25.08.2022

Zurück zur Jugend und zum Autorenkino

Auf geht's in die See
Human Flowers of Flesh von Helene Wittmann setzt sich erst im Kopf des Betrachters zusammen
(Foto: Shellac / Helene Wittmann)

Mit seinen diesjährigen Preisen knüpft das Filmfestival von Locarno an seine Ursprünge an

Von Rüdiger Suchsland

Eine junge Frau, Ende 20. Tagsüber trägt sie Busi­ness­klei­dung und Blazer, wirkt kühl und sehr rational, wenn sie ihren Klien­tinnen Rat gibt. Sie ist Juristin und engagiert sich für die Rechte junger Frauen, die zum Opfer wurden. Im Dunkel der Nacht taucht sie selbst sehr bewusst in eine Gegenwelt aus Gewalt und Gefahr ein, indem sie in Internet-Chats dem Irra­tio­nalen begegnet und verschie­dene Facetten ihres eigenen Begehrens auslotet.
Regel 34 von der brasi­lia­ni­schen Regis­seurin Júlia Murat ist ein auch formal span­nender Film, der am Samstag den Goldenen Leoparden von Locarno gewann. Ein verdienter Preis­träger und ein sehr schöner und sympa­thi­scher überdies: Ein Film, der die Wahl­frei­heit feiert, das offene Ausleben von Wünschen. Zugleich begreift er Iden­ti­täten ganz anders, als es die heute modische »Iden­ti­täts­po­litik« tut – nämlich nicht als etwas Kollek­tives, nicht als ein Stam­mes­be­wusst­sein, sei es auch der Stamm der Fort­schritt­li­chen. Sondern als etwas jeweils Indi­vi­du­elles und Persön­li­ches: Jeder Einzelne hat eine andere Identität und sehr oft sind die einzelnen Bestand­teile davon heterogen, wider­sprüch­lich, entge­gen­ge­setzt.

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Mit dieser Hinwen­dung zur Jugend kehrte das Festival von Locarno zu seinen Ursprüngen zurück. An die knüpfte auch die Preis­trä­gerin an: Zum 75. Jubiläum wurde der 89-jährige grie­chisch-fran­zö­si­sche Autoren­filmer Costa-Gavras (Z, Der unsicht­bare Aufstand) geehrt, man zeigte seine zwei ersten Filme – aus heutiger Sicht atem­be­rau­bend souverän erzählte Werke – und würdigte damit auch das europäi­sche Erzähl­kino. Júlia Murat bezog sich in ihrer Dankes­rede direkt auf Costa-Gavras und auf sein politisch enga­giertes Filme­ma­chen, schlug damit die Brücke zurück zur Tradition und öffnete den Kreis zugleich in die Zukunft. Eine kluge Entschei­dung.

Gleich drei Preise im Haupt­wett­be­werb gingen an den Beitrag Tengo sueños eléc­tricos, übersetzt: »Ich habe elek­tri­sche Träume« aus Costa Rica.
Die ganze Preis­ver­gabe setzte damit zugleich mehrere Signale: Zum einen ist ganz klar erkennbar, dass für die Jurys der beiden Wett­be­werbe latein­ame­ri­ka­ni­sche Filme das Kino der Stunde reprä­sen­tieren. Und Filme aus Osteuropa, die im zweiten Wett­be­werb die meisten Preise gewannen.
Zweitens sind die Preis­träger durchweg sehr junge Filme­ma­cher. Damit kehrt Locarno zurück zu seinen Ursprüngen: Seit seiner Gründung vor 75 Jahren war Locarno die längste Zeit seines Bestehens ein Film­fes­tival, das den Nachwuchs des Autoren­kinos entdeckte. Hier gewannen Filme­ma­cher wie John Fran­ken­heimer, Milos Forman, Marco Belloc­chio und Claude Chabrol sehr früh ihre ersten wichtigen Preise. Locarno wurde zur Start­rampe ihrer Welt­kar­riere. Erst im letzten Jahrzehnt brach man am Lago Maggiore öfters mit dieser Tradition: Plötzlich gewannen Filme­ma­cher, die über 50 oder in zwei Fällen sogar über 60 Jahre alt waren und bereits mehr als ein Dutzend Filme gedreht hatten. Sie konnte Locarno mit seinen Preisen gar nichts entdecken, selbst wenn es das gewollt hätte. Damit aber wurde das Festival plötzlich zum Austrags­stü­berl für Altmeister, die es nicht nach Venedig oder San Sebastian geschafft hatten. In diesem Jahr wendete sich das Blatt wieder ganz deutlich: Locarno entdeckte junge unbe­kannte Namen, die kein Film­kri­tiker und nur die wenigsten Einkäufer vorher auf dem Schirm hatten.
Auch deswegen ging Alexander Sokurow leer aus. Der bekannte russische Filme­ma­cher und Putin-Kritiker drehte mit Märchen einen Anti­pro­pa­gan­da­film: Eine Fanta­sy­ge­schichte, in der in einer von den Bildern Piranesis inspi­rierten Vorhölle Dikta­toren wie Hitler, Stalin und Mussolini aufein­an­der­treffen und in Dialog treten. Es sind bizarre Bilder, die dadurch entstehen, dass doku­men­ta­ri­sches Archiv­ma­te­rial durch Software animiert wird. Ein irgendwie aus der Zeit gefal­lenes Uralt­meister-Kunstkino.

Die dritte deutliche Tendenz: die Preise sind Preise für die Kunst und für das Autoren­kino. Es sind keine Preise nur für poli­ti­sche Moral, den richtigen Stand­punkt oder ein soge­nanntes »rele­vantes« oder »wichtiges« Thema ohne eine außer­ge­wöhn­liche Form.

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Der deutsche Film zeigte sich in Locarno durchaus stark, blieb aber doch innerhalb sehr klar defi­nier­barer Grenzen. Am span­nendsten waren dabei die unge­deckten Wechsel auf die Zukunft. Die Münch­nerin Mariko Minoguchi, der mit Mein Ende. Dein Anfang 2019 ein hinreißendes Debüt gelungen war, war eine der Einge­la­denen der exklu­siven »Alliance 4 Deve­lo­p­ment«, einer Initia­tive zur gemein­samen Entwick­lung von Film­pro­jekten aus Deutsch­land, Frank­reich, Italien, Öster­reich und der Schweiz, die von »Locarno Pro« veran­staltet wird.

Die genre­af­fine Regis­seurin erzählt in ihrem neuen Projekt Element (Arbeits­titel) von einer Welt zwischen Horror und Future-Mystery, in der das Wasser ein Eigen­leben entwi­ckelt und ein Team von Wissen­schaft­lern versucht, es zu verstehen...

Minoguchi, die auch das Drehbuch zu Tim Fehlbaums Tides mitver­fasst hat, will einen deutschen Science-Fiction-Film entwi­ckeln, der »keine großen Emotionen oder Bilder scheut«, so die Regis­seurin, »der zum Nach­denken und Reflek­tieren anregt und vor allem ein bewe­gendes und beein­dru­ckendes Kino­er­lebnis ist.«

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Beides kann der deutsche Film gebrau­chen.

Die deutschen Wett­be­werbs­bei­träge in Locarno waren im einen Fall gut, aber nicht über­ra­gend, im anderen schlicht und einfach nicht ausge­reift: Helena Wittmann bot mit ihrem neuen Film Human Flowers of Flesh (nach Drift) aufre­gende Bilder, die sich aber erst im Kopf des Zuschauers zu einem Zusam­men­hang fügten: Eine Gruppe junger Leute bewegt sich auf den Spuren der fran­zö­si­schen Frem­den­le­gion.
Ein span­nender Film, aber auch eine bewusste Heraus­for­de­rung und Zumutung für manche, der erkennbar nicht alle Kollegen gewachsen waren: Bereits in der Pres­se­vor­vor­füh­rung leerte sich der Saal wie bei keinem anderen Film.
Demge­genüber war Piaffe von Ann Oren einfach nur ein hoch­ar­ti­fi­zi­eller Unsinn über eine Frau, die sich in ein Pferd verwan­delt. Beide Filme waren auf der einen Seite zu sperrig für ein breiteres Publikum, und ande­rer­seits dann auch nicht in der Lage, ihre großen Ideen den Gutwil­ligen präzise zu vermit­teln. Im Unter­schied zur brasi­lia­ni­schen Preis­trä­gerin.

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Das vers­tärkte die Krise, in die das Festival sich in den letzten 15 Jahren manö­vriert hatte: Im Vergleich zur hippen Konkur­renz in Zürich wirkt Locarno wie von Gestern: ein Sana­to­rium, schön, aber aus der Zeit gefallen. Mit einem viel zu großen Programm und einem unklaren Profil.

Nach wie vor hat das Festival Probleme und erkenn­bare Schwächen: Die Filme auf der Piazza Grande, der populärsten Sektion, waren in diesem Jahr so schwach und belanglos wie lange nicht.
Es sind insgesamt auch viel zu viele Filme, die in Locarno gezeigt werden, nicht zuletzt, weil das Festival es vielen Herren recht machen muss.Vor allem aber ist es ein Problem, dass es zwei Wett­be­werbe gibt, die schwer bis gar nicht ausein­an­der­zu­halten sind. Immer wieder versteht man nicht, warum ein bestimmter Film im einen Wett­be­werb und nicht im anderen läuft.

Trotzdem war die 75. Jubiläums­aus­gabe ein Erfolg. Denn das Festival schaffte in diesem Jahr das Aller­wich­tigste: Es brachte die Menschen zurück in die Lein­wand­säle.