08.09.2022

»Wir haben einen Paradigmenwechsel«

Triangle of Sadness
Lichtblick für den Kino-Herbst: der Cannes-Gewinner Triangle of Sadness
(Foto: Alamode)

Der Münchner Kinobetreiber Thomas Kuchenreuther zum dringend gebotenen Wandel in der Kinobranche, der von vielen Faktoren verhindert wird

Von Thomas Kuchenreuther

Das Wort »Kino«, »le cinéma«, hat eine viel­fäl­tige Bedeutung bekommen. Es wird nicht nur für den Kinoraum benutzt, es wird in einem viel weiteren und größeren Sinn verwendet.

»L’amour du cinéma m’a permis de trouver une place dans l’existence«, sagt Bertrand Tavernier 2019 im Gespräch mit Thierry Frémaux, Leiter der Film­fest­spiele von Cannes. »Die Liebe zum Film hat mir geholfen, einen Platz im Leben zu finden.«

Den »Dialogen« zwischen der fran­zöi­schen Autorin und Filme­ma­cherin Margue­rite Duras und Jean-Luc Godard entnehme ich folgende Anekdote:

Margue­rite Duras: »Kennst du die Geschichte von der alten Frau aus dem Umland von Rom? Eine alte Bäuerin aus einem Dorf. Sie sieht eine ganze Crew mit Projek­toren, Kame­ra­wagen, Leitern, Lastwagen, Kränen. Sie spricht einen Typen an und fragt ihn: 'Aber was macht ihr denn da?' Und der Typ sagt ihr: 'Wir machen Kino!' Da sagt sie zu ihnen: 'Oh, là, là! Ich kenn doch meine Pappen­heimer: Um diese Zeit wird keiner kommen!' Nun, das ist in der Tat schon Kino. Ich liebe diese Geschichte. Kanntest du sie nicht?«

Meine Kinos waren während der Pandemie elfein­halb Monate geschlossen. Als wir letzten Juli wieder mit dem Spiel­be­trieb ange­fangen haben, war ich zunächst sehr froh. Denn es gab geballt viele gute Filme, wie ich es in all den Jahren vorher nicht oft erlebt habe. Das ist auch dieses Jahr so. Aber: Die Leute kommen nur zögerlich zurück, dadurch laufen die Filme unter ihrem Wert. Ihrem künst­le­ri­schen, wie am Ende auch ihrem ökono­mi­schen.

Das ist natürlich eine Folge der Pandemie und der Sehnsucht nach Gesel­lig­keit im Freien. Hinzu­kommen Ereig­nisse wie der schreck­liche Angriffs­krieg auf die Ukraine und Sport­er­eig­nisse, die die Leute vor den Fernseher bannen. Selbst im Bemerken des Klima­wan­dels wird von dem Angebot, bei großer Hitze ins kühle Kino zu gehen, leider wenig Gebrauch gemacht. All diese Faktoren führen dazu, dass wir unter dem Zuschau­er­ni­veau von 2019 sind.

Was also kann helfen? Einmal der Staat mit dem »Zukunfts­pro­gramm Kino«, das im Frühjahr noch einmal um 10 Millionen Euro aufge­stockt wurde. Wir konnten mit staat­li­cher Unter­s­tüt­zung viel moder­ni­sieren, die Technik und die Lüftungs­an­lagen verbes­sern, aber das wird nicht reichen, da werden nochmal neue Programme notwendig sein. Davon abgesehen gibt es aber noch ein paar andere Aspekte, die für die Zukunft der Kinos wichtig sind.

Wir haben einen Para­dig­men­wechsel. Die Gewohn­heiten haben sich während der Pandemie durch die Strea­ming­dienste verändert. Der Wunsch nach Origi­nal­fas­sungen ist viel stärker als früher. Dem würden wir gerne mehr nach­kommen, aber gerade die großen ameri­ka­ni­schen Verleiher verlangen, dass in einem Saal in allen Vorstel­lungen die deutsche Fassung und in einem weiteren die Origi­nal­fas­sung gezeigt wird, oder sie beliefern mit Origi­nal­fas­sungen nur einige Kinos. Richtig wäre, beide Fassungen in einem Saal spielen zu können. Dieses System reduziert das gesamte Film­an­gebot.

Noch ein Beispiel: Ich habe gute Erfahrung damit gemacht, Filme von Strea­ming­diensten im Kino zu spielen, auch wenn sie schon nach kurzer Zeit online verfügbar waren. The Tragedy of Macbeth und On the Rocks gingen gut. Aber Netflix zum Beispiel macht keine Werbung für seine Filme im Kino. Woher soll das Publikum wissen, dass es Die Hand Gottes, The Power of the Dog und The Grey Man auf der großen Leinwand sehen kann? Da ist Disney schon weiter, die bewerben auch Filme fürs Kino, die kurz nach dem Kinostart schon bei Disney+ zu sehen sind. Das ist ein Geschäft, das sich für Strea­ming­dienste und Kinos glei­cher­maßen lohnen kann, da bin ich mir sicher. Ein Beispiel dafür ist Nomadland.

Die nötige Werbung ist auch noch auf einem anderen Feld ein Problem, im Zusam­men­hang mit den Festivals und Film­preis­ver­lei­hungen. Das ist ein Beispiel, wo andere Länder viel besser aufge­stellt sind als Deutsch­land. Wenn ein toller Film in Cannes läuft, kommt er in Frank­reich fast zeit­gleich auch regulär ins Kino. Wenn ein Film auf der Berlinale läuft, kommt er oft erst Monate oder sogar Jahre später, wenn sich keiner mehr an die Bericht­erstat­tung erinnert. Dann verpufft der ganze Werbe-Effekt des Festivals. Die Medien berichten weniger über Filme, die ihre Leser nicht sehen können, und so sinkt und sinkt die Aufmerk­sam­keit, die ein Film braucht, damit die Leute ins Kino kommen.

Für das obsolete, veraltete Film­för­de­rungs­ge­setz von 1976, das den verän­derten jetzigen Gege­ben­heiten überhaupt nicht mehr entspricht, müsste ein neues Film­för­der­pro­gramm geschaffen werden.

Die Liebe und Begeis­te­rung der Franzosen für ihre Stars und Film­re­gis­seur*innen kann man nur bewundern. Uns fehlen in Deutsch­land auch solche Insti­tu­tionen wie La Ciné­ma­thèque Française in Paris, das Institut Lumière in Lyon, das BFI British Film Institut, und das Lincoln Center for the Performing Arts in New York. Unsere deutschen Film­mu­seen haben viel zu wenig Mittel, um eine größere Wirkung zu erreichen.

Noch eine Sache, bei der uns andere Länder voraus sind: Wieder­auf­füh­rungen. In Frank­reich ist es seit Jahr­zehnten üblich, dass Klassiker nochmal in restau­rierter Fassung ins Kino kommen. Bei uns kommt das leider erst allmäh­lich in Gang. Die Wieder­auf­füh­rungen von Der Pate und Der große Diktator liefen sehr gut. »Man muss wieder bei Charlie Chaplin und Griffith anfangen«, wie Fritz Lang in Godards Die Verach­tung sagt.

Für den Herbst haben die Medien-Analysten einen großen Kino­auf­schwung prognos­ti­ziert. Es kommen groß­ar­tige Filme ins Kino, wie White Noise mit Adam Driver, Ticket to Paradise mit George Clooney und Julia Roberts, der Cannes-Gewinner Triangle of Sadness von Ruben Östlund mit Iris Berben und Sunnyi Melles und schliess­lich noch Avatar 2 – The Way of Water von James Cameron, der schon einmal eine Kino-Revo­lu­tion entfachte.

Es sind große Entde­ckungen im Kino zu machen!

Literatur:

Margue­rite Duras, Jean-Luc Godard, Dialoge. Spector Books 2020

Thomas Kuchen­reu­ther, Kino­be­treiber in München. Die Kuchen­reu­ther-Kinos gehen zurück bis in die Stumm­film­zeit. Bereits Vater Kuchen­reu­ther betrieb in Erlangen die Lamm-Licht­spiele. 1965 gründete Kuchen­reu­ther mit seinem 2013 verstor­benen Bruder Steffen die Leopold Kinos, zwei Jahre später über­nahmen sie das Kino ABC, das heute eines der ältesten Kinos Münchens ist. 1971 richteten die Kuchen­reu­thers das mitt­ler­weile geschlos­sene Eldorado im Stil der Kinos von Cannes ein. 1972 kam das Cinema Olym­pia­dorf dazu, 1978 die Kinos Odyssee und Fantasia, 1995 die Kinos Münchener Freiheit. Von seinen vielen Häusern bleiben Thomas Kuchen­reu­ther heute noch die ersten seiner Münchner Kinos, das Leopold und das ABC, beide im Herzen Schwa­bings.