20.05.2022

Eseleien zum Auftakt

Jerzy Skolimowski · 75. Filmfestpiele Cannes
Vielleicht sollte man die Goldene Palme durch die Goldene Mohrrübe ersetzen?

Der Cannes-Wettbewerbsbeitrag von Jerzy Skolimowski EO ist fast komplett aus Eselsperspektive erzählt. Das ist mindestens so ungewöhnlich wie die Roben auf der Croisette

Von Dunja Bialas

»E-O«, oder ins Deutsche übersetzt: »I-A«. So schlicht, mit zwei onoma­to­poe­tisch anein­an­der­ge­fügten Buch­staben, beginnt mein erster Wett­be­werbs­film um die Goldene Palme, auf meinem aller­ersten Cannes-Festival. Ich bin eine Novizin, viel­leicht sogar eine Eselin, ausge­stattet mit der Holz­klasse der Akkre­di­tie­rungen. Aber anders als es die Aufregung der letzten Tage vermuten ließ, als ich noch aus der Ferne über den Zaun der Pass­wörter in den geschützten Inter­net­space von Cannes blickte und mich in die Raffi­nessen meines persön­li­chen Accounts einge­ar­beitet habe, lässt sich das welt­wich­tigste Festival vor Ort ungleich gelas­sener an. Ja, es gibt die Abend­roben mit viel Tüll und Schleppe (das Wort kommt eindeutig von »schleppen«) und die Smokings mit Fliege, und natürlich auch die halb­nackten, lang­bei­nigen, gebrä­unten Starletts. Auffäl­liger als der ganze Glamour sind die Absperr­gitter, die einem überall den Weg vorgeben und die Schlangen zum Einlass in geordnete Bahnen lenken.

Ja, man fühlt sich wie eine Eselin, die, anders als der Esel auf der Leinwand, nicht an die Schlacht­bank geführt, vielmehr in eine Paral­lel­welt der Privi­le­gien geschleust wird, die sich im Inneren des Grand Palais auftut. Hier finden die großen Premieren mit Abendrobe und Smoking statt, aber auch die Pres­se­vor­füh­rungen, zu denen es keinen Dresscode gibt. EO ist die Welt­pre­miere eines Films aus der Feder eines film­his­to­ri­schen Urge­steins. Jerzy Skoli­mowski erzählt in ihm schlicht und ergrei­fend von den miss­li­chen Aben­teuern eines Esels und schafft damit eine Art Remake des Bresson-Klas­si­kers Au hasard Balthazar, in dem es grob gesagt ebenfalls um einen geknech­teten Esel ging. EO von Skoli­mowski spitzt den in das Verderben führenden Plot zu einem fast epischen Leinwand-Schel­men­roman zu. Erzählt wird, wie der Esel »EO« vom Regen in die Traufe kommt, von einer zunächst glück­li­chen Existenz im Zirkus Orion, dessen Domp­teurin Magda ihn abgöt­tisch liebt und ihm innige Kunst­stücke beizu­bringen weiß, zu immer neuen Herren, die zuerst einmal alle nur sein bestes Tierwohl wollen. Zumindest als Absichts­er­klärung. Alles fängt an, als Tier­schützer den Esel aus dem Zirkus befreien, ab da wird er ungeliebt von einem Herrn zum nächsten geschubst, bis er schließ­lich auf der Flucht ist. Denn am Ende einer jeden Episode landet er doch immer nur unter dem Esels­ge­schirr und zieht einen Karren, wird ange­trieben und ausge­peitscht, weil die Menschen die Geduld verlieren, wenn der Esel nicht so will wie sie. Sehr, sehr oft blickt man in ein überaus trauriges schwarzes Eselsauge, das die ein oder andere Träne fließen lässt. Der Film ist nahezu konse­quent aus der Perspek­tive des Esels erzählt und kommt folglich fast ganz ohne Dialoge aus. Statt dessen sind auf einer ausge­feilten Soundspur allerlei Tierlaute zu hören: das schnar­rende Krabbeln von Ameisen über einen Baumstamm, das U-huen eines Käuzchens im Wald, das Bellen der Hunde auf den Höfen, das schrille Aufkrei­schen häss­li­cher Hyänen in Käfigen und das ohren­be­täu­bende Aufwie­hern von Zucht­pferden auf einer Koppel. Letzteres wird visuell unter­s­tützt durch Weich­zeichner und Zeitlupe, und man fühlt sich wie in einem Pfer­de­film für Erwach­sene. Und natürlich ist ganz oft zu hören, wie der Esel sein Klagelied in die Nacht hinaus­ruft: »I-A! I-A!« Da werden sogar Steine weich.

Jerzy Skoli­mowski gehört zur Neuen polni­schen Welle der Sech­zi­ger­jahre, ist heute 84 Jahre alt, zu seinen berühm­testen Werken zählen Le départ (1967) und die Dialoge zu Roman Polanskis Das Messer im Wasser (1962), mit dem zusammen er die Neue polnische Welle lostrat. Er warf mit seinen Filmen Erzähl- und Produk­ti­ons­kon­ven­tionen über Bord, pflegte den kreativen Anar­chismus und erzählte vom Schicksal listiger Über­le­bens­künstler am Rande der Gesell­schaft. Mit einfachsten Mitteln entstanden Geschichten über strau­chelnde Klein­kri­mi­nelle, traum­hafte poli­ti­sche Parabeln oder kraft­volle Schick­sals­er­zäh­lungen, die die Welt filmisch auf den Kopf stellten.

Von allem diesen haben auch EO und sein Prot­ago­nist etwas. Es ist durchaus unge­wöhn­lich, auf Spiel­film­länge der Esels­per­spek­tive zu folgen, was anders auf die Welt blicken lässt als mensch­liche Prot­ago­nisten. Immer werden zunächst die Tiere angesehen, die Menschen sind in diesem Universum reine Rand­er­schei­nung, diffuse Umwelt, die das Schicksal der Tiere in der Hand hält. Sie erscheinen laut und brutal, selbst die Gegen­s­tände entfachen mehr Empathie beim Zuschauer als die Kreaturen auf zwei Beinen. Wenn ein Fußball gekickt wird, wie einmal, als EO auf ein Fußball­feld gelangt, geht die Kamera auf Ballhöhe und erzählt von dem gewal­tigen Stoß, den der Fußball erleidet. Das ist fast lupen­reiner agen­ti­eller Realismus, nach dem die Welt nicht von »Dingen bevölkert wird, die sich mehr oder weniger vonein­ander unter­scheiden. Bezie­hungen hängen nicht von ihren Relata ab, sondern umgekehrt«, wie die Physi­kerin Karen Barad theo­re­ti­siert. Das heißt: jedes Ding kann Zentrum der Welt sein, nicht nur der Mensch, der mit Immanuel Kant als erken­nendes Wesen auf sie blickt. Es ist eine radikale Perspek­tiv­um­keh­rung oder -verzer­rung, gar die Verab­schie­dung des Anthro­po­zäns, die Skoli­mowski hier mit großer Lust anwendet. Natürlich drängen sich aber vor allem die Theorien der Animal Studies à la Donna Haraway auf. Die femi­nis­ti­sche Cyborg-Theo­re­ti­kerin hat in ihrer späten Phase die Tiere entdeckt. Mit den »companion species« betrachtet sie Haus- und Nutztiere nicht allein aus Menschen­per­spek­tive, sondern kann auch Tiere als Akteure sehen. Akteure, oder wie bei Skoli­mowski: Prot­ago­nisten, die sogar einen ganzen Film tragen können.

EO ist so ein durchweg über­ra­schender Beitrag zu diesen überaus ange­sagten Theorien. Trotzdem kann getrost ange­zwei­felt werden, dass Skoli­mowski diese beiden eminenten Philo­so­phinnen gelesen hat. In erster Linie ist EO so auch ein flam­mendes Plädoyer für die Liebe zu Tieren, für ihre Achtung – und für den Vege­ta­rismus. Das ist manchmal plakativ (wie am Ende die explizite Texttafel oder die sich aufdrän­gende Musik), oft vers­tö­rend, wenn die Tiere über die Montage mitein­ander zu kommu­ni­zieren scheinen und fordert die die eigene Toleranz heraus. Soll und kann ich mich jetzt wirklich über 90 Minuten mit einem Esel iden­ti­fi­zieren?, frage ich mich, als sich der Film zu erkennen gibt. Unbehagen dann, weil der Film das Tier ja durch den Film selbst in eine Zwangs­lage bringt: Dreh­ar­beiten, Kamera, »Action«, Dressur, Transport zu den Drehorten. Fünf Namen werden im Abspann für die Besetzung von EO genannt, fünf Esels­namen natürlich. In diesem Moment, das sei zuge­standen, hat die tier­fa­bel­hafte Erzählung schon ihre Wirkung entfaltet: Ich habe die Perspek­tive des Esels einge­nommen.

Der typisch linearen Schel­men­roman-Drama­turgie des drögen »vom Regen in die Traufe« heizt Skoli­mowski durch Gewalt­erup­tionen kräftig ein. EO wird geschlagen, häufig, gewalt­voll, einmal lebens­ge­fähr­lich. Mit »drei Hufen« sei er schon im Jenseits gewesen, disku­tieren die Tier­pfleger, die ihn gefunden haben, soll man ihn nun heilen, oder nicht besser einschlä­fern? Auch wenn sich der Esel im Laufe der sich zuspit­zenden Gewalt immer kräftiger wehrt: am Ende hält doch nur der Mensch eine tödliche Klinge in der Hand, und nur der Esel ist immer unschuldig, weil er kein wollendes Bewusst­sein hat. Mora­li­sie­rung wäre Anthro­po­mor­phi­sie­rung, und das erspart uns Skoli­mowski, bis auf wenige Momente, in denen der Esel von seiner geliebte Magda träumt.

Ob die Geschichte vom Esel meta­phern­taug­lich und alle­go­risch zu lesen ist, frage ich mich während des Films. Anders als etwa Border (2009) des arme­ni­schen Regis­seurs Harutyun Khach­a­tryan, der einen frei­heits­lie­benden Büffel im Grenz­ge­biet von Armenien-Aser­bai­dschan als symbol­haften Helden für die jüngere Geschichte insze­nierte, sucht man in EO vergeb­lich nach einer vergleich­baren, abstrak­teren zweiten Ebene. Skoli­mowski scheint in dieser Spätphase seines Werks den Menschen nur noch als Spezies sehen zu können, die am besten abdanken sollte. Ein Kommentar auf die aktuelle poli­ti­sche Lage in Polen lässt sich natürlich leicht behaupten, drängt sich aber nicht auf.

Und so reiht sich EO in seiner Selt­sam­heit in die Linie des avant­garde-getrie­benen poli­ti­schen Kinos ein, das niemals vorder­gründig politisch ist, sondern in der Wahl seiner ästhe­ti­schen Mittel den Angriff auf das herr­schende System, hier den Menschen in toto, wagt.

Mal sehen, wie lange diese vorü­ber­ge­hende Esels-Iden­ti­fi­ka­tion anhalten wird. Ich fühle mich am heutigen zweiten Tag schon viel mehr als Akteurin als gestern, nicht mehr wie ahnungs­loses Pres­se­vieh. Ich habe also vom Esel gelernt. Ich bin jetzt eine Checker-Cannes-Novizin, die noch immer nicht schlecht staunt.