75. Filmfestspiele Cannes 2022
»Ich gehe in ein anderes Blau« |
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Keineswegs zufällig gewählt: das Plakat zu den diesjährigen 75. Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2022 | ||
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes) |
»Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. ... Sein Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete.« – Novalis
»Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich
mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus
den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane aus totem
Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?
Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau« – Rolf Dieter Brinkmann
Der Himmel ist blau und das Leben ist schön. Schon vor der offiziellen Eröffnung läuft im Cinema de Plage des Festivals bereits Die Truman Show. Peter Weirs Film liefert auch das Motiv zum diesjährigen Filmplakat. Es ist keineswegs zufällig gewählt. Es zeigt den Moment, bevor Truman die Tür zum Außen öffnet, zum Jenseits seiner bisherigen Welt.
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Erinnert man sich noch an diesen Film? Wohl schon. Mit diesem und ein paar anderen Filmen – Strange Days, Gattaca, Matrix, eXistenZ, The Thirteenth Floor, Lola rennt – fing damals 1997/98/99 auf der Kinoleinwand unsere Gegenwart an, in der Realität und Virtualität nicht mehr trennscharf voneinander zu unterscheiden sind. Ich nehme an, viele wissen sogar noch wie sie ihn damals im Kino gesehen haben.
Die Truman Show handelt von einem früheren Beispiel von Reality-TV. Eine Art frühes »Big Brother«. Der Clou ist, dass der Titelcharakter nicht weiß, dass ein ganzes Leben eigentlich ein Fake ist, eine Show, und dass alle anderen inklusive seiner Ehefrau eigentlich Schauspieler sind, die Rollen spielen. Irgendwann häufen sich die Zeichen und er erkennt: Er lebt im falschen Leben.
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Dies ist bis heute ein metaphernreicher Film. Einige sind sogar dazugekommen: Aktuell kann man an die Pandemie denken: raus aus dem Lockdown. Dieser Truman ist in einer Art Lockdown.
Wir können aber auch an unsere ganzen Debatten über »Fake News« und über »Alternative Truth« denken, über die Frage: Was ist Lug und was ist Trug? Wem kann man trauen?
Den Medien kann man zum Beispiel dieser Truman-Welt nicht trauen. Demnach müsste Truman Burbank gesehen werden als amerikanischer
Held, der Film als das Porträt eines Explorers (davon träumt die Figur), des einen Menschen, der die Lügen und die von den Systemmedien aufgebaute Scheinwelt entlarvt, die Ideologie.
Man kann den Film aber auch in die umgekehrte Richtung verstehen: Als Porträt des Anhängers einer Verschwörungstheorie, eines Querdenkers. Denn da ist ein Mensch, der sagt: »Ich werde verfolgt! Ich werde von allen anderen beobachtet! Nichts ist wahr! Ich habe etwas durchschaut, das ihr alle nicht
erkannt habt.«
Ich glaube, es ist eine Schwäche dieses Films, dass er beide Lesarten zulässt und nicht den Mut hat, sich auf eine Seite zu schlagen. Er hält sich im Ungewissen und leistet einem kompletten Relativismus Vorschub, auch eines moralischen und politischen. Das passt zu seiner ästhetischen Konventionalität.
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Lohnen tut sich Die Truman Show aber unbedingt. Zum Stil und soeben bemerkt Unkonventionalität muss man auch sagen, dass dies ein Film ist, der auf Eastman Color Material gedreht wurde und dem man das jederzeit anzieht. Es ist ein richtiger Kinofilm, der nicht diese unangenehme digitale Klarheit heutiger Filme hat.
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Ein kleines bisschen ist dieser Ort, dieser Küstenort namens »Seaside Florida« aber auch wie Cannes selbst. Ein künstlicher Ort, zwischen Eskapismus und Hochmanipulation.
Auch wir begeben uns jetzt auf eine Reise, die zwei Wochen dauern wird, an einen Ort, an dem wir von der Welt da draußen nicht viel mitbekommen. Wir sehen ganz viele Filme und sind damit ganz in einem virtuellen Kosmos, gefangen, oder zu ihm verführt. Die Wirklichkeit findet in diesem Kosmos nicht statt. Oder jedenfalls nur sehr vermittelt.
Roh höchstens noch, wenn ein Wolodimir Selenskij sich per Livestream zu Wort meldet, wie bei der Eröffnung geschehen. Oder wenn im Programm ein
paar ukrainische Filme zu sehen sein werden, wofür sich ja jetzt alle möglichen Leute begeistern und darin auskennen.
Aber viel mehr auch nicht. Wir sind dann ganz im Kino-Land.
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Wenn wir an die Filme selber denken, sehen wir einige Vielfalt, aber vor allem sehen wir hohes Niveau: Wenn wir das Programm durchstreifen, sehen wir einerseits einen klassischen, dabei modernen und gewitzten Regisseur alter Schule mit Genre-Interessen, David Cronenberg, der einen Film mit einem seiner Lieblingsschauspieler macht.
Dann gibt es Claire Denis, die auch im Kontext des französischen Kinos eine Außenseiterin ist. Wir haben Regisseure wie die Brüder Dardenne, die
quasi Stammgäste sind. Und Neulinge. Es ist ganz erstaunlich, was für eine Spannbreite an Stoffen und Menschen hier zu sehen sind.
Zugleich kann man sagen: Es ist mal wieder die übliche Mischung aus bewährten alten Meistern, die quasi zur gar nicht so kleinen, aber doch übersichtlichen Cannes-Familie gehören, und Neulingen, bzw. Neuerwerbungen von anderen Festivals.
Jedes Jahr gibt es auch die einen oder anderen, die verstoßen werden. Es traf schon mal Arnaud Desplechin, der diesmal wieder im Wettbewerb läuft. Dieses Jahr traf es offensichtlich Mia Hansen Love. Mit ihrem neuen Film ist sie in der
Quinzaine vertreten. Ein bisschen überraschend ist auch, das Léa Mysius, deren Ava vor vier Jahren in der Semaine de la Critique eine kleine Sensation unter den französischen Debüts war, es diesmal mit ihrem neuen Film nur in die Quinzaine geschafft hat, nicht aber in Un Certain Regard – das hätte man erwartet. Immerhin ist Asien zurück. Zwei Filme aus dem
größten Kontinent der Welt werden im Wettbewerb gezeigt, der damit insgesamt doch wieder auf Europa zentriert ist.
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Vollmond durch diesigen Nebel verunklart, ein wenig wie Vaseline-Filter vor dem Kameraauge. So sieht Cannes am ersten Abend aus. Der Gang vor dem Festivalbeginn macht das postpandemische Cannes in all seiner öden Nüchternheit sichtbar. Das »Hotel de Septième Art« (also des Kinos) ist längst geschlossen. Postpandemisches Cannes heißt nicht besser oder »anders«, sondern heruntergekommen. Mein Stammcafé »Le Crillon«, das auch für viele andere eine Art Festivalheimat war, war bereits im vergangenen Jahr geschlossen, und die Hoffnung, dass sich das verflüchtigen würde, zerstob gleich bei der Ankunft.
Geschlossen ist auch das Pub namens »Station Tavern«, das größere Gruppen von Fußballfans, vor allem aus Lateinamerika und Spanien, durch zwei Dekaden Champions League begleitet hat.
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Viele Asiaten können wegen der Pandemie nicht anreisen. Dann kommen wirtschaftliche Verwerfungen hinzu, die hohen Kosten, unter denen Lateinamerikaner genauso leiden wie auch die Türken.
Die schlechten Besucherzahlen für das Kino nach der Pandemie schlagen auf die Stimmung. Das Kino muss überleben und soll überleben, soll weitergehen. Glaubt man. Soll es? Muss es?
Vielleicht wandert das Kino, wandern die Gefühle, die Haltungen, die Seelenzustände, die es berührt, aus in ein
anderes Reich. »Was kommt nach dem Ende?« fragt die großartige Ausstellung über »Katastrophe« im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt https://www.festival-cannes.com/en/, die passenderweise bald zu Ende geht. Man kann diese Frage auch aufs Kino münzen. Cannes muss eine Antwort geben, das
ewartet man für diesem Festival. Welches sollte es sonst tun?
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Man hat gerade nicht das Gefühl, dass die Dinge besser werden.