11.08.2022

»Dafür bin ich noch zu jung«

Matt Dillon
Matt Dillon mit dem Pardo für sein Lebenswerk
(Foto: 75. Locarno Filmfestival / Matt Dillon)

Matt Dillon und der Locarno Lifetime Achievement Award: Eine Begegnung mit dem amerikanischen Schauspieler und zwei wundersam skurrile Komödien beim 75. Locarno Filmfestival

Von Katrin Hillgruber

Alles so schön schwarz-gelb getupft hier: Die 16.000-Einwohner-Stadt Locarno hat sich samt Bussen, Schau­fens­ter­aus­lagen und Patis­serie-Raub­tieren, die in der August­hitze zu schmelzen drohen, über und über im schwarz-gelben Fell­muster des »Pardo« geschmückt. Noch bis Samstag ist die Statuette des Leoparden in den diversen Wett­be­werben zu gewinnen. Der Schau­spieler und Regisseur Matt Dillon holte sich den Pardo für sein Lebens­werk bereits bei der Eröffnung der Jubiläums­aus­gabe auf der Piazza Grande ab. Ob Regis­seure anwesend seien, wollte der schwarz­ge­klei­dete Ehrengast wissen: Er freue sich über Angebote und habe nicht vor, in Rente zu gehen.

Zuvor hatte der 58-jährige New Yorker beim Gespräch im Hotel Belvedere mit Ausblick auf den reglosen Lago Maggiore bekannt: »Ich fühle mich etwas jung für diese Auszeich­nung, aber es ehrt mich, dass ich gefragt wurde. Ich bin ja auch schon sehr lange in diesem Beruf. Und ich liebe dieses Festival und finde es sehr wichtig: In Locarno lieben sie den Film und ehren ihn auf vielfache Weise. Wo gibt es schon so eine Riesen­lein­wand wie auf der Piazza Grande? Einen Film, den man dort gesehen hat, vergisst man nicht.« Matt Dillon, den das Festival-Magazin als »Rebellen mit reiner Seele« tituliert, spricht aus Erfahrung: 1995 hatte er auf der Piazza Grande mit ihren eindrucks­vollen 8000 gelben Plas­tik­stühlen zusammen mit Gus Van Sant die schwarze Komödie To Die For präsen­tiert. In diesem Hochamt des Sarkasmus ist ihm als Film-Ehemann von Nicole Kidman kein langes Leben beschieden, da die über­drehte Fernseh-Wetterfee ihren Gatten von drei Teenagern umbringen lässt.

Jonathan Kaplan entdeckte 1979 den Fünf­zehn­jäh­rigen auf dem Schulhof und drehte mit ihm in Colorado Over The Edge. Seinen Ruhm als undurch­schau­barer Außen­seiter und zugleich dunkeläu­giger, schwarz­haa­riger Mädchen­schwarm mit markanten Zügen festigte Matt Dillon ab 1983 endgültig mit Francis Ford Coppolas ikoni­schen Adap­tionen The Outsiders und Rumble Fish nach den Romanen von E.S. Hinton. In dem Schwarz­weiß­film mit den bunt aufleuch­tenden titel­ge­benden Kampf­fi­schen bemüht sich Dillon alias Rusty James, seinen psychisch labilen älteren Bruder (Mickey Rourke) zu retten. Natürlich vergeb­lich, was zu den brüchigen bis düsteren, oft krimi­nellen Figuren passt, die Matt Dillon bevorzugt: »Es stimmt schon, da gibt es einige düstere Charak­tere in meinen Filmen. Aber ich weiß nicht, ob sie zu mir tendieren oder ich zu ihnen. Ich suche immer nach Möglich­keiten, etwas anderes zu machen. Das ist nicht immer leicht in einem Business, das am liebsten auf Nummer sicher geht. Obwohl ich der Meinung bin, dass es belohnt wird, wenn man Risiken eingeht.« Deshalb wolle er nur mit entspre­chend einge­stellten Regis­seuren wie Gus Van Sant oder Lars von Trier arbeiten.

An die Dreh­ar­beiten zu Lars von Triers mali­ziösem Leichen-Schocker The House That Jack Built von 2018 hat dessen Titelheld die besten Erin­ne­rungen: »Seine Anfrage kam über­ra­schend. Ich bewundere seine Filme, hätte aber nie gedacht, dass wir einmal zusam­men­ar­beiten würden. Es war trotz des Themas überhaupt nicht düster, sondern sehr unter­haltsam, er hat viel Humor. Und es gab beim Drehen eine Freiheit, wie ich sie zuvor nie erlebt habe. Von Trier hat uns ermutigt, das Risiko einzu­gehen zu scheitern, und das war für mein profes­sio­nelles Gehirn etwas Neues. Große Momente entspringen der Impro­vi­sa­tion. Deshalb hat es mir so viel Spaß gemacht, mit ihm zu arbeiten, denn darum geht es mir auch.«

Ganz von der Kunst der Impro­vi­sa­tion geprägt ist Matt Dillons zweite Regie-Arbeit nach Ghost City (2002), der Doku­men­tar­film El Gran Fellove über den kuba­ni­schen Kompo­nisten und Sänger Francisco Fellove Valdés. Seine Begeis­te­rung für die süda­me­ri­ka­ni­sche und kari­bi­sche Musik habe ihn zu diesem Projekt gebracht, erzählt Dillon; dabei hielt ihn der 2013 verstor­bene Valdés in Mexiko zunächst für einen Kabel­träger. 15 Jahre Arbeit stecken in dem laut seinem Schöpfer »univer­sellen und mensch­li­chen« Film, der zwar 2020 beim Festival in San Sebastián Premiere feierte, dessen inter­na­tio­naler Kinostart zu Dillons Bedauern aber noch aussteht. Er sei nach dem Prinzip »emotion first, infor­ma­tion second« vorge­gangen: »Einen Doku­men­tar­film zu machen, ist das Aller­größte für mich, und dann noch einen mit dieser phan­tas­ti­schen Musik. Das Publikum kann einen solchen Film nur in sich aufnehmen, wenn es eine emotio­nale Verbin­dung herstellen kann. Und das Publikum war zunächst einmal ich.«

Nur eines hört der sonst so charmante und zuge­wandte Gesprächs­partner gar nicht gern: Die Behaup­tung, er »verkör­pere« Rollen: »Ich bin nicht Schau­spieler geworden, um etwas darzu­stellen, so wie etwa ein Junge sagt: 'Mama, ich will singen!'«, meint er energisch: »Diese Art von Junge war ich nicht, mir geht es nicht darum, mich zu expo­nieren, sondern ich bin vielmehr ein neugie­riger Mensch. Ich wäre wohl am ehesten Schrift­steller geworden, wenn ich nicht Schau­spieler geworden wäre. Denn ich bin an der Welt inter­es­siert, an der mensch­li­chen Natur und am Geschich­ten­er­zählen. Meine Neugierde hat mich dazu bewogen, diesen Beruf zu ergreifen, der Wunsch, das Wesen des Menschen zu spiegeln. Das ist es, was mich bewegt. Meine Gene­ra­tion kreiste um Schau­spieler wie Marlon Brando, Mont­go­mery Clift und James Dean. Weil sie von innen heraus wirkten und ihr Inneres nach außen kehrten, das machte ihre Moder­nität aus.«

Im Rahmen des »Locarno Lifetime Achie­ve­ment Award« für Matt Dillon wurden zwei seiner Filme gezeigt: Sein weit­ge­hend in Kambo­dscha gedrehtes Regie­debüt Ghost City, ein tropi­scher Film noir nach Vorbil­dern wie House of Bamboo von Samuel Fuller, wie der Regisseur erklärt, sowie Drugstore Cowboy von Gus Van Sant. Darin ist der 25-jährige Dillon als Kopf einer vier­köp­figen chao­ti­schen Dealer­bande in Portland / Oregon zu erleben. In auffal­lenden karierten Hosen plant der schlak­sige, frappant aber­gläu­bi­sche Bob Einbrüche in Apotheken, um neuen Stoff zu beschaffen. Die Tablet­ten­röhr­chen entfalten in surrealen Groß­auf­nahmen ein Eigen­leben. Einige skurrile Kata­stro­phen später endet Bob gezähmt und kleinlaut in einem Methadon-Programm.

Die ameri­ka­ni­sche Provinz mit ihren Fertig­häu­schen und Highways entfaltet in Drugstore Cowboy aus dem Jahr 1989 eine unspek­ta­kuläre Schönheit. Eine einzige Kata­strophe hingegen ist das USA-Bild in Anna Guttos Film Paradise Highway, der auf der Piazza Grande Premiere hatte. Die norwe­gi­sche Regis­seurin und ihre Schau­spie­le­rinnen Juliette Binoche und Veronika Ferres als burschi­kose, unentwegt fluchende Trucker-Fahre­rinnen müssen irgend etwas über die Verei­nigten Staaten miss­ver­standen haben. Die einzig über­zeu­gende Figur in diesem Drama über Menschen­handel mit Minder­jäh­rigen ist Hana Finley. Die 13-Jährige aus Kansas City spielt ein gefasstes Mädchen, das als blinde Passa­gierin eines Last­wa­gens von einem pädo­philen Peiniger zum nächsten gebracht werden soll. Doch da kommt die Truckerin Sally (Juliette Binoche) ins Spiel, bei der jedes zweite Wort »Fuck« lautet, die aber das Herz auf dem rechten Fleck hat. Der Film, eine ZDF-Kopro­duk­tion, ist drama­tur­gisch auf ärger­liche Weise unglaub­würdig. Er beweist in quälenden 115 Minuten die Binsen­wahr­heit, dass gut gemeint nicht gut gemacht bedeutet.

Höchst verfüh­re­risch lotsten dagegen zwei europäi­sche Komödien die Phantasie der Zuschaue­rinnen und Zuschauer in ihren jewei­ligen Kosmos. Gigi la legge (The Adven­tures of Gigi the Law) heißt Ales­sandro Comodins dritter Spielfilm, der im Inter­na­tio­nalen Wett­be­werb lief. Er setzt in einer dunkel­grünen Urwald­sze­nerie ein, mit einer Stimme aus dem Off, die den Haupt­dar­steller Gigi beschimpft: Er solle endlich die Pflanzen stutzen und sein Leben auf die Reihe bekommen. Dabei steht ja der Friulaner Gigi für Ordnung und Gesetz, auch in seinem verwil­derten Garten. Der in sich ruhende Strei­fen­po­li­zist wird von Pier Luigi Mecchia darge­stellt, dem Onkel des Regis­seurs. Das tut Mecchia auf unnach­ahm­liche Art, nicht zuletzt durch poin­ten­reiche Dialoge im friu­la­ni­schen Dialekt, die schwer zu über­setzen sind. Gigi durch­fährt Tag für Tag seine Heimat in der Sommer­lethargie. Dabei denkt er sich kleine Unre­gel­mäßig­keiten aus, die er über­prüfen muss. Darüber infor­miert er ausführ­lichst seinen Schwarm Paola, die neue Kollegin in der Leit­stelle. Auch sie wird hinreißend zögerlich von einer Laien­dar­stel­lerin gespielt, Ester Vergolini. Mit Gigi la legge ist Ales­sandro Comartin ein Werk in bester italie­ni­scher Komö­di­en­tra­di­tion gelungen, das leise und verschmitzt die Lebens­kunst feiert.

Ob Thomas Hardiman wohl den Film Mysterien eines Frisier­sa­lons von Erich Engel und Bertolt Brecht aus dem Jahr 1922 kennt? Genau hundert Jahre danach zieht der Brite mit seinem Spiel­film­debüt Medusa Deluxe in den Bann von Fixier­lö­sungen, Ondu­lier­scheren und unge­heuerem stilis­ti­schen Ehrgeiz. Während eines Friseur­wett­be­werbs, der in einem Keller­la­by­rinth vorbe­reitet wird, soll eines der Modelle skalpiert worden sein. Die berufs­spe­zi­fi­sche Gerüch­teküche brodelt, die Scheren klappern, eine besonders kunst­volle Frisur geht in Flammen auf, unter­bro­chen von surrealen Neben­fi­guren wie einem Wachmann, der nach Schmerz­mit­teln fragt. Hardiman ließ sein Ensemble von Lady Gagas Figaro Eugene Souleiman phan­tas­tisch farben­froh frisieren und im Londoner Cockney-Dialekt sprechen, was den bizarren Spaß noch befeuert. Medusa Deluxe wird beim Fantasy Filmfest im September in mehreren deutschen Städten zu genießen sein (www.fanta­sy­film­fest.com). Wie sagte doch Matt Dillon: »Am Filme­ma­chen gefällt mir, dass man wirklich eine andere Welt betritt.«