14.07.2022

Was zählt, ist das Risiko

Berlin für Helden
Saralisa Volm (links) in Lemkes Berlin für Helden
(Foto: deutschfilm)

Am Leben saugen, bis es alle seine Geschichten ausgespuckt hat, aber auch aufhören, wenns am schönsten ist – Klaus Lemke wusste, dass der Film die Regeln macht. Innenansichten aus dem berühmten Klaus-Lemke-Vampirsystem.

Von Saralisa Volm

St. Pauli hört auf zu glitzern, wenn die Sonne aufgeht und der Dreck der Nacht in kleinen Pisse-Rinnsalen vom Bordstein tropft. Menschen, die sich gerade noch in ihre Jugend zurück­ge­soffen haben, lauern plötzlich mit zerfurchten Gesich­tern auf einen neuen Tag voller Kata­stro­phen, der sich gerne mehr Zeit lassen dürfte. Es war Lemkes liebste Stunde. Dreh­be­ginn um fünf. Auch an meinem ersten Tag. 2006. Fußball WM. »Finale«. So stolpern wir, ohne zu wissen, was wir tun, aus der Bar vor die Kamera. Folgen der Straße und versuchen, uns am Leben fest­zu­halten. Lemke immer hinterher, gera­de­wegs zu auf das nächste Unglück.

Wir alle standen auf unsere eigene Art am Abgrund, sonst hätten wir nicht bei Lemke gespielt. Einer kämpfte mit dem Heroin, die andere mit der unbe­zahlten Miete, fast alle mit ihren Dämonen. Am Abgrund sind Scherze über den Tod erlaubt. Wenn Lemke und ich in nihi­lis­ti­scher Höchst­form waren, sagten wir oft: »Wäre gut, wenn jetzt einer beim Dreh stirbt. Richtig feine PR wäre das.«

Jetzt ist Lemke selbst gestorben. So fulminant und plötzlich, dass viele es zunächst nicht glauben konnten. Gerade hatte er noch Premiere gefeiert auf dem Filmfest München. Sein neuester Film ist beim Baye­ri­schen Rundfunk in der Mediathek zu sehen und sein Kame­ra­mann wusste schon, wann die nächsten Dreh­ar­beiten anstehen. »Bombe!« Wie Klaus gesagt hätte.

Aus allem Profit schlagen, was geht. Immer. Nichts war ihm heilig. Was zählt, ist das Risiko. Sich das Leben zurecht­zu­biegen, against all odds. Als Tagediebe, als Halunken und Zwei­felnde das letzte bisschen Glitzer finden, das im Rinnstein schlum­mert. Mit Lemke drehen, hieß vor allem die Stadt zu besitzen und sie sich zu eigen zu machen. Egal ob Hamburg, München oder Berlin. Das war das berühmte Klaus-Lemke-Vampir­system. Am Leben saugen, bis es alle seine Geschichten ausge­spuckt hat. Einfach reingehen, drehen, den Laden über­nehmen. Aber auch aufhören, wenns am schönsten ist.

Wir trugen die höchsten Schuhe, die feinsten Anzüge und hatten die Sehnsucht im Gepäck. Von der Realität wollten wir nichts wissen und das ließ sie umso heftiger zuschlagen. Wenn sie dann kam, war die Kamera schon da. Denn Lemke war immer auf der Hut. Eines hatte er nie: Mitleid. »Stell Dich nicht so an. Mach*e Dich grade! Kamera? Action! Cut!« Wir haben immer mitein­ander gekämpft, um Worte gerungen und um die Deutungs­ho­heit. Wir haben die Filme nicht nur der Welt, sondern auch uns gegen­seitig abge­trotzt. In tiefem Respekt vor der uner­bitt­li­chen Kamp­fes­lust des Gegenü­bers. In liebe­voller Verbun­den­heit, deren Ziel immer das Zähmen dieser wilden Bestie war – wie Klaus einen Film immer nannte.

Lemke hat mir alles beigebracht, was er über das Kino wusste. Und das war eine ganze Menge – und nichts. Denn das war so schön an ihm: Er sagte, dass wir alle immer die gleichen Idioten bleiben, die wieder und wieder von vorne anfangen müssen. Wir alle sind Spieler. Fake it till you make it. Und von allem, was man über uns sagen kann, stimmt immer auch das Gegenteil. Auch bei Klaus.

Er war pünktlich und höflich und genau. Er war melan­cho­lisch, schüch­tern und zweifelnd. Eindeu­tig­keit war ihm zu simpel. Haltungen waren da, um sie zu brechen. Immer unter dem Radar fliegen, flexibel bleiben, Ausschau halten. Die Förderung hassen und die Öffent­lich-Recht­li­chen lieben. Die Frauen Cowboy nennen und die Jungs links liegen lassen. Und trotzdem als Macho gelten! Vergessen wo die offenen Rech­nungen sind. Schenk ein. Es geht weiter.

Von ihm habe ich die Wut auf Menschen geerbt, die es wagen, zu spät am Set zu erscheinen, das Wissen, dass der Film die Regeln macht und man gut zu ihm sein muss und gewinnend, wenn man will, dass er uns folgt; die Regie ein Spiegel ihrer Begeg­nungen, ein Spiegel, der das Licht einfängt und reflek­tiert. Jeder Film ist ein Geschenk, ein Abenteuer, ein erneuter Versuch zu begreifen, was unbe­greif­lich ist: Was Leben bedeutet. Gezählt hat jeder Versuch. Die abge­bro­chenen Filme, die Versatz­stücke, die Bruch­teile, die Durst­stre­cken, die verlo­renen Seelen. Nicht aufgeben. Mache Dich grade.

Nichts Mensch­li­ches war ihm fremd. Er hat mich kotzen sehen und bluten. Er hat meine echten Tränen gebraucht und ich habe sie ihm gerne geschenkt. Kino ist Glitzer und Traum, aber am Ende geht es immer um die Wahr­haf­tig­keit hinter der Fassade. Gutes Kino ist wie morgens um fünf auf St. Pauli. Niemand will, dass es aufhört, aber auf einmal geht das Licht an.