03.03.2022

Fiktionsentzug

Forum 2022 / Jorge Jácome
Super Natural: die sprechende Frucht
(Foto: Forum 2022 / Jorge Jácome)

Bruchlinien zwischen narrativem und dokumentarischem Film: Die Filme des »Forum« führen auch bei der Berlinale 2022 in Grenzbereiche zwischen dem Dokumentarischen und Erzählerischen

Von Wolfgang Lasinger

Man konnte den Eindruck haben, dass das Forum nicht mehr so sichtbar war wie in früheren Ausgaben. Lag es an der Sektion »Encoun­ters«, die es jetzt im dritten Jahr gibt und die sich als Komple­mentär-Wett­be­werb mit expe­ri­men­tier­freu­di­geren Erzähl­formen etabliert haben dürfte? Lag es daran, dass es den buch­starken Forum-Katalog nicht mehr gab, in dem sich in den letzten Jahren die beacht­liche Gewich­tig­keit des Forum-Programms bereits physisch und konkret mate­ria­li­siert hatte?

Schwer zu sagen: Das dies­jäh­rige Forum wartete allemal mit beacht­li­chen Filmen jenseits der konven­tio­nellen Genre-Schub­laden auf. Und auch die Forum-Seite des Arse­nal­kinos bot reich­li­ches Material, das den fehlenden Katalog zu ersetzen vermochte – hätte man es vorab gewusst.

Denn leider lotste die offi­zi­elle Programm­seite der Berlinale die Inter­es­sierten nicht direkt auf diese Seiten hin. Hatte man sie aber ange­steuert, so konnte man dort wieder in vielerlei Begleit­texten zu den Filmen stöbern und eine konti­nu­ier­liche Arbeit an filmäs­the­ti­schen Ausdrucks­mit­teln verfolgen.

Grenz­gän­ge­risch

Immer schon spielte das Forum mit den Grenzen zwischen dem Ästhe­ti­schen und dem Poli­ti­schen, was sich formal häufig in der immer wieder aufs Neue vorge­nom­menen Aushand­lung der Grenzen und Berüh­rungs­punkte zwischen dem Doku­men­ta­ri­schen und dem Fiktio­nalen, zwischen dem Essay­is­ti­schen und dem Narra­tiven nieder­schlug. Markante Beispiele dafür gab es auch 2022 genug.

Der chile­ni­sche Film El Veterano von Jerónimo Rodríguez handelt von der Suche nach einer Geschichte, nach einer erzähl­baren Geschichte, die auf Gerüchten basiert. Es handelt sich um die Geschichte des US-ameri­ka­ni­schen Priesters Thomas J. Maney (1925-2004) vom Maryknoll-Missi­ons­orden, der in den 50er-Jahren im südlichen Chile wirkte und von dem es dort hieß, er habe am Abwurf der Atombombe über Hiroshima maßgeb­lich mitge­wirkt.

Rodríguez' Film berichtet von den Recher­chen zu diesen Gerüchten, indem er auf der Tonspur im Voice-Over davon erzählt, und zwar als einem Projekt, an das sich zwei Freunde namens Julio und Gabriel machen. Der Tonfall ist nüchtern, trocken, lakonisch, auf die knappen Fakten des Alltags und der Reisen im Zusam­men­hang mit der Recherche reduziert. Der Bericht handelt von Begeg­nungen und Zerwürf­nissen der Freunde, er handelt von Lektüren, von anderen künst­le­ri­schen und jour­na­lis­ti­schen Arbeiten der Freunde, er handelt schließ­lich auch von Korrek­turen und Revi­sionen, die das Projekt erfährt, dessen Reali­sa­tion der Film El Veterano sein könnte, den wir gerade sehen.

Doch was zu sehen ist in den durchweg festen Einstel­lungen, das sind lediglich Ansichten von Orten: menschen­leere Orte, Fassaden, Mauern, Plätze, Straßen, Geschäfte, Plakate, Schilder, Land­schaften, locations, die mit den im Voice-Over immer wieder fallenden Ortsnamen korre­spon­dieren.

Die berich­tete Suche führt durch viele Straßen­züge von Santiago de Chile, führt in ländliche Provinzen südlich von Santiago, in die Ortschaften Curepto und Licantén, führt dann in die USA, nach Queens, Manhattan, Phil­adel­phia und Iowa.

Diese Bilder von den Orten enthalten uns immer etwas vor, auch das dazwi­schen einge­fügte Found-Footage-Material eines Super-8-Films aus den 50er-Jahren, mit Aufnahmen vom Panama-Kanal, Bildern von der Arbeit am Kanal und private Bilder von ameri­ka­ni­schen Beschäf­tigten und deren Fami­li­en­an­gehö­rigen, auch diese Aufnahmen liefern nur das Substitut für das Zeit­ko­lorit, in das die Recherche über den US-Soldaten und späteren Missi­ons­pries­ters Maney eigent­lich zurück­führen sollte.

Provo­zie­rende Gleich­mü­tig­keit: Rodríguez

Wir haben es hier mit einer Art filmi­schem Essay zu tun, der Bild und gespro­chenen Text mit geradezu provo­zie­render Gleich­mü­tig­keit neben­ein­an­der­her­laufen lässt und der damit die Geschichte, die er anvisiert, in ein Off jenseits von Bild- und Tonspur verbannt.

Dabei baut die Voice-Over-Erzählung mit ihrer sachlich nüch­ternen, aber doch poin­tierten Lakonik eine Atmo­sphäre auf, die an Texte von Jorge Luis Borges denken lässt, an eine Art intel­lek­tu­elle Detek­tiv­ge­schichte, in der die Wirk­lich­keit auf knappe Signa­turen reduziert wird: Die Bilder weigern sich aber beharr­lich, als Illus­tra­tionen zum Gesagten lesbar zu sein, der Voice-Over-Text entzieht uns hart­nä­ckig die verspro­chene Fiktion, indem er unfertig bleibt. Zwischen Bild und Text insis­tiert jedoch das Histo­ri­sche der poli­ti­schen Geschichte, von der Unter­wer­fung der Mapuche-Indios im Süden Chiles über den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg der 50er und 60er Jahre bis zu den Graffiti, die von den Protest­be­we­gungen in der jüngsten Gegenwart Chiles zeugen.

Maximale Fakti­zität: Perel mit Bruzzone

Die Methode des Argen­ti­niers Jonathan Perel (Toponimia, 2015, oder Responsa­bil­idad empre­sa­rial, 2020 im Forum) ist geprägt von einer ähnlichen Askese und proto­kol­la­ri­schen Konse­quenz: radikale Reduktion des Bildes, maximale Fakti­zität der (re)zitierten Akten und Daten. Perel betätigt sich wie in diesen Filmen auch in seinem dies­jäh­rigen im Forum program­mierten Camuflaje als filmi­scher Topograph der Schrecken der argen­ti­ni­schen Mili­tär­dik­tatur. Er gibt aber nun die strengen Zügel aus der Hand und überlässt dem argen­ti­ni­schen Autor Félix Bruzzone die Leitung durch den Film: die Grund­an­ord­nung bleibt jedoch doku­men­ta­risch. Bruzzones Eltern sind Opfer der argen­ti­ni­schen Militärs, sie sind in dem Konzen­tra­ti­ons­lager verschwunden, das auf dem Armee­gelände Campos de Mayo betrieben wurde, das in Camuflaje erkundet wird. Bruzzone lebt in der Nähe dieses Geländes, und als er der Bedeutung dieser Örtlich­keiten gewahr wird, beginnt er zu joggen: um dieses Gelände herum, das als Sperr­ge­biet nicht frei zugäng­lich ist und als befremd­liche Zone aus der Vergan­gen­heit in die Gegenwart hinein­ragt. Bruzzones obses­sives Joggen wird zum Leitmotiv des Films. Perel heftet sich mit seinem Kame­ra­team an die Fersen Bruzzones und folgt den Flucht­be­we­gungen des Läufers, die in peri­pheren Bewe­gungen das Sperr­ge­biet glei­cher­maßen zu meiden wie zu erkunden bestrebt sind. Von den Rändern und den Säumen der Zone führen sie immer weiter hinein ins Zentrum / Epizen­trum des Militärs.

Parallel zu den Lauf­be­we­gungen betätigt sich Bruzzone als redender, Gespräche suchender Inter­viewer, Gespräche im Gehen oder gar im Laufen: Er spricht mit Verwandten über seine verschwun­denen Eltern, er spricht mit Leuten, die das Gelände aus biolo­gi­scher Perspek­tive erkunden; als Sperr­ge­biet ist es zum Rück­zugs­raum seltener Pflanzen- und Tierarten geworden. Andere sehen hier einen großen Aben­teu­er­spiel­platz, auf dem sie sich verbo­te­ner­weise herum­treiben, andere holen sich »authen­ti­sche« Erde aus dem blut­ge­tränkten Boden, um sie in Buenos Aires als Souvenir des Terrors zu verkaufen.

Ein spie­le­ri­scher Gestus der Auto­fik­tion scheint Bruzzones Laufmanie und seine Befra­gungen zu leiten, der plaudrige Ton der Gespräche lullt trotz der schweren Thematik ein – doch das ist eine Täuschung, das ist Tarnung. Die Camou­flage des Joggers eröffnet nämlich unver­se­hens einen Zugang zum Gelände, der zunächst undenkbar schien. Es findet dort ein kommer­zi­elles Event, eine Art Volkslauf statt, ein Military-Hinder­nis­rennen, der soge­nannte »Killer Race«. Als Teil­nehmer dieses Laufes gelangt Bruzzone mit der ihn beglei­tenden, seinen Lauf als Hobby-Sportler doku­men­tie­renden Kamera nun in Bereiche des ehema­ligen Lagers, für die sonst wohl keine offi­zi­ellen Dreh­ge­neh­mi­gungen gegeben worden wären. An diesem Höhepunkt des Films wird nicht mehr geredet, es herrscht nun Schweigen, eine beklem­mende Wort­lo­sig­keit, mit der er Verschan­zungen, Bunker und verlies­ar­tige Anlagen passiert, in denen seine Mutter gefangen gewesen und umge­kommen sein könnte. An einer früheren Stelle des Films beging Bruzzone eine virtuelle Nach­bil­dung des Lagers mit einer VR-Brille: die künst­li­chen Simu­la­tionen kamen in keiner Weise an die Beklem­mung heran, die nun für den Teil­nehmer des mili­täri­schen Hinder­nis­ren­nens entstehen.

Auto­fik­tion und das Doku­men­ta­ri­sche

Perel und Bruzzone führen das Doku­men­ta­ri­sche über den Durchgang durch das Auto­fik­tio­nale an eine perfor­ma­tive Verge­gen­wär­ti­gung des Wirk­li­chen heran, die nicht ohne die bewusst gemachte Präsenz der Film­ka­mera möglich ist. Darum ist auch die ansonsten folgenlos bleibende Begegnung des Filmteams mit patrouil­lie­renden Soldaten in der Sperrzone von struk­tu­reller Bedeutung: hier ist eine Erneue­rung des Cinéma-Vérité-Gedankens von Jean Rouch und Edgar Morin zu bemerken, der Spuren­ele­mente des Auto­fik­tio­nalen in diesem Konzept aufzu­zeigen vermag.

Führen der Chilene und der Argen­ti­nier das Doku­men­ta­ri­sche an die Grenzen des Erzählens, um es wirkungs­voller zurück­zu­binden an Reales, an Histo­risch-Poli­ti­sches, so finden sich in einem anderen Filmduett des Forums Formen der Aufhebung des Doku­men­ta­ri­schen in einem essay­is­ti­schen Duktus, der nichts Gerin­geres anstrebt, als neue Arten des Natur­ver­hält­nisses zu arti­ku­lieren. After­water von Dane Komljen und Super Natural von Jorge Jácome stehen in einem Reso­nanz­ver­hältnis, das sich auch in einem gegen­sei­tigen Respons der Regis­seure auf ihre Filme auf der Arsenal-Seite des Forum-Programms nieder­schlägt (Komljen über Super Natural; Jorge Jácome über After­water).

Diskurs-Instal­la­tionen: Komljen, Jácome

Beide Filme sind nicht-narrative, non-fiktio­nale und auch nicht-doku­men­ta­ri­sche Arbeiten, die vor allem mit essay­is­ti­schen Struk­turen und gefilmten Perfor­mance-Elementen aufwarten, die lose Impres­sionen und Moment­auf­nahmen sammeln und bündeln in medi­ta­tiven Tableaus.

Man kann sie in einem gewissen Sinn als Diskurs-Instal­la­tionen bezeichnen, die aktuell disku­tierte Ansätze inklu­siven und anti-spezi­es­ti­schen Denkens aufgreifen und die im Anthro­pozän manifest gewordene Dominanz des Menschen in Natur und Kosmos zu über­winden streben. Beide Filme haben Züge einer Land­schafts- und Natur-Medi­ta­tion, die tradi­tio­nelle Arten der Natur­ver­ein­nah­mung (wie roman­ti­sche Korre­spon­denz­land­schaft oder tech­ni­sche Natur­be­herr­schung) hinter sich lassen.

Jácome macht das auf spie­le­ri­sche Weise, die auch das alberne Scherzo nicht verschmäht, Komljens Tableaus von Körpern in Gewäs­ser­land­schaften strahlen eine sublime Eleganz aus, die perfor­ma­tive Formen der Natur­an­schmie­gung vorführt. Immer steht in diesen Filmen jedoch das Sinnliche vor dem Begriff­li­chen, die Anschau­lich­keit des Gezeigten lässt keine konzep­tu­elle Fest­le­gung zu, sondern lädt zu poeti­scher Offenheit ein.

Wir haben hier Beispiele einer womöglich neuen Film­sprache jenseits narra­tiver und demons­tra­tiver Schemata, die das Verhältnis zwischen dem Fiktio­nalen und dem Doku­men­ta­ri­schen grund­le­gend neu verhan­deln.