27.05.2022
75. Filmfestspiele Cannes 2022

»Schönen Dank Wolf!«

Dardenne
Sozial-Porno für die Bessergestellten?
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes)

Wenn in »Rotkäppchen« der Falsche gewinnt: Eine neue »straight story« von den Dardenne-Brüdern, Cronenbergs unfreiwillige Selbstparodie und anderes an der Croisette – Cannes-Tagebuch, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am aller­liebsten aber ihre Groß­mutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. ...
Wie nun Rotkäpp­chen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäpp­chen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. ›Guten Tag, Rotkäpp­chen!‹ sprach er. ›Schönen Dank, Wolf!‹«

- Gebrüder Grimm, Rotkäpp­chen

Es war einmal... Die Dardenne-Brüder sind wieder zurück im »Rosetta«-Terrain: Ein roher Einstieg. Nach nur wenigen Sekunden ist man mitten drin in der Schick­sals­ge­schichte zweier Geschwister aus Afrika, die sich in den Mühlen der belgi­schen oder auch EU-Flücht­lings-Büro­kratie befinden und dort zermahlt werden: Tori und Lokita. Sie müssen lügen um zu überleben, das verstehen wir sofort und es dauert auch nicht lange, da haben wir begriffen, dass es sogar eine Lüge ist, dass es sich bei ihnen um leibliche Geschwister handelt. Tatsäch­lich haben sie sich auf dem Boot kennen­ge­lernt, das sie nach Europa brachte, und beschlossen, sich gegen­seitig nicht mehr zu verlassen, sondern um jeden Preis zusammen zu bleiben. Wahl­ver­wandt­schaften. Von Anfang an ist auch zu ahnen, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen kann. Sondern man verfolgt sie gewis­ser­maßen als Chronik eines angekün­digten Unglücks, als Abstieg aus der Hölle von Schritt zu Schritt.

Jeder ist böse hier oder hat mindes­tens ein kaltes Herz, nur die beiden Geschwister nicht. Aber auch die anderen Flücht­linge, auch die Schwarzen (Afrikaner?), die unter der Maske einer Kirche die Kinder nach Strich und Faden ausbeuten, und mit ihnen Geschäfte machen. Oder wie die Italiener, die Drogen verticken, die Kinder als Liefe­ranten benutzen oder für schmut­zigen Gele­gen­heitssex, und die Lokita schließ­lich in ihrer eigenen, in einem Keller versteckten Drogen­fa­brik schuften lassen.
Immer wieder versuchen die beiden der Mühle zu entkommen, doch nach jedem Versuch ist ihre Lage schlechter als zuvor. Fast hat man den Eindruck, als genössen die belgi­schen Regie-Brüder diese Position der überlegen Wissenden, der Herren ihrer Kinowelt ohne Über­schuss, in der sie jederzeit alle Fäden in der Hand behalten, nichts dem Zufall über­lassen, dafür alles dem Drehbuch, das die Grenzen dieser Welt definiert.
Die Dardenne-Brüder haben zwar auch schon Geschichten erzählt, in denen das Glück Platz hatte, aber der war nie sehr groß und hier sind es nur wenige Momente, die Hoffnung schöpfen lassen.

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Man könnte also sagen, dass die Dardennes wieder einmal einen Sozial-Porno für die Besser­ge­stellten und gebil­deten Schichten des europäi­schen Bürger­tums gedreht haben, das sich am Schicksal armer Afrikaner im weichen Kino­sessel von Cannes berühren lassen und ergötzen kann – ähnlich wie bei der Lektüre eines Grimm'schen Märchens; nur dass diese in der Regel gut ausgehen.
Man muss aber auch fest­stellen, dass dies bewun­derns­wertes und selten konse­quentes Filme­ma­chen ist.

Ähnlich wie die Geschichten der Brüder Grimm sind auch die der Brüder Dardenne straight storys: Ohne Umschweife von A nach B von dort nach C und dann nach D erzählt. Das muss ihnen erstmal einer nach­ma­chen! Das schafft aber keiner. Und wenn man diesen Film sieht, fragt man sich, warum das so ist, warum das, was doch augen­schein­lich ganz einfach und klar ist, fast etwas zu einfach, so selten im Kino zu sehen ist.

Diese Konse­quenz und bewun­derns­werte Souver­ä­nität könnte den belgi­schen Brüdern eine dritte Goldene Palme bescheren – was tatsäch­lich des Guten zu viel und eine absurde Über­trei­bung wäre. Schließ­lich ist dies noch nie jemandem gelungen.

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Park Chan-Woks Geschichten sind das Gegenteil der Geschichten der Dardennes. Der Koreaner, dessen Rache-Tripty­chon – Sympathy for Mr. Vengeance, Oldboy, Lady Vengeance – Anfang der Nuller­jahre das Kino mehr als ziemlich alles andere revo­lu­tio­nierte, was wir seitdem gesehen haben, dreht barocke über­la­dene Filme, die viele Neben­stränge haben, viele Ebenen; Filme, die kein Ende finden, und die, wenn man so will, ganz und gar in der künst­li­chen virtu­ellen Welt des Kinos und seiner internen Wech­sel­be­züge sich aufhalten.

All dies gilt auch für seinen neuen Film Decision to Leave. Formal Genre, ein klas­si­scher Noir mit einem Detektiv, einer Femme Fatale und gehörig viel Fata­lismus. Ein Polizist und eine Mord-Verdäch­tige verlieben sich. Sie ist ein Opfer und Witwe. Es geht um Leiden­schaft, um Essen und Kochen, es geht um die vielen unmit­tel­baren Sinn­lich­keiten, es geht um ein spießiges Leben und die Wünsche daraus auszu­bre­chen. Es geht um den Mate­ria­lismus in Korea.
Im Zentrum steht ein Poli­zei­de­tektiv der Mord­kom­mis­sion, der gern kocht wie Maigret, der in einer unglück­li­chen Fern­be­zie­hung lebt mit einer allzu perfek­tio­nis­ti­schen Wissen­schaft­lerin, die jeden seiner poeti­schen Sätze mit einer Statistik kontert. Seine eigent­liche Leiden­schaft ist die Arbeit. Dieser Detektiv liebt seine ungelösten Fälle und trägt sie oft jahrelang mit sich herum.

Ein Film voller Hingabe über Hingabe: skurril und versponnen, in vieler Hinsicht nicht »perfekt« im Sinne der Dreh­buch­rat­geber, des objektiv »richtigen« Filme­ma­chens – und gerade darum perfekt im Sinne des Zuschauers, der Subjek­ti­vität des Autoren­kinos. Zu Recht hat diesen Film ein Kollege mit Drive My Car, dem besten Filme des Vorjahres, vergli­chen.

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Es ist schon sehr inter­es­sant. Den Film von Valeria Bruni Tedeschi habe ich versäumt und dann später gedacht: Den hätte ich mal nicht versäumen sollen, das ist einer der besten, in jedem Fall der in diesem Jahr wich­tigsten Filme. Im soge­nannten »Jury Grid«, dem Kriti­ker­spiegel von Screen Daily führt noch immer James Grays tatsäch­lich wunder­barer Arma­geddon Time knapp vor dem kaum weniger wunder­baren EO, dem Eselsfilm von Jerzy Skoli­mowski. Dagegen hat Bruni Tedeschis Forever Young mit 1,8 Punkten die schlech­teste Wertung aller Filme, die bisher im Wett­be­werb gezeigt wurden. Nur knapp besser schneidet Ali Abbasi ab, der schwe­di­sche Iraner mit seinem Film Holy Spider, der auch in Deutsch­land co-produ­ziert wurde und dem Katja Nicodemus ihr einziges »Schlecht« gibt, während sie diejenige ist, die Bruni Tedeschis Film am besten unter den Juroren bewertet. Der fran­zö­si­sche Film­kri­tiker Michel Ciment von »Positif«, der letzte lebende Groß­meister der fran­zö­si­schen Film­kritik, gibt ausge­rechnet diesem Film aus seinem eigenen Land die schlech­teste Wertung, während er Ruben Östlund die Höchst­punkt­zahl gibt, und Kiril Sere­bren­nikov.

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Stark disku­tiert wird unter uns Film­kri­ti­kern die Frage, ob es richtig ist, dass die Redaktion von Screen sich entschieden hat, weitere Namen hinzu­zu­fügen.
Sie haben nämlich den Russen Anton Dolin weiterhin in der Runde, nun für das russische Exil-Magazin Meduza. Das ist inter­es­sant und moralisch richtig, ein Statement gegen die pauschale Verban­nung russi­scher Kollegen in Cannes. Sie haben eine Ukrai­nerin, die bisher niemand kannte, in den Kreis aufge­nommen. Natalia Serie­bri­ja­kova hat nun ausge­rechnet ihr einziges »poor« dem russi­schen Film gegeben – ob das eine rein künst­le­ri­sche Entschei­dung ist?

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Meiner Ansicht nach sagen solche Punk­te­wer­tungen vor allem etwas über dieje­nigen aus, die die Punkte vergeben. Es gibt einfach Menschen wie Michel Ciment, der tenden­ziell großzügig ist und öfters zweimal vier Sterne und und viermal 3 Sterne vergibt. Es gibt Menschen, die neigen zum Extremen und geben ein- oder zweimal »schlecht«, aber auch dreimal 4 Sterne. Und es gibt Menschen, die genau das nicht tun hat und eigent­lich immer im Durch­schnitts­sumpf in der Mitte bleiben und meistens zwei und viel­leicht mal drei Sterne vergeben, aber niemals vier oder einen.
Relativ wenig sagen solche Wertungen hingegen über die Filme aus – sie geben allen­falls eine Tendenz wieder.

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Crimes of the future – Verbre­chen der Zukunft heißt der neue Film des Kanadiers David Cronen­berg. Bemer­kens­wert, dass zwei Tage lang niemand darüber geredet hat, dass es schon einen Film Cronen­bergs gibt, der genau diesen Titel trägt. Es ist einer seiner ersten, er stammt aus dem Jahr 1970. Ugo Brus­a­porco machte mich darauf aufmerksam.

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Der Film ist für mich die mit großem Abstand größte Enttäu­schung im Wett­be­werb. Natürlich, weil ich von Cronen­berg so viel erwarte. Die Dardennes können mich gar nicht enttäu­schen.

Die Credits über ein rotes Seiden-Tuch wecken Erwar­tungen: Dann ein erstes tolles Bild. Ein Schiff gestrandet, umgekippt, und es gibt einen Plas­tik­eimer, den ein kleiner Junge isst. Er kann Plastik verdauen, ein kleines Monster, und die Mutter tötet ihn daraufhin. Eine tolle erste Szene. Aber alles, was in diesen ersten zehn Minuten passiert, ist stink­lang­weilig und sinnlos.

Es fallen solche Sätze, wie sie nur in Cronen­berg-Filmen fallen können, ohne dass man lacht: »body is reality«. »surgery is the new sex« (da haben doch einige gelacht). Solche Sachen muss man erstmal hinschreiben, aber es reicht nicht. Dieser Film ist von einer tragi­schen Grund­stim­mung durch­zogen, alles ist humorlos, alles ist auch ein bisschen gestört, aber man begreift nicht wirklich, warum. Manchmal wirkt alles wie die Parodie eines Cronen­berg-Films, wie eine unfrei­wil­lige Selbst­par­odie. Was für ein Schwach­sinn.

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»Netflix bereitet seinen Lido-Trip vor« titelt Screen am Dienstag. Weiter heißt es, jeder der dieses Jahr nach Venedig fahren möchte, sollte sich besser schnell um eine Unter­kunft kümmern, denn Netflix bucht offenbar ganz viele Lido-Unter­künfte im Vorfeld eines Festivals, bei dem es groß vertreten sein wird. Man darf also wieder mit ameri­ka­ni­scher Präsenz rechnen und zur ameri­ka­ni­schen Präsenz gehört auch der Mexikaner Alejandro González Iñárritu, gehören Noah Baumbach, gehört der Chilene Sebastian Lelio, gehört Guillermo del Toro und Wes Anderson. Mehr und mehr Ameri­kaner werden in Venedig sein und mehr und mehr birst Venedig aus allen Nähten. Wenn man sich das durch­liest, was bei Screen Daily behauptet wird, dann gibt es bis zu 15 ameri­ka­ni­sche Filme, von denen etwa die Hälfte unter dem Netflix-Banner segelt. »All eyes are on Barbera« titelt Screen über Venedig.

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Ehemalige Berlinale-Mitar­bei­te­rinnen trifft man viele in Cannes. Man erkennt sie schon daran, dass sie wie demons­trativ mit Berlinale-Taschen durch die Gegend laufen – wie eine ehemalige Mitar­bei­terin von Kosslicks Auswahl­kom­mis­sion

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Lustig ist es auch, wenn man dann zu den Leuten, die das Ticket einscannen, Blick­kon­takt sucht oder von Anfang an aufnimmt. Man merkt, dass sie das nicht gewohnt sind, dass sie hier von den Aller­meisten nicht in erster Linie als Mensch gesehen werden, sondern als Funktion – ganz vers­tänd­lich, aber trotzdem schade. Denn die jungen, wachen intel­li­genten Gesichter der Leute, die hier arbeiten, verspre­chen durchaus angenehme persön­liche Kontakte, wenn es sie denn gebe. Manchmal kommt es tatsäch­lich dazu und man merkt, dass einige von denen, die hier während des Festivals beschäf­tigt sind in den unzäh­ligen kleinen Jobs – Perso­nal­mangel herrschen kann nicht – oft Film­wis­sen­schaftler sind oder Kultur­wis­sen­schaftler, dass sie sich für das Kino inter­es­sieren, dass sie selber total genießen, hier zu sein. Daneben gibt es natürlich auch die Älteren, dieje­nigen, die man seit Jahren kennt, die man manchmal schon persön­lich begrüßt und fragt, wie es denn geht. Das ist mal Smalltalk, routi­nierter Smalltalk, mal echtes Interesse.

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»Da waren alle drei vergnügt. Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Groß­mutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäpp­chen gebracht hatte, und erholte sich wieder; Rotkäpp­chen aber dachte: Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat.«