Medusa

Brasilien 2021 · 128 min. · FSK: ab 16
Regie: Anita Rocha da Silveira
Drehbuch:
Kamera: João Atala
Darsteller: Mari Oliveira, Lara Tremouroux, Joana Medeiros, Felipe Frazão, Thiago Fragoso u.a.
Terror in der Nacht
(Foto: Drop-Out Cinema)

Ins Dunkel schreien

Anita Rocha da Silveira interpretiert den Mythos der Medusa als aufregende, formverspielte Parabel über den Widerstand gegen reaktionäre Gesellschaftsmuster

Man muss mit dem verdrehten Körper beginnen. Nicht nur, weil er direkt am Beginn dieses Films erscheint: kopf­ste­hend, bunt beleuchtet, sich windend, eine Brücke formend, umher­kra­xelnd wie eine mensch­liche Spinne. In ihm ist bereits die ganze Magie von Medusa, der ganze Einfalls­reichtum erkennbar, mit dem die brasi­lia­ni­sche Regis­seurin Anita Rocha da Silveira von Sünde und Lust, Unter­drü­ckung und Eman­zi­pa­tion erzählt.

Man denkt bei diesen ersten Einstel­lungen gleich an die besessene Regan aus William Friedkins Horror­klas­siker The Exorcist. Von Beses­sen­heit erzählt Medusa in der Tat: Das Triebhaft-Natür­liche, Unkon­trol­lier­bare, das Es gilt es auszu­treiben, gerade aus dem weib­li­chen Körper, in dem man den Teufel wähnt. Und ebenso verhält es sich mit toxischem Konser­va­tismus, Sexismus, repres­siven sozio­kul­tu­rellen Struk­turen, die dieser Film aus dem Innersten ans Tages­licht zu zerren und zu bannen versucht.

Das Brasilien, das die Regis­seurin porträ­tiert, richtet sich ein in reli­giösem Wahn, patri­ar­chaler Macht, Aber­glaube, über­holten Vorstel­lungen, die mit aller Gewalt durch­ge­setzt werden. Säku­la­rität erklärt man den Kampf. Eine Sekte verein­nahmt das soziale Mitein­ander. Wo der Staat versagt, Menschen im Stich gelassen, das Land in den Ruin gespart hat, da rumort es im brenz­ligen Nährboden für alles Irra­tio­nale, das führt Medusa scharf­sinnig vor. Man lebt einen neuen alten Funda­men­ta­lismus, der diktiert und (aus)sortiert. Zu bequem sind die Gefühle von Ordnung und Sicher­heit und die Angst vor Kontroll­ver­lust, um an Revo­lu­tion zu denken. Grausige Legenden – die titel­ge­bende Gorgonin lauert im Hinter­grund – tun ihr Übriges, um das toxische Weltbild zu festigen.

Aber was, wenn dessen Reprä­sen­tanten nun gar nicht als grimmige Folter­knechte, Quäl­geister und kühle Anführer auftreten, die man aus ähnlichen dysto­pi­schen Entwürfen kennt? Es gibt da die stereotyp faschis­to­iden Männer­horden zu sehen, die ihre Muskeln zur Schau stellen, sich als Hüter von Familie und Moral wähnen, ja. Aber auch eine trüge­ri­sche, bonbon­far­bene Jugend­welt. Puri­ta­ni­sche Züch­ti­gungs­fan­ta­sien erscheinen im hippen Gewand. Junge Menschen haben Beauty-Tutorials parat, wie man Wunden über­schminkt, um die makellose Fassade zu wahren. Oder wie man das perfekte Selfie schießt: nur nicht von unten, dort ist die Hölle, auch nicht von oben, wir imitieren nicht Gott! Und als Waffe, mit der man auf Razzia geht, reicht das Smart­phone. Plötzlich ist die Zukunft dieser hinreißenden Groteske ganz nah.

Die Medusa und das Kino

Fata­lis­tisch gibt sich Medusa dennoch keines­wegs. Er hofft, demons­triert, stellt sich quer und legt dabei eine hemmungs­lose Film- und Kinoliebe an den Tag. Schließ­lich ist die Medusa in ihrer sagenhaft-mytho­lo­gi­schen Tradition eng mit dem Medium verknüpft. Siegfried Kracauer war es, der in seiner »Theorie des Films« die Leinwand als »Athenes blanken Schild« erkannte, das dem Helden Perseus erlaubte, das grau­en­er­re­gende Antlitz der Medusa anzusehen, um dieses vom Körper zu schlagen. Und um Blicke geht es hier: um das Wegsehen, entfernte Ereig­nisse auf der Straße, die man über Fern­gläser beob­achtet, und letztlich die Konfron­ta­tion mit der eigenen Furcht. Im über­bor­denden Formen­spiel windet sich Medusa aus einem System, das sich selbst in Stein verwan­delt hat.

Anita Rocha da Silveira insze­niert psyche­de­li­sche, mal verstö­rende, mal betörend schöne, kunter­bunt funkelnde Bilder, um das Bewusst­sein für auto­ri­täre, dikta­to­ri­sche Tendenzen zu schärfen, also, wie es Kracauer schrieb, Dinge vorzu­führen, die »zu furchtbar sind, als daß sie in der Realität wirklich gesehen werden könnten«. Gleich zu Beginn ist diese mediale Reflexion offen­ge­legt. Ein Entfernen von dem eingangs erwähnten verbo­genen Frau­en­körper genügt und schon sind wir aus dem Bild­schirm gesprungen – ein Film im Film – hinein in eine andere filmische Realität, wo als Antwort nachts ein Schlä­ge­rin­nen­trupp umher­streift, um Sünde­rinnen zu quälen. Mit Masken haben die Stra­fenden ihr Gesicht getilgt. Verneinte Indi­vi­dua­lität, die hinter ideo­lo­gi­scher Gemein­sam­keit verschwindet.

Gewiss hat dieser Film Schwächen in seiner Konstruk­tion. Es ist noch nicht einmal sonder­lich spannend, wie er hinterher seine Handlung entwi­ckelt, seine Prot­ago­nistin zweifeln und mit den eigenen Idealen ringen lässt. Inter­es­santer ist die grund­le­gende Anordnung. Teilhaben und Unrecht mitge­stalten oder einen eigenen Kopf entwi­ckeln und in Kauf nehmen, als Aussät­zige stig­ma­ti­siert zu werden – diesen Konflikt muss die Haupt­figur Mariana (Mari Oliveira) austragen. Sie ist Teil des anti­fe­mi­nis­ti­schen Straf­kom­mandos.

Im Kran­ken­zimmer der Klinik, wo Mariana nach einer folgen­schweren Verwun­dung zu arbeiten beginnt, liegen die Komatösen. Eine Gesell­schaft vegetiert vor sich hin. Angeblich soll dort auch eine ehemalige Bestrafte mit entstelltem Gesicht zu finden sein – eine Medu­sen­ge­stalt. Medusa: der Sage nach eine unschuldig Gepei­nigte, eine stig­ma­ti­sierte Angst­figur, ein rächendes Opfer. Nun beginnt man, ihre Tragik zu entdecken. Der Film ist voll­ge­packt mit solchen Sinn­bil­dern, bedeu­tungs­schweren Arran­ge­ments. Manchmal allzu selbst­er­klä­rend und wuselig in seiner Über­lap­pung, teils stockend in der Drama­turgie. Nichts­des­to­trotz ist der schlep­pende Mittel­teil zu verschmerzen bei so viel gestal­te­ri­scher Viel­sei­tig­keit.

Erschre­ckendes Erschre­cken

Medusa ist so oder so unkon­ven­tio­nelles Kino, das einem nicht alle Tage begegnet. Wie ein fiebriger Traum dringt es durch das Unbe­wusste zum Ratio­nalen durch. Es weiß glei­cher­maßen mit Verbalem und Nonver­balem, Tanz, Masken, Leibern, verengten Vignetten, nahen Gesich­tern und surrealen Raum­er­kun­dungen zu spielen, gerahmt von expres­siven Licht- und Schat­ten­würfen. Neon­leuchten schimmern auratisch wie künstlich und kühl. Das Wunder­same, in dem man sich hier heimisch fühlt, ist nicht mehr als schräge Insze­nie­rung.

Irgend­wann brechen Hilf­lo­sig­keit und Über­for­de­rung lautlich aus Körpern heraus, die sich selbst in die Aufleh­nung und damit das gesell­schaft­liche Aus stürzen. Alle werden sie Medusen, Gebrand­markte, eins mit ihren verdrängten Tatsachen und Kehr­seiten, die sie wagemutig an sich reißen. Risse tun sich im System auf. Erschre­ckendes führt der Film vor und gelangt konse­quent zu Erschreckten. Mit irri­tie­render wie ermäch­ti­gender Geste beschwört da Silveira diese schre­cken­säs­the­ti­sche Dopplung, wie sie auch der Lite­ra­tur­kri­tiker Karl Heinz Bohrer einst für die berühmte Medusen-Darstel­lung Cara­vag­gios beschrieben hatte.

Offene Münder, Schreie aus den Kehlen und flat­ternde Haare gibt es zu sehen. Viel­leicht verwan­deln sie sich gleich in kräu­selndes Schlan­gen­ge­zisch. Bis dahin zerfließen Grenzen zwischen gellendem Angst- und Hilfe­schrei und rebel­li­schem Weckruf. Ein schriller Ton auf der Suche nach Resonanz und neuer Soli­da­rität. Lauter, immer lauter müssen sie schreien. Wie Sirenen heult es durch die Nacht. Zeit zum Aufwachen.