01.12.2022

Von traurigen Tigern und Smaragdkleidern

Tigres
Queeres Driften in São Paulo: Três Tigres Tristes
(Foto: LAFITA)

Mit Brasilien im Fokus und Filmen mit Frauen vor und hinter der Kamera bietet LAFITA auch 2022 wieder ein formal und inhaltlich vielfältiges Programm.

Von Wolfgang Lasinger

Das Maskott­chen von LAFITA (den Latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtagen München), das ist der Gecko aus der Familie der Schup­pen­kriech­tiere, ein dämme­rungs- und nacht­ak­tives Tier. Selbst wenn der Gecko oft lange reglos scheint, so erweist er sich am Ende doch als quick­le­bendig. Nichts könnte besser auf das Kino­pu­blikum passen, das zunächst gebannt auf die Leinwand blickt, um dann um so leiden­schaft­li­cher am Film­ge­spräch teil­zu­nehmen. Das dicht gepackte Programm von LAFITA lädt ganz in diesem Sinne mit vielen Gästen zum Kino­be­such und zu Diskus­sion und zu Austausch vor Ort ein.

Schwer­punkt Brasilien

In der dies­jäh­rigen Ausgabe hat sich im Programm ein Länder­schwer­punkt Brasilien heraus­ge­schält, eines der Länder, das in der letzten Zeit aufgrund der Politik natürlich besonders im Fokus stand. Das spiegelt sich auch in den vier brasi­lia­ni­schen Filmen der LAFITA 2022: etwa in der brisanten doku­men­ta­ri­schen Reportage über die Geschichte der Staats­streiche in Brasilien und die Verwick­lung und Kolla­bo­ra­tion der Medien, insbe­son­dere von The Coup d’État Factory (A Fantástica Fábrica de Golpes, 2021, von Víctor Fraga und Valnei Nunes, 01.12. 18:00, Werk­statt­kino, in Anwe­sen­heit von Víctor Fraga).

Als nicht minder politisch erweist sich Ales Pritz' The Territory (2022): Der Doku­men­tar­film handelt von dem indigenen Volk der Uru-eu-wau-wau im Amazonas-Regenwald, das sich in exis­ten­ti­eller Bedrängnis gegen die Besied­lungs- und Abhol­zungs­po­litik Brasi­liens zur Wehr setzt. Als die Pandemie die Dreh­ar­beiten zusätz­lich erschwert und den direkten Kontakt zu den Uru-eu-wau-wau unter­bindet, überlässt der Regisseur diesen die Kamera, damit sie in Eigen­regie weiter­filmen: daraus ist ein einzig­ar­tiges und eindrucks­volles Porträt einer bedrohten Kultur im Wider­stand geworden.

In Anita Rocha da Silveiras Spielfilm Medusa (2021) geht es in provo­zie­render Über­spit­zung um die Umtriebe anti­fe­mi­nis­ti­scher Frauen, die einer evan­ge­likal-funda­men­ta­lis­ti­schen Sekte angehören. Einer rigid-repres­siven Sexu­al­moral folgend, machen sie Jagd auf andere Frauen, die ihrer Ansicht nach der Sünde verfallen sind. Dieser wilde Mix aus Satire und Kritik nimmt stilis­ti­sche Anleihen beim italie­ni­schen Giallo-Genre und bietet so eine über­bor­dend-karne­val­eske Mani­fes­ta­tion gegen die Unter­drü­ckung durch das Patri­ar­chat.
(Ausführ­liche Kritik)

Gustavo Vinagre wiederum begleitet in Três Tigres Tristes (2022) drei junge Leute beim queeren Driften durch die pulsie­rende Metropole São Paulo und lotet dabei einen prekären Zustand zwischen Pandemie und der »Goldenen Phase« aus, die ein tota­li­täres Regime in dieser Dystopie seinen Unter­tanen verspricht. Halb­do­ku­men­ta­risch und doch gleichsam hallu­zi­nie­rend löst dieser Film die herkömm­li­chen binären Kate­go­rien bereit­willig auf, um der bedrü­ckenden Gegenwart mit der Kraft der Imagi­na­tion zu begegnen. Im Vorpro­gramm dazu findet sich der von den drei in Berlin lebenden brasi­lia­ni­schen Filme­ma­chern Eduardo Mamede, Paulo Menezes und Leandro Goddinho auf dem Handy gedrehte Kurzfilm Nicht die brasi­lia­ni­schen Homo­se­xu­ellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie leben (2022), in dem frei nach Rosa von Praun­heims Under­ground­klas­siker zwei queere Brasi­lianer an einem Berliner See im Sommer abhängen, ein Film, der beim Filmfest Dresden den Preis des Verbands der deutschen Film­kritik bekam.

Das um diesen Brasi­li­en­schwer­punkt herum­grup­pierte Programm umfasst Kurz­film­blöcke, Spiel­filme, Doku­men­ta­tionen und poetisch-essay­is­ti­sche Formen, die allesamt poli­ti­sche und soziale Aspekte des aktuellen Latein­ame­rika beleuchten und bei der ästhe­ti­schen Gestal­tung jeweils eigene Wege gehen.

Die Kurzfilme des Eröff­nungs­abends am vergan­genen Dienstag etwa zeigten unter dem Titel »Puls­schläge« (Latidos) formal spannende Grenz­gänge zwischen den Künsten: Musik, Perfor­mance und Doku­men­ta­tion finden kreativ zuein­ander.

Haupt­at­trak­tion war dabei der knapp 40-minütige Terminal norte von der argen­ti­ni­schen Meis­ter­re­gis­seurin Lucrecia Martel. Sie erkundet in ihrer Heimat­pro­vinz Salta eine subkul­tu­relle Szene von Musiker*innen, Sänger*innen und Tänzer*innen, die sich in ihrem Umgang mit tradi­tio­nellen und populären Stilen am Rande des Gewohnten befinden und damit nicht nur künst­le­risch, sondern auch sozial margi­na­li­siert sind. Martel liefert eine spannende sozio­gra­phi­sche Studie mit der Sängerin Julieta Laso im Mittel­punkt. Die beiden anderen Filme stammten von kolum­bia­ni­schen Künstler*innen, die in Deutsch­land arbeiten. Manuela Illera von der Kunst­aka­demie München stellte mit »Animal Ventus« persön­lich einen 30-minütigen Film vor, der im Grenz­be­reich zwischen Tanz-Perfor­mance und filmi­scher Instal­la­tion kultu­relle Identität visuell veran­schau­licht. Der teilweise in Berlin ansässige Christian Diaz Orejarena unternahm in »Fronteras visibles« eine 16-minütige musi­ka­lisch-akustisch-filmische Explo­ra­tion in der kolum­bia­ni­schen Karibik.

Auch die drei längeren Kurzfilme (Long Shorts) des Blocks »Kuba im Wandel / Cuba transmuta« sind formal viel­fältig zwischen Doku­men­ta­tion und poeti­schem Filmessay ange­sie­delt, um Aspekte der kuba­ni­schen Identität zwischen kolo­nialer Vergan­gen­heit und sozia­lis­ti­schem Erbe zu erkunden.

Frauen vor und hinter der Kamera

Ein roter Faden, der sich durch die übrigen Filme zieht, ist ein spezi­fisch weib­li­cher Stand­punkt, sowohl vor als auch hinter der Kamera.

Besonders hervor­zu­heben ist der Doku­men­tar­film Lo que queda en el camino (2021, von Jakob Krese und Danilo Do Carmo), der eine ganz konkrete Vorstel­lung vom Alltag der Migration bietet: die Kamera begleitet Lilian und ihre vier Kinder auf dem über 4000 Kilometer langen Weg von Guatemala durch Mexiko zur US-ameri­ka­ni­schen Grenze. Sie sind zu Fuß, mit Lkw, Bus oder Zug unterwegs, Teil eines endlosen Stroms von Menschen. Was sonst mit dem bloßen Wort Migration allen­falls ange­rissen wird, ist hier in dieser unge­wöhn­lich nahe­ge­henden Doku­men­ta­tion physische Wirk­lich­keit von Strecke und Dauer, Erschöp­fung und Resi­gna­tion, Empathie und Hoffnung. Der Grund, Guatemala zu verlassen, sind hier Miss­brauch und häusliche Gewalt durch den Ehemann: es beginnt ein unvor­stell­barer Marsch in die Eman­zi­pa­tion.

Drei hoch­karä­tige Spiel­filme von Regis­seu­rinnen sind weitere High­lights: aus Uruguay kommt das lako­ni­sche Coming-of-age-Drama »Los Tiburones« (2020, von Lucía Garibaldi) um die Teen­agerin Rosina.

Natalia López Gallardo liefert mit »Robe of Gems« (2022, mit dem Silbernen Bären / Preis der Jury auf der Berlinale 2022 ausge­zeichnet) aus Mexiko einen visuell nach­drück­li­chen Film über die Gewalt, die von den Drogen­kar­tellen ausgeht und mit der sie bekämpft wird und die bis in die privaten Verhält­nisse einsi­ckert. In drei Erzähl­strängen mit jeweils einer Frau im Zentrum wird das beklem­mend-vers­tö­rende Bild einer Gesell­schaft im Zustande der Zerset­zung gezeigt. Besonders zu nennen neben der visuellen Kraft das intensive Sound­de­sign unter Mitwir­kung des Tonmeis­ters Guido Berenblum, der in den Filmen von Lucrecia Martel für akustisch-sinnliche Sound­at­mo­sphäre sorgte. Die Regis­seurin wiederum war als Schau­spie­lerin und als Editorin unter anderem bei Carlos Reygadas beteiligt.

Auch die Chilenin Manuela Martelli war als Schau­spie­lerin aktiv, bevor sie nun mit »1976« (2022) ihren ersten Film präsen­tiert. Sie führt in das Jahr 1976 zurück, unter die ersten Jahre der Pinochet-Diktatur: die 50-jährige Carmen (Aline Kuppen­heim), als Arzt­gattin ein wohl­behü­tetes bürger­li­ches Leben führend, gerät in Kontakt zum im Unter­grund operie­renden Wider­stand. Für die in den Konven­tionen des Bürger­tums gefangene Frau beginnt eine Phase der Eman­zi­pa­tion aus dem Alltag, aber auch der Zweifel und der Angst. Dieser klassisch und konzen­triert erzählte Film erinnert immer wieder an die Art, in der Carlos Saura das spanische Bürgertum im Fran­qu­ismus sezierte, vermag aber zusätz­lich die beklem­mende Spannung eines Polit- und Psycho­thril­lers zu entwi­ckeln.

Die Markt­frauen von La Paz

Neben diesen Frau­en­schick­salen gilt es aber noch die Markt­frauen von La Paz zu erwähnen, die im boli­via­ni­schen El Gran Movi­mi­ento (2021) von Kiro Russo einen groß­ar­tigen Auftritt haben. Aus Bolivien bekommt man sehr selten Filme zu sehen: darum sollte man sich diese Gele­gen­heit nicht entgehen lassen. Auf aufre­gende Weise verbindet El Gran Movi­mi­ento doku­men­ta­ri­sche, expe­ri­men­telle und fiktio­nale Elemente mitein­ander und vermit­telt einen ungeheuer inten­siven Eindruck einer der größten Städte Boliviens. Drei junge Berg­werks­ar­beiter kommen aus Anlass von Protesten gegen Minen­schließungen in die Stadt und bleiben hier als Gele­gen­heits­ar­beiter hängen. Sie tauchen ein in die dichte Atmo­sphäre der steilen Gassen, Märkte und Seil­bahnen und werden doch von den Geistern der harten Arbeit unter Tage verfolgt.

LAFITA – Latein­ame­ri­ka­ni­sche Filmtage München
29.11.–04.12.2022

Luise (Eröffnung), Werk­statt­kino, HP8 Gasteig
Eintritt: 7 Euro