28.07.2022

„Lieber Thomas“ revisited

Lieber Thomas
Sinnbildlich und stereotyp für den Sexismus innerhalb der Kunstwelt unserer Kulturgeschichte...
(Foto: Wildbunch)

Eine Auseinandersetzung mit aus der Zeit gefallenen Rollenbildern im Biopic über Thomas Brasch und den Maßstäben des deutschen Filmsystems

Von Ella Cieslinski & Felicitas Sonvilla

Das erste Mal haben wir Lieber Thomas an einem kalten Januartag in Berlin gesehen. Wir, Ella Cies­linski und Felicitas Sonvilla, sind zwei befreun­dete Filme­ma­che­rinnen. Während der Vorstel­lung haben wir uns immer wieder ungläubig ange­schaut, konnten nicht so richtig fassen, was wir da sahen, waren empört, gelang­weilt, fassungslos. Als der Film dann später für den deutschen Filmpreis nominiert wurde und Ende Juni schließ­lich neun Lolas gewann und mit über einer halben Millionen Euro bedacht wurde, die aus deutschen Förder­gel­dern generiert werden, wich unsere Empörung vor allem einem Unver­s­tändnis. Hatten wir uns mit unserem ersten negativen Eindruck getäuscht? Also schauten wir den Film noch einmal.
Hier wollen wir unsere persön­li­chen Eindrücke teilen, die Eindrücke zweier Filme­ma­che­rinnen. Dies soll weder eine Polemik werden, noch ein mora­li­scher Appell, noch eine reine Film­kritik – viel mehr eine Ausein­an­der­set­zung mit dem Abge­bil­deten und Erzählten und dabei ein Versuch, die weit verbrei­tete positive Resonanz auf den Film zu verstehen. Was sagen die neun Lolas für „Lieber Thomas“ über den Film hinaus über die deutsche Film­branche und die Förder­gre­mien? Und wie passt das alles zusammen mit dem femi­nis­ti­schen Diskurs in der Medi­en­branche der letzten Jahre, mit der Ausein­an­der­set­zung über die Darstel­lung der Frau, dem »male gaze« und unserer Kultur­ge­schichte, durch­drungen von männ­li­chen Helden mit Vernich­tungs­vi­sionen?

Es beginnt mit dem Bild eines nackten Frau­en­kör­pers, der von Thomas Brasch, gespielt von Albrecht Schuch, nach und nach beschrieben wird. Die Kamera gleitet über Rücken, Brüste, Scham­haare – das Gesicht der Frau sehen wir nicht. Dazu hören wir aus dem Off eines von Braschs Gedichten. Als der Körper voll­kommen beschrieben ist, Braschs Lyrik auf ihm einge­schrieben, sehen wir Brasch, nun ebenfalls nackt, wie er in den Armen seiner Geliebten endlich ruhen kann.

Die weibliche Muse und der geniale Künstler können sinn­bild­lich und stereotyp für den Sexismus innerhalb der Kunstwelt unserer Kultur­ge­schichte gelesen werden. Die Frau, die sich nackt dem Blick des Mannes hingibt, der Mann, der seine Fantasien auf sie proji­ziert und sie nutzt, um zu er-schaffen. Steiler Anfang, denken wir. Später im Film wird die Szene wieder aufge­griffen. Thomas reicht Katharina, in die er sich verliebt hat, ein Thea­ter­s­tück – extra für sie: „er hat es ihr auf den Leib geschrieben“. Aha, also eine direkte Über­set­zung von Text zu Bild. Dabei hätte es auch gereicht beim Text zu bleiben, denken wir. Oder man hätte noch einen Schritt weiter gehen und Katharina, die aktiv von Thomas fordert, ein Thea­ter­s­tück für sie zu schreiben, in das Bild mit aufnehmen können. Hat man aber nicht.

Dafür hat man sich entschieden Katharina auf der Bühne des Berliner Ensembles einzu­führen.
Das erste, was wir von ihr sehen ist ihre Hand in einem Netz­hand­schuh, dann ihr Bein in einer Netz­strumpf­hose, später auch ihren Ober­körper in einem eng ansit­zenden Bustier. Und ganz zum Schluss: ihr Lächeln. Was erzählt diese Figu­ren­ein­füh­rung? Sie macht Katharina zu einem Körper und Thomas zu einem, der den Körper begehrt. Man stellt sich vor, die beiden hätten sich erst in der darauf­fol­genden Szene, an der Bar kennen­ge­lernt, im Gespräch. Was hätte das mit ihrem Begehren gemacht?
Aber stopp, wir springen.

Vor Katharina gibt es da noch Sanda und davor Jean und Bettina, mit denen Thomas eine Ménage à trois oder auch zu quatre lebt, bis Bettina schwanger wird und nicht mehr so richtig mit von der Partie ist. Schön und gut, denken wir. Hier soll uns also eine Welt gezeigt werden, in der Frauen selbst­be­stimmt leben und lieben, die unab­hängig sind. Aber das reicht eben nicht. Vor allem nicht, wenn die darge­stellten Szenen reine Abzieh­bilder und die Frauen reine Funk­tionen bleiben, nur dafür benutzt werden, um etwas über die Haupt­figur zu erzählen. Wir verstehen: Der Brasch im Film ist charis­ma­tisch und ein Frau­en­held, der die Frauen konsu­miert und vor nichts Halt macht.
Auch wenn das so gewesen sein mag (?), geht es in einer künst­le­ri­schen Ausein­an­der­set­zung mit so einem Verhalten, aber eben auch darum, wie die Frauen und ihre Körper, ihr eigenes Begehren und ihr Eigen­leben, von den Filme­ma­chern darge­stellt werden. Und da stellt sich dann schon die Frage, wie man den Kame­ra­schwenk von Sandas Beinen auf ihren Ober­körper lesen soll, als sie vor der Fabrik auf Thomas wartet. War das eine bewusste Entschei­dung und wenn ja, welchen Mehrwert hat sie? Oder ist es einfach so passiert, weil es eben „gut aussieht“?

Aber zurück zu der ersten Begegnung zwischen Sanda und Thomas. Auch mit ihr war es nämlich, ähnlich wie später mit Katharina, Liebe auf den ersten Blick, nachdem Thomas sie auf einer WG-Party ein rumä­ni­sches Lied hat singen hören. Die Plumpheit dieser szeni­schen Idee mal beiseite. Was hat er eigent­lich gemacht, um ihr Interesse zu wecken?: sie angeguckt, wie man das in Filmen halt so erzählt, in denen Frauen sich in Männer verlieben, weil diese sie begehren und dies mit einem langen inten­siven Blick kundtun. Spätes­tens in der Szene, in der Thomas und Sanda in die Ostsee springen und daraufhin Thomas Sanda bespringt – Pardon, aber man kann es eigent­lich nicht anders nennen – und die beiden Körper sich im Sand wälzen, ganz einge­deckt davon, fühlt man sich unan­ge­nehm in eine Alther­ren­fan­tasie hinein­ka­ta­pul­tiert.
Da irritiert es dann viel­leicht auch gar nicht mehr besonders, dass älteren Freunden von uns, sowohl Männern als auch Frauen das tatsäch­lich gar nicht aufzu­stoßen scheint. Haben wir es hier also mit einem gene­ra­ti­ons­be­dingten abwei­chenden Blick auf die Geschlech­ter­dar­stel­lung zu tun?

An dieser Stelle wollen wir noch über den Mädchen­mörder Brunke sprechen, über den Thomas zuerst in der Zeitung liest – ein Mann, der behauptet von zwei Schwes­tern aufge­for­dert worden zu sein, sie umzu­bringen – bevor Thomas im Schreib­ex­zess selbst zu ihm wird, in Form einer filmi­schen Ich-Erwei­te­rung. Silvia, die Thomas in der Fabrik kennen­ge­lernt hat, taucht mit ihrer Schwester bei ihm auf, die beiden wollen, dass er sie umbringt, denn sie wollen nicht in einer Welt leben, in der es ihrem Vater möglich ist, sich an ihnen zu vergreifen, ohne dafür zur Rechen­schaft gezogen zu werden. Diese Szene lässt sich im Film als Kritik am Staats­ap­parat der DDR lesen und zeigt damit die zuneh­mende Unmög­lich­keit für Thomas, Staat und Ideale zusam­men­zu­bringen. So weit so gut. Wir bewegen uns hier auf der sich im Film wieder­ho­lenden Ebene: Direkte Über­set­zung von Text in Bild. Aber wie kam es zu der Entschei­dung die beiden Frauen barbusig vor Thomas zu setzen und sie im Folgenden blutü­ber­strömt auf das weiße Laken zu legen? Was sollen diese Bilder für einen Asso­zia­ti­ons­raum eröffnen, zu welchen Gedanken sollen sie anregen? Welchen Mehrwert haben sie? Am Ende bleibt diese Art der Insze­nie­rung spießig. Um das Radikale, das Braschs Texten innewohnt, zu über­setzen, reicht das nicht.

In der filmi­schen Erzählung von Braschs Lebens und Werk werden wir mit der Glori­fi­zie­rung einer Männ­lich­keit konfron­tiert, mit dem Mythos des männ­li­chen Genies, welches Wahn, Sucht, Misogynie und Todes­sehn­sucht braucht, um gute Kunst zu machen und in denen die Frauen an seiner Seite nicht viel mehr sind als ästhe­ti­sches Beiwerk.

Thomas Brasch ist also Autor. In diversen hinter­ein­ander geschnit­tenen Sequenzen sehen wir ihn mit geöff­netem Hemd und Zigarette im Mund auf seine Schreib­ma­schine einhacken. Besessen ist er von den Worten und vom Schreiben, ohne das er nicht leben kann. Der Film legt nahe; er ist ein Genie. Und ein Wortheld noch dazu. Immer hat er eine schlag­fer­tige Antwort parat, immer behält er das letzte Wort. Sei es an der Film­uni­ver­sität, wo er sich, umringt von einem Schwarm Mitstu­denten (vor allem gutaus­se­henden Mitstu­den­tinnen), mit seiner Dozentin anlegt, die ihm natürlich bei weitem nicht das Wasser reicht oder mit seinen Freunden, mit denen er gemeinsam eine Flug­blatt­ak­tion nach dem Panzer­ein­marsch in Prag beschließt oder im Streit mit seinem Vater oder mit dem Poli­zei­be­amten; Thomas ist ein Rebell, einer, der sich nichts sagen lässt und keine Kompro­misse macht. Spätes­tens nach der dritten Szene dieser Art, muss man sich als Zuschauerin dann doch ein Gähnen unter­drü­cken. Ja, wir haben verstanden, will man sagen. Okay, danke. Man sehnt sich nach einer Szene, in der Thomas auch mal zur Ruhe kommt, einen Moment braucht, um einen Gedanken zu formu­lieren, eine Unsi­cher­heit zeigt oder überhaupt mal mit einer Situation oder mit sich hadert. Der Brasch im Film hadert immer nur mit der Außenwelt, mit dem Vater, der sinn­bild­lich für den Staats­ap­parat steht (auch das hat man schon viel zu oft gesehen), mit dem Staats­ap­parat selbst und später mit seiner Rolle als Dissident der DDR im Westen.
Dabei spielt es keine Rolle, wie Thomas Brasch jetzt im echten Leben war oder nicht. Der Thomas im Film ist ja immer eine Figur, eine Inter­pre­ta­tion des Regis­seurs und in dieser Inter­pre­ta­tion trägt er, der Regisseur, die Verant­wor­tung für die Erzählung. Der Brasch, der dann dem Rausch, dem Wahnsinn und dem Geniekult verfällt, ist in der Klischee­haf­tig­keit, in der das Ganze gezeigt wird, schlicht eindi­men­sional. Der geniale Künstler, der andere und sich selbst verletzt, Frauen konsu­miert, am Koks und am Alkohol zugrunde geht, aber dabei immer noch glamourös wirkt, ist eine schon viel genutzte Trope. Das ist nicht nur abge­schmackt, das unter­for­dert auch uns als Zuschaue­rinnen. Außerdem ist die Stili­sie­rung eben dieser Frau­en­helden und Wort­helden zu einem Symbol der Coolness ein struk­tu­relles Problem. Weiber­helden dieser Art sollten out sein. Trotzdem sind das offen­sicht­lich genau die Geschichten, die sowohl ein Kino­pu­blikum als auch die Förder­an­stalten, Jurys und Mitglieder der Film­aka­demie nach wie vor sehen wollen. Warum?

Zu oft hat man im Film das Gefühl Ober­fläch­lich­keiten ausge­setzt zu sein. Das fängt schon in Braschs Kindheit an: Der junge Thomas wird in der Kadet­ten­schule einge­führt, wo er sich fremd fühlt, nicht dazu­gehören will, mit den anderen Jungen anein­an­der­gerät und sich nach seiner Familie sehnt. Schnell spüren wir, dass wir emotional mani­pu­liert werden sollen, die Bilder einer so zusam­men­ge­fassten „trau­ma­ti­schen“ Kindheit bleiben in ihrer Kürze und Verein­fa­chung reine Funktion, sie entfalten in sich keinen eigenen Gedanken und schon gar nicht ein Verhältnis zu dem, um den es in den nächsten zwei Stunden gehen soll. An dieser Stelle wird eine Kausa­lität behauptet – nämlich, dass Thomas sich aufgrund seiner trau­ma­ti­schen Erfah­rungen in eine Traumwelt flüchtet, die später zu seinem Schreiben führt – die mehr einer filmi­schen Drama­turgie zu entspringen, als sich aus der Biografie des Porträ­tierten selbst zu ergeben scheint.
Jetzt ist das Genre Biopic per se kein Dankbares, soll man doch ein ganzes Leben in Spiel­film­länge erzählen, aber wer sagt denn, dass ein Biopic mit der Kindheit anfangen und mit dem Tod aufhören muss? Ist das Spannende an einer Biografie denn nicht gerade, dass wir ständig versuchen Kausa­li­täten zu finden, aber fest­stellen müssen, dass so viel dem Zufall entspringt, dass es so viel gibt, das wir nicht erklären können?
Filme wie Vor der Morgen­röte (der sich ganz bescheiden auf die Jahre 1936-1942 im Leben von Stefan Zweig konzen­triert), Saint Laurent von Bertrand Bonello (der von der Ambi­va­lenz zwischen Genie und Wahnsinn eines Künstlers erzählt) und I’m Not There (die nicht chro­no­lo­gisch zusam­men­hän­genden Facetten aus dem Leben von Bob Dylan in sechs Hand­lungs­strängen), um hier nur ein paar Beispiele zu nennen, zeigen, dass man dieser Mammut­auf­gabe der Annähe­rung an eine Persön­lich­keit auf ganz unter­schied­liche Weisen begegnen kann, ohne obli­ga­to­risch ein Leben von A-Z abzu­klap­pern.

Später verzichtet der Film dann glück­li­cher­weise auf diese Kausa­li­täten und springt ellip­tisch von Moment zu Moment auf der chro­no­lo­gi­schen Zeitachse, die man als das Leben von Thomas Brasch bezeichnen kann. Aller­dings vermisst man in diesen Momenten, die nur ange­ris­sene Facetten bleiben, aber selten in die Tiefe gehen, leider eine wirkliche Ausein­an­der­set­zung mit dem, um was es eigent­lich geht. Denn in der Kürze sind die Rollen doch allzu schnell klar: Thomas – wild. Der Staat – einengend. Gerne würde man die Welt, in der Thomas lebt und mit der er sich schrift­stel­le­risch ausein­ander setzt, genauer kennen­lernen. Aber am Ende ist dann doch das, was zum Beispiel aus seiner Zeit als Fräser in der Fabrik, wo er auf Bewährung arbeiten muss, erzählt wird, das, dass es dort eine Arbei­terin gibt, die den Männern beim Sex die Knochen bricht. Okay. Und ganz beiläufig wird da auch ein Arbeits­un­fall erzählt. Aber was das mit Thomas macht, in einer Fabrik als Fräser zu arbeiten und mit seinem Verhältnis zu dem Staat, in dem er lebt – das kommt leider zu kurz. Und dadurch können wir Thomas eigent­lich immer nur von außen betrachten, seine Innenwelt nie emotional miter­leben. Sein Verhalten hat keine Möglich­keit, von Innen zu wachsen, sondern wird von Außen aufge­zwungen, wodurch wir als Zuschaue­rinnen das ständige Gefühl haben, in unserer Sicht­weise mani­pu­liert zu werden und damit nicht ein eigenes Verhältnis zu dem entwi­ckeln können, was wir sehen. Wir rutschen an ihm ab, was in diesem Fall leider nicht zu einer distan­zierten, intel­lek­tu­ellen Ausein­an­der­set­zung mit dem Prot­ago­nisten, sondern vor allem zu Lange­weile führt.

Womit wir bei einem grund­sätz­li­chen Problem der deutschen Film­branche angelangt wären. Zu einem großen Teil sehen wir uns mit Filmen konfron­tiert, die sich sofort einordnen lassen, denen man ein gewisses Label aufdrü­cken, die man in einem kurzen, knackigen Pitch zusam­men­fassen kann. Filme, die nicht auf den ersten Blick ein-ortbar sind, die sich zwischen den Welten bewegen, sowohl das eine als auch das andere sind oder sich überhaupt nicht festlegen, keiner Schublade zugehörig sein wollen, die haben es schwer, die fallen zwischen die Stühle. Deswegen gibt es viel zu wenig Filme, die den Zuschauer, die Zuschauerin dazu einladen, sich selbst ein Bild zu schaffen, eine eigene Haltung zu dem Gesehenen zu entwi­ckeln, selbst wenn sich das wider­spricht, nicht stringent erzählt.

Thomas Brasch war auch Film­re­gis­seur. Wie würde Thomas Brasch heute Filme machen, wenn er noch leben würde? Hat er sich in seinem künst­le­ri­schen Schaffen nicht auch genau mit diesen Fragen ausein­an­der­ge­setzt? Denn Thomas Brasch wollte keine Biografie schreiben, er wollte sein Leben nicht verkaufen, er wollte Künstler sein, ohne seine Herkunft als Marke vor sich herzu­tragen. Seine poli­ti­sche Gesinnung, sein innerer Kampf, der schwang sowieso mit, in jeder Zeile, in seinen Gedanken, in seinem Schaffen. Er wollte sich nicht fest­na­geln lassen. Leider findet sich dieser Konflikt nur im Ansatz im Film wieder. Denn der Film, der zwar versucht, den Künstler und seine Wahr­neh­mung der Welt hervor­zu­heben, hangelt sich am Ende doch entlang an biogra­fi­schen Momenten und stellt dabei die Behaup­tung auf, dass da so etwas wäre wie Folge­rich­tig­keit und Kausa­lität. Damit stellt Andreas Kleinert die Herkunft und den poli­ti­schen Kontext über die Kunst.

Trotzdem wollen wir an dieser Stelle die Gele­gen­heit nutzen, auch noch ein paar positive Aspekte des Films hervor­zu­heben: Gerne wollen wir über die Rolle der Mutter sprechen. Anja Schneider schafft es mit ihrem Spiel, der Mutter von Brasch Leben einzu­hau­chen, eine Figur mit einem Eigen­leben entstehen zu lassen, die man spürt, zu der man sich verhalten kann. Hier entwi­ckelt sich zum ersten Mal eine wirkliche Beziehung zwischen den Figuren, über den Prot­ago­nisten hinaus. Mutter und Sohn lieben sich, auch wenn sie unter­schied­liche Posi­tionen haben, sie verhan­deln etwas mitein­ander. Diese Art der Beziehung, der Ausein­an­der­set­zung, des Mitein­an­ders hat eine Konse­quenz, die einen Mehrwert produ­ziert, weil sie etwas vom Leben erzählt, etwas über Eltern-Kinder-Bezie­hungen generell, etwas, das größer ist, als die singuläre Beziehung Brasch und Mutter. Besonders kommt das in zwei Szenen zur Geltung:
Wir denken an den Streit zwischen Brasch und seinem Vater infolge der Flug­blatt­ak­tion. Der Sohn freut sich, dass sich die Mutter auf seine Seite stellt, aber als der Vater im nächsten Moment raus geht, um Ziga­retten zu holen, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Diese Reaktion ist über­ra­schend, spielt mit den Erwar­tungen der Zuschauer:innen und schafft deswegen einen für sich inter­es­santen filmi­schen Moment. Für diese Momente gehen wir ins Kino!
Ein weiterer Moment ist das Fern­seh­in­ter­view mit dem Fräser Brasch, das seine Mutter im Fernsehen sieht. In diesem Betrachten ihres Sohnes in einer ihm fremden und unge­wollten Rolle, entsteht ein Moment der Ambi­va­lenz. Denn die Mutter empfindet hier eine Gleich­zei­tig­keit von sich wider­spre­chenden Gefühlen: einmal eine gewisse Genug­tuung über die milde ausge­fal­lene Bestra­fung, die ihren Sohn doch hoffent­lich zur Vernunft bringen wird. Außerdem eine Spur Schmun­zeln, weil sie natürlich sehr gut weiß, dass ihr Sohn sich nicht gerne in dieser Rolle sieht und Worte in den Mund gelegt bekommt. Und über oder unter all dem liegt gleich­zeitig ein Schmerz, darüber, dass Thomas in dieser Welt nicht die Möglich­keit hat, seine Persön­lich­keit voll zu entfalten, sich nicht so äußern kann, wie er will. Die Viel­schich­tig­keit an Emotionen, die ja gerade die Schau­spiel­kunst als solche ausmacht, würden wir im Film gerne mehr sehen!

Wie könnte ein Film über Brasch aussehen, der einen grund­sätz­lich anderen inhalt­li­chen und ästhe­ti­schen Zugang findet?

Liebes­er­klärung

Anders als der Staat das will (dieser jener jeder)
leben wir (du ich) unzu­frieden in der kleinsten Zelle
die er uns bereit­stellt und Familie nennt Anders
als der Staat das braucht lieben wir einander hastig
und betrügen eins das andere wie
der Staat das tut mit uns sagen wir einander Worte
unver­s­tänd­lich eins dem anderen wie Gesetze die der Staat
(dieser jener jeder) ausruft Anders
als der Staat das gern sieht leben wir (du ich) nicht in Frieden
mitein­ander und befrie­digen einander ungleich­zeitig
wenn wir zuein­ander fallen in der Abend-Dämmerung
der Geldzeit Anders
als der Staat das tut (dieser jener) spielen wir
in jeder Nacht das Spiel
Verei­ni­gung Wieder und Wieder
hastig aufgerüstet schwer behängt mit Waffen
wie der Staat der uns doch ganz anders will wehrlos nämlich aber
der uns lehrt Mißtrauen blankes So
lieben wir einander wegge­duckt unterm Blick wie
unter ausge­schrie­bener Fahndung Feinde (dieses jenes jedes) Staats
aber ähnlich ihm in der kleinsten Zelle ange­fressen schon
Krebs die Krankheit ist der Staat
(meiner nicht nicht deiner) anders als ers will
sterben wir ihm wegge­duckt aus seinem großen kalten Bett

- Thomas Brasch (aus „Der schöne 27. September“, 1980)

Mann stelle sich einen Film vor, der dieses Gedicht im Sinne des Textes und des Künstlers adaptiert. (...und der, wenn wir an dieser Stelle Rüdiger Suchsland zitieren dürfen, für »Staat« das »deutsche Film­system« einsetzt).