75. Filmfestspiele Cannes 2022
»Schönen Dank Wolf!« |
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Sozial-Porno für die Bessergestellten? | ||
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes) |
»Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. ...
Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. ›Guten Tag, Rotkäppchen!‹ sprach er. ›Schönen Dank, Wolf!‹«
- Gebrüder Grimm, Rotkäppchen
Es war einmal... Die Dardenne-Brüder sind wieder zurück im »Rosetta«-Terrain: Ein roher Einstieg. Nach nur wenigen Sekunden ist man mitten drin in der Schicksalsgeschichte zweier Geschwister aus Afrika, die sich in den Mühlen der belgischen oder auch EU-Flüchtlings-Bürokratie befinden und dort zermahlt werden: Tori und Lokita. Sie müssen lügen um zu überleben, das verstehen wir sofort und es dauert auch nicht lange, da haben wir begriffen, dass es sogar eine Lüge ist, dass es sich bei ihnen um leibliche Geschwister handelt. Tatsächlich haben sie sich auf dem Boot kennengelernt, das sie nach Europa brachte, und beschlossen, sich gegenseitig nicht mehr zu verlassen, sondern um jeden Preis zusammen zu bleiben. Wahlverwandtschaften. Von Anfang an ist auch zu ahnen, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen kann. Sondern man verfolgt sie gewissermaßen als Chronik eines angekündigten Unglücks, als Abstieg aus der Hölle von Schritt zu Schritt.
Jeder ist böse hier oder hat mindestens ein kaltes Herz, nur die beiden Geschwister nicht. Aber auch die anderen Flüchtlinge, auch die Schwarzen (Afrikaner?), die unter der Maske einer Kirche die Kinder nach Strich und Faden ausbeuten, und mit ihnen Geschäfte machen. Oder wie die Italiener, die Drogen verticken, die Kinder als Lieferanten benutzen oder für schmutzigen Gelegenheitssex, und die Lokita schließlich in ihrer eigenen, in einem Keller versteckten Drogenfabrik schuften
lassen.
Immer wieder versuchen die beiden der Mühle zu entkommen, doch nach jedem Versuch ist ihre Lage schlechter als zuvor. Fast hat man den Eindruck, als genössen die belgischen Regie-Brüder diese Position der überlegen Wissenden, der Herren ihrer Kinowelt ohne Überschuss, in der sie jederzeit alle Fäden in der Hand behalten, nichts dem Zufall überlassen, dafür alles dem Drehbuch, das die Grenzen dieser Welt definiert.
Die Dardenne-Brüder haben zwar auch schon Geschichten erzählt,
in denen das Glück Platz hatte, aber der war nie sehr groß und hier sind es nur wenige Momente, die Hoffnung schöpfen lassen.
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Man könnte also sagen, dass die Dardennes wieder einmal einen Sozial-Porno für die Bessergestellten und gebildeten Schichten des europäischen Bürgertums gedreht haben, das sich am Schicksal armer Afrikaner im weichen Kinosessel von Cannes berühren lassen und ergötzen kann – ähnlich wie bei der Lektüre eines Grimm'schen Märchens; nur dass diese in der Regel gut ausgehen.
Man muss aber auch feststellen, dass dies bewundernswertes und selten konsequentes Filmemachen
ist.
Ähnlich wie die Geschichten der Brüder Grimm sind auch die der Brüder Dardenne straight storys: Ohne Umschweife von A nach B von dort nach C und dann nach D erzählt. Das muss ihnen erstmal einer nachmachen! Das schafft aber keiner. Und wenn man diesen Film sieht, fragt man sich, warum das so ist, warum das, was doch augenscheinlich ganz einfach und klar ist, fast etwas zu einfach, so selten im Kino zu sehen ist.
Diese Konsequenz und bewundernswerte Souveränität könnte den belgischen Brüdern eine dritte Goldene Palme bescheren – was tatsächlich des Guten zu viel und eine absurde Übertreibung wäre. Schließlich ist dies noch nie jemandem gelungen.
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Park Chan-Woks Geschichten sind das Gegenteil der Geschichten der Dardennes. Der Koreaner, dessen Rache-Triptychon – Sympathy for Mr. Vengeance, Oldboy, Lady Vengeance – Anfang der Nullerjahre das Kino mehr als ziemlich alles andere revolutionierte, was wir seitdem gesehen haben, dreht barocke überladene Filme, die viele Nebenstränge haben, viele Ebenen; Filme, die kein Ende finden, und die, wenn man so will, ganz und gar in der künstlichen virtuellen Welt des Kinos und seiner internen Wechselbezüge sich aufhalten.
All dies gilt auch für seinen neuen Film Decision to Leave. Formal Genre, ein klassischer Noir mit einem Detektiv, einer Femme Fatale und gehörig viel Fatalismus. Ein Polizist und eine Mord-Verdächtige verlieben sich. Sie ist ein Opfer und Witwe. Es geht um Leidenschaft, um Essen und Kochen, es geht um die vielen unmittelbaren Sinnlichkeiten, es geht um ein spießiges Leben und die Wünsche daraus auszubrechen. Es geht um den Materialismus in Korea.
Im
Zentrum steht ein Polizeidetektiv der Mordkommission, der gern kocht wie Maigret, der in einer unglücklichen Fernbeziehung lebt mit einer allzu perfektionistischen Wissenschaftlerin, die jeden seiner poetischen Sätze mit einer Statistik kontert. Seine eigentliche Leidenschaft ist die Arbeit. Dieser Detektiv liebt seine ungelösten Fälle und trägt sie oft jahrelang mit sich herum.
Ein Film voller Hingabe über Hingabe: skurril und versponnen, in vieler Hinsicht nicht »perfekt« im Sinne der Drehbuchratgeber, des objektiv »richtigen« Filmemachens – und gerade darum perfekt im Sinne des Zuschauers, der Subjektivität des Autorenkinos. Zu Recht hat diesen Film ein Kollege mit Drive My Car, dem besten Filme des Vorjahres, verglichen.
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Es ist schon sehr interessant. Den Film von Valeria Bruni Tedeschi habe ich versäumt und dann später gedacht: Den hätte ich mal nicht versäumen sollen, das ist einer der besten, in jedem Fall der in diesem Jahr wichtigsten Filme. Im sogenannten »Jury Grid«, dem Kritikerspiegel von Screen Daily führt noch immer James Grays tatsächlich wunderbarer Armageddon Time knapp vor dem kaum weniger wunderbaren EO, dem Eselsfilm von Jerzy Skolimowski. Dagegen hat Bruni Tedeschis Forever Young mit 1,8 Punkten die schlechteste Wertung aller Filme, die bisher im Wettbewerb gezeigt wurden. Nur knapp besser schneidet Ali Abbasi ab, der schwedische Iraner mit seinem Film Holy Spider, der auch in Deutschland co-produziert wurde und dem Katja Nicodemus ihr einziges »Schlecht« gibt, während sie diejenige ist, die Bruni Tedeschis Film am besten unter den Juroren bewertet. Der französische Filmkritiker Michel Ciment von »Positif«, der letzte lebende Großmeister der französischen Filmkritik, gibt ausgerechnet diesem Film aus seinem eigenen Land die schlechteste Wertung, während er Ruben Östlund die Höchstpunktzahl gibt, und Kiril Serebrennikov.
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Stark diskutiert wird unter uns Filmkritikern die Frage, ob es richtig ist, dass die Redaktion von Screen sich entschieden hat, weitere Namen hinzuzufügen.
Sie haben nämlich den Russen Anton Dolin weiterhin in der Runde, nun für das russische Exil-Magazin Meduza. Das ist interessant und moralisch richtig, ein Statement gegen die pauschale Verbannung russischer Kollegen in Cannes. Sie haben eine Ukrainerin, die bisher niemand kannte, in den Kreis aufgenommen. Natalia
Seriebrijakova hat nun ausgerechnet ihr einziges »poor« dem russischen Film gegeben – ob das eine rein künstlerische Entscheidung ist?
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Meiner Ansicht nach sagen solche Punktewertungen vor allem etwas über diejenigen aus, die die Punkte vergeben. Es gibt einfach Menschen wie Michel Ciment, der tendenziell großzügig ist und öfters zweimal vier Sterne und und viermal 3 Sterne vergibt. Es gibt Menschen, die neigen zum Extremen und geben ein- oder zweimal »schlecht«, aber auch dreimal 4 Sterne. Und es gibt Menschen, die genau das nicht tun hat und eigentlich immer im Durchschnittssumpf in der Mitte bleiben und meistens
zwei und vielleicht mal drei Sterne vergeben, aber niemals vier oder einen.
Relativ wenig sagen solche Wertungen hingegen über die Filme aus – sie geben allenfalls eine Tendenz wieder.
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Crimes of the future – Verbrechen der Zukunft heißt der neue Film des Kanadiers David Cronenberg. Bemerkenswert, dass zwei Tage lang niemand darüber geredet hat, dass es schon einen Film Cronenbergs gibt, der genau diesen Titel trägt. Es ist einer seiner ersten, er stammt aus dem Jahr 1970. Ugo Brusaporco machte mich darauf aufmerksam.
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Der Film ist für mich die mit großem Abstand größte Enttäuschung im Wettbewerb. Natürlich, weil ich von Cronenberg so viel erwarte. Die Dardennes können mich gar nicht enttäuschen.
Die Credits über ein rotes Seiden-Tuch wecken Erwartungen: Dann ein erstes tolles Bild. Ein Schiff gestrandet, umgekippt, und es gibt einen Plastikeimer, den ein kleiner Junge isst. Er kann Plastik verdauen, ein kleines Monster, und die Mutter tötet ihn daraufhin. Eine tolle erste Szene. Aber alles, was in diesen ersten zehn Minuten passiert, ist stinklangweilig und sinnlos.
Es fallen solche Sätze, wie sie nur in Cronenberg-Filmen fallen können, ohne dass man lacht: »body is reality«. »surgery is the new sex« (da haben doch einige gelacht). Solche Sachen muss man erstmal hinschreiben, aber es reicht nicht. Dieser Film ist von einer tragischen Grundstimmung durchzogen, alles ist humorlos, alles ist auch ein bisschen gestört, aber man begreift nicht wirklich, warum. Manchmal wirkt alles wie die Parodie eines Cronenberg-Films, wie eine unfreiwillige Selbstparodie. Was für ein Schwachsinn.
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»Netflix bereitet seinen Lido-Trip vor« titelt Screen am Dienstag. Weiter heißt es, jeder der dieses Jahr nach Venedig fahren möchte, sollte sich besser schnell um eine Unterkunft kümmern, denn Netflix bucht offenbar ganz viele Lido-Unterkünfte im Vorfeld eines Festivals, bei dem es groß vertreten sein wird. Man darf also wieder mit amerikanischer Präsenz rechnen und zur amerikanischen Präsenz gehört auch der Mexikaner Alejandro González Iñárritu, gehören Noah Baumbach, gehört der Chilene Sebastian Lelio, gehört Guillermo del Toro und Wes Anderson. Mehr und mehr Amerikaner werden in Venedig sein und mehr und mehr birst Venedig aus allen Nähten. Wenn man sich das durchliest, was bei Screen Daily behauptet wird, dann gibt es bis zu 15 amerikanische Filme, von denen etwa die Hälfte unter dem Netflix-Banner segelt. »All eyes are on Barbera« titelt Screen über Venedig.
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Ehemalige Berlinale-Mitarbeiterinnen trifft man viele in Cannes. Man erkennt sie schon daran, dass sie wie demonstrativ mit Berlinale-Taschen durch die Gegend laufen – wie eine ehemalige Mitarbeiterin von Kosslicks Auswahlkommission
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Lustig ist es auch, wenn man dann zu den Leuten, die das Ticket einscannen, Blickkontakt sucht oder von Anfang an aufnimmt. Man merkt, dass sie das nicht gewohnt sind, dass sie hier von den Allermeisten nicht in erster Linie als Mensch gesehen werden, sondern als Funktion – ganz verständlich, aber trotzdem schade. Denn die jungen, wachen intelligenten Gesichter der Leute, die hier arbeiten, versprechen durchaus angenehme persönliche Kontakte, wenn es sie denn gebe. Manchmal kommt es tatsächlich dazu und man merkt, dass einige von denen, die hier während des Festivals beschäftigt sind in den unzähligen kleinen Jobs – Personalmangel herrschen kann nicht – oft Filmwissenschaftler sind oder Kulturwissenschaftler, dass sie sich für das Kino interessieren, dass sie selber total genießen, hier zu sein. Daneben gibt es natürlich auch die Älteren, diejenigen, die man seit Jahren kennt, die man manchmal schon persönlich begrüßt und fragt, wie es denn geht. Das ist mal Smalltalk, routinierter Smalltalk, mal echtes Interesse.
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»Da waren alle drei vergnügt. Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder; Rotkäppchen aber dachte: Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat.«