bisschen zusammengepressten Film. Ein Beispiel für
jenes Kino, in dem ganz viele Latenzen auf die Leinwand gebracht werden, sich aber diese Latenzen zu wenig ausleben oder gar ausbrechen.
In diesem Sinn ist Club Zero Zeitgeist pur.
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Auch wenn mal gekotzt wird, ist das bei Hausner immer erstaunlich sauber. Wo bleibt das Schmutzige? Die Entgrenzung?
In vieler Hinsicht ähneln auch andere Cannes-Filme der Grundhaltung aus Club Zero. Nämlich der Haltung zu verdichten, zu reduzieren, zu sparen, etwas zurückzunehmen, etwas wegzulassen. Es gibt wenig Filme, in denen etwas hinzugefügt wird, in denen sich eins aufs andere türmt und in denen es ein Zuviel gibt, eine Überschreitung, eine
barocke Überladung. Es gibt immer nur eine asketische Unterladung und Zurücknahme. Viele Filme sind protestantisch darin, dass sie die Askese suchen, dass sie den Worten mehr Vertrauen als den Bildern, der Ruhe mehr als der Geschwindigkeit, den langen Einstellungen mehr als der Montage, dem Stillstand mehr als der Bewegung. Aber es heißt »movies«, weil es mal die sich bewegenden Bilder waren, die moving pictures.
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Genau das Gegenteil von Club Zero erlebte man in La Passsion de Dodin Bouffant von Tran An Hungh. Auf den ersten Blick handelt es sich um staatstragendes französisches Starkino mit Juliette Binoche und Benoit Magimel in den Hauptrollen.
Auf den zweiten Blick aber ist dies sehr viel mehr: Nämlich ein Film über die Kunst; über Geschmack; über die feinen Unterschiede; über Eleganz und Anmut; über alles das, was dem allermeisten Kino fehlt und vielleicht unserer Zeit überhaupt fehlt. Über den grassierenden Bewusstseins- und Kulturverlust. Aber der Reihe nach.
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Man sollte das Rührei mit dem Löffel essen, dann schmeckt es besser, sagt Magimels Dodin Bouffant.
Wir sehen Mörser, Kupferkessel, einen alten Herd aus Eisen mit Kohle, und dann die verschiedenen Metallringe, die man herausnehmen kann. Eine Art zu kochen, wie es sie heute nicht mehr gibt, auf die aber heute immer noch einige Küchenchefs schwören. Solche Küchen bekommt man heute nur noch extrem teuer.
So zu kochen ist, wie auf analogen Material Film machen. Wie 35mm-Vorführungen, Kino auf eine alte Art.
Der ganze Film versucht zu erklären, dass es darum geht, auf eine kontrollierte Art die Kontrolle zu verlieren, dass man Ruhe braucht beim Kochen und der Kunst; keine Hektik.
Geschmacksschulung, Geschmackstraining. Das ist Zivilisation.
Zivilisation ist das Gegenteil von zweckgerichtetem Essen. Es geht beim Essen nicht darum, ein besserer Mensch zu werden; es geht auch nicht um Gesundheit, auch nicht um Ernährung, sondern es geht um Genuss und Stil.
Dieser Film feiert die keineswegs zwecklose Zwecklosigkeit des Genusses. Eine Feier der Künste, eine Feier des Überflusses, eine Feier der Zwecklosigkeit, die natürlich aus Sicht dieser Menschen keineswegs zwecklos ist.
Das Geschirr ist ebenso wichtig. Es ist Teil des Kunstwerks: das Silberbesteck, die Kristallgläser. Später dann im Raum: die Blumen, die vielen Kerzenleuchter, vier mindestens, die nur für eine einzige Person angezündet werden, die hier isst. Und es ist eine Bedienstete. Dieser Film löst auch die Diskurse um Klassismus und Klassenverhältnisse für einen langen Film-Augenblick ins Nichts auf. Hier sprechen und verhalten sich zwei Menschen auf Augenhöhe und auch die beiden anderen Dienstmädchen Violette und Pauline sind Teil einer Familie, nichts anderes.
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Kriterien werden genannt: Opulenz und Genauigkeit, Klasse, Eleganz, Anmut.
Dieser Film ist in jeder Hinsicht das Gegenteil zum Film von Jessica Hausner. Es geht hier um Opulenz, um Überfluss, um das Zuviel, zugleich um die Lust am Experimentieren, um eine Kontrolle, die mit Kontrollverlust spielt, die die Bereitschaft zum Kontrollverlust miteinbaut. Eine Kunst, die zu tun hat mit dem Loslassen-können. Dieses Verhältnis zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ist das Entscheidende, hier kommt es auf den Moment an, auf das berühmte »Bauchgefühl«, die Intuition.
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Cannes ist ein extrem reiches, vielfältiges Festival. Der Markt geht heute am Mittwochabend zu Ende. Er hat die sagenhafte Zahl von 13.500 Akkreditierten versammelt. Die Bilder, an die man sich aus den schönen Tagen vor Corona erinnert, kommen zurück, die Massen der Filmhändler sind zurück, der Käufer und Verkäufer aus der ganzen Welt.
In Cannes zeigen sich alle Facetten des Kinos. Natürlich ist dies ein Tempel der »siebten Kunst«, ein Gipfel des Glamour mit den Stars aus
Hollywood, es ist das ökonomische Herz der weltweiten Filmindustrie. Aber dies ist auch ein Ort der Kennerschaft, der Reflexion, der Eleganz und der Anmut; des geistigen Austauschs, des produktiven Streits der Experten. Cannes ist eine sinnliche Erfahrung und es ist ein intellektueller Ort!