Wenn die Leinwand zum Megaphon wird |
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Sich lieber mit Freunden betrinken? | ||
(Foto: © Jeonwonsa Film Co. Production) |
»Le cinéma ne pose pas de questions. Le cinéma ne donne pas de réponses.«
Jean-Luc Godard (im Encounters-Film A Vendredi Robinson)
Wer ins Kino geht, möchte womöglich etwas erfahren. Vielleicht über die Welt, in der wir leben. Vielleicht über das Kino von morgen. Vielleicht über sich. Allemal möchte er etwas erleben, jetzt und hier, unmittelbar. Man möchte auf Fragen gestoßen werden, auf Fragen die einen vielleicht auch noch morgen und übermorgen beschäftigen. Und man möchte keine billigen Antworten serviert bekommen.
Preise und Preisverleihungen geben nie Antworten. Sie stellen auch selten Fragen, und wenn, dann handeln diese Fragen dann meistens nur davon, was sich denn jetzt schon wieder diese Handvoll Leute gedacht haben.
Das ist immer noch besser, als jede Massenabstimmung einer Akademie oder eines Verbandes oder eines Gremiums, allein schon, weil die Entscheider klar identifizierbar sind. Aber richtig befriedigend ist es auch nicht.
Denn über Kunst kann man durch Abstimmungen keine
befriedigende Ergebnisse bekommen, genauso wenig wie durch Jury-Entscheidungen. Was man allerdings bekommen kann, zumindest wenn es gut läuft, das sind Hinweise.
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Eine Bauernfamilie in Katalonien. Sie betreibt eine Pfirsichplantage. Alte Traditionen und die Landwirtschaft des 20. Jahrhunderts treffen auf Digitalwirtschaft und ökologisches Bewusstsein des 21., als die Felder als Fläche für Solarpanele zur Sonnenenergiegewinnung vorgesehen werden. Der Konflikt, der sich nun entspinnt, ist auch einer zwischen der selbstbewussten, nach Autonomie strebenden spanischen Region Katalonien, und der Zentralregierung in Madrid zwischen Land und Stadt. Im Zentrum des Films von Carla Simón steht aber die Familie, und ihre drei Generationen.
Es war eine Überraschung, dass ausgerechnet dieser Film am Mittwochabend in Berlin den Goldenen Bären gewann. Man weiß zwar sowieso nie genau, was eine Jury entscheiden wird, und es gab vor der Preisverleihung keinen klaren Favoriten. Zudem ist Simón eine sehr junge Filmemacherin, und Alcarràs erst ihr zweiter Film.
Aber es war ein nicht unverdienter Preis für einen der guten Filme in einem interessanten, aber nicht herausragenden Wettbewerb.
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Schon vor Beginn der Berlinale standen zwei Dinge eigentlich fest, die sich dann in der Preisverleihung bestätigten: Erstens war klar, dass eine Frau den Goldenen Bär gewinnen würde. Und es war klar, dass der Koreaner Hong Sang-soo einen der Hauptpreise gewinnen würde.
Die Entscheidung, Hauptpreise in jedem Fall einer Frau zu geben, ist zurzeit einfach politische Mode, und weil es längst zum festen Reflex aller Jurys geworden ist, Frauen bei solchen Entscheidungen zu
bevorzugen, glaube ich, dass man entweder einfach warten muss, bis das Ganze wieder vergeht, so ähnlich wie das Gendern in den öffentlich-rechtlichen deutschen Rundfunksendern gerade allmählich wieder vergeht. Oder immer mehr Männer aus der Filmbranche entscheiden sich, ihre Filme nicht mehr für derartige Wettbewerbe zur Verfügung zu stellen, sondern sie nur in Nebenreihen oder außer Konkurrenz zu geben.
Unnötig zu sagen, dass dies den preisegewinnenden Frauen nicht unbedingt nutzt. Ich fürchte, dass es Carla Simón sogar schadet, weil dies ein Film ist, den längst nicht alle Kollegen besonders gut fanden. Zumindest einige von diesen glauben, dass sie den Preis nicht für ihren Film gewonnen hat.
Andererseits muss man ehrlich sagen, dass der Goldene Bär in den letzten 20 Jahren noch kaum jemandem genutzt hat. Vielleicht ist Fatih Akin der letzte, der wirklich von einem Goldenen Bär profitiert hat. Oder Jasmila Žbanić, die im Jahr 2006 mit Grbavica gewann.
Jeder, der das liest, kann sich ja selber einmal die Preisträgerliste der letzten 20 oder 25 Jahre anschauen. Diese
zeigt auch, dass es mit dem Amtsantritt von Dieter Kosslick vor 20 Jahren einen Bruch in der Zusammenstellung des Wettbewerbs und der Jurys und folglich der Berliner Preisträger gab. Einen Bruch, der den Wert eines Goldenen Bär langfristig herabgesetzt hat. Der Goldene Bär ist ja kein Nachwuchspreis.
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Der Preis für Hong Sang-soo stand deswegen fest, weil der Koreaner der Darling schlechthin eines gewissen Teils des Filmmilieus ist. Grob gesagt der jungen Akademiker, einer Mischung aus Kuratoren und Kritikern, die urban und poststrukturalistisch sozialisiert sind, und aus mir unerfindlichen Gründen in den Filmen des Koreaners die Erfüllung ihrer ästhetischen Vorstellungen finden.
Das überaus Blöde daran ist die Vorhersehbarkeit dieser Reflexe. Es ist vorhersehbar,
dass die Filme des Koreaners von ziemlich vielen Kollegen, die ich auch namentlich benennen könnte, aus Prinzip wohlwollend aufgenommen werden und es nur gewisse Variationen der Schwärmerei gibt, aber niemals echte harte Kritik, oder auch nur ernste Auseinandersetzungen, oder auch nur den Gedanken: 'Mal ehrlich: Wie würde ich diesen Film finden, wenn ich von dem Regisseur noch nie etwas gehört und gesehen hätte. Es ist ebenso vorhersehbar, dass die Filme des Koreaners in
Kritikerspiegeln einen Spitzenrang bekommen.
In Gesprächen über diesen Regisseur habe ich zum Beispiel neulich, als ich meine Skepsis deutlich machte, einen kleinen Vortrag bekommen, in dem mir dann gesagt wurde, wie überaus sensibel und zart dieser Regisseur ist und wie lustig es ist, dass er immer wieder betrunkene Menschen zeigt, die zusammensitzen und viel reden, ja dass überhaupt seine Filme so sind wie ein gemeinsamer Abend mit Freunden. Also wie irgendein Abend in der Pandemie-Berlinale, wo man ja nicht auf Partys gehen
konnte und deswegen zusammen in Restaurants gegangen ist. Aber ehrlich gesagt gehe ich lieber mit Freunden oder Bekannten in Restaurants und rede und betrinke mich wirklich, als dass ich mir die Freunde und Bekannten eines Regisseurs anschaue, während sie in Restaurants reden und sich dabei betrinken.
Aber natürlich entgehen mir dann Dinge wie jene Szene, die mein Gesprächspartner, als er sie mir nacherzählte, noch mal fast zu Tränen rührte: Wie Hong Sang-soo mal wieder seine Freunde
beim Essen und Reden und Sichbetrinken filmte. Und dann lief offenbar einfach so eine Katze ins Bild, keine dressierte, sondern eben einfach so ein Tier, das sich durch eine Kamera nicht stören ließ und einfach das Tier blieb, das es ist. Und Hong Sang-soo, wurde mir gesagt, filmte dann einfach weiter diese Katze mit der gleichen Aufmerksamkeit, mit der er zuvor die Menschen gefilmt hatte. Und genau dieses Filmen und diese Aufmerksamkeit wurden zum Indiz seiner Sensibilität und seines
Genies.
Ich habe das nicht verstanden, so wie ich manches nicht verstehe, was meine Kollegen mir nahe bringen wollen. Aber ich habe verstanden: Hong Sang-soo ist der Regisseur des Anthropozän.
Zu dem neuen Film Hongs kann ich trotzdem nichts sagen, denn ich habe ihn nicht sehen können. Er ist bestimmt wieder wunderschön und überaus sensibel. Und vielleicht läuft wieder ein undressiertes Tier durchs Bild. Ich habe aber bestimmt eine Handvoll Menschen getroffen die mir erzählt haben, dass sie Hongs neuen Film überaus langweilig fanden. Teilweise gebrauchten sie kritischere und polemischere Worte.
Ich interessiere mich wohl auch für ein anderes Kino also sie.
Ich glaube das meinen Gesprächspartnern und finde eigentlich ein viel interessanteres Thema als den neuen Film von Hong die Frage, warum das sogenannte normale Publikum und ein größerer Teil der Filmkritik immer weiter auseinanderdriften. Damit meine ich nicht die Frage, dass sie verschiedener Meinung sind – Meinungsverschiedenheiten zwischen Filmkritik und Publikum gab es immer. Sie gehören sozusagen zur Natur der Sache, also der Beziehung.
Was ich meine, ist die
Tatsache, dass sich Filmkritik und Publikum zunehmend nicht mehr füreinander interessieren. Teilen der Filmkritik ist es egal, ob die Leute sie noch verstehen und ob sie selbst etwas schreiben, was die Leute interessiert. Natürlich freut man sich, wenn man gelesen wird, aber wenn es die Teilnehmer des eigenen Seminars lesen, dann reicht das schon.
Und den Leuten ist es zunehmend egal, was die Filmkritiker schreiben. Es gab Zeiten, da zitterten Kinobetreiber und Filmemacher vor
bestimmten Kritikern und insgesamt vor dem, was sie »die Stimme der Filmkritik« nannten. Heute ist das nicht mehr so. Einzelne Kritiker werden geschätzt oder geachtet, viele andere werden verachtet. Oder noch schlimmer: ignoriert.
Ich glaube, das Beispiel Hong erklärt ganz gut, was diesem Verhältnis fehlt. Dann es ist aus meiner Sicht die Pflicht der Filmkritiker, bei dem Film von Anfang so nicht nur zu erklären, wie sich der neue vom letzten unterscheidet, oder zu welchem akademischen Text, den sie gerade gelesen haben, der allerneuste Hong-Film besonders gut passt. Sondern man müsste ganz grundsätzlich, und meinetwegen in einer nervtötenden, einen selbst nicht wahnsinnig interessierenden Arbeit, das Werk dieses Filmemachers und das, was einen selbst daran bezaubert, denjenigen Menschen vermitteln, die in ihrem Leben noch nicht einen einzigen seiner Filme gesehen haben. Und zwar so vermitteln, sprachlich mit Bildern, die zwischen den Zeilen beim Lesen aufscheinen, dass diese Leser danach Lust haben, unbedingt und sofort einen Hong-Sang-soo-Film zu sehen. So etwas wäre ganz toll! So etwas kann man nur, wenn man einen Film oder einen Filmemacher liebt, deswegen kann ich es in diesem Fall nicht tun. Ich würde aber gerne so einen Text lesen und vielleicht durch ihn dann auch Hong Sang-soo lieben lernen.
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Insgesamt lassen einen die Juryentscheidungen eher ratlos zurück. Wenn die Preise überhaupt eine Botschaft aussenden, dann die, dass die Jury sich nicht einig war. So gab man jeder möglichen Stilrichtung und Region und Kinogängergruppe etwas. Aber man versäumte, eine Botschaft auszusenden, die dem Kino von morgen etwas sagen möchte.
Den Preis für Claire Denis finde ich ganz gut, die zwei für Dresen eine dumme und für die Berlinale falsche Entscheidung. Die zwei Preise für Dresen
sind gar nicht aus seinem Film, sondern nur politisch zu erklären. Auch moralisch kann man sich dieser Story nicht verweigern. Aber Dresens Film über die Geschichte der Mutter des Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz ist ein Film, der es sich viel zu einfach macht. Ästhetisch ist es überhaupt kein guter Film.
Insgesamt erlebt man eine gespaltene Jury ohne konturiertes, gemeinsames Ergebnis.
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Nach dem zu urteilen, was kurz nach der Preisverleihung aus Jurykreisen zu erfahren war, ging der allergrößte Teil der internen Debatten komplett um den Dresen-Film und um die Frage, ob Politik und Moral wichtiger sind als die Kunst. Hier war sich die Jury nicht nur uneins, sondern regelrecht gespalten: Offenbar gab es zwei klare Fronten. Die eine Gruppe hielt Andreas Dresens Film für politisch und moralisch so wichtig, dass man ihm aller ästhetischen Einwände zum Trotz den Goldenen
Bären geben wollte. Bestimmt wären Joe Biden und Frank-Walter Steinmeier kurz nach einem derart wichtigen Statement der Berlinale-Welt zurückgetreten.
Die andere Gruppe wollte diesem Film am besten überhaupt keinen Preis geben und den Goldenen Bär nur »over my dead body«. Zur ersten Gruppe gehörte offenbar die dänisch-amerikanische Schauspielerin Connie Nielsen, aber auch der Jurypräsident M. Night Shyamalan. Zur zweiten Gruppe der Japaner Ryusuke Hamaguchi und der in Berlin
lebende Algerier-Brasilianer Karim Ainouz.
Also wurde ein Kompromiss geschmiedet: Kein Goldener Bär für Dresen, aber dafür bekam sein Film als einziger zwei Preise.
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Wer also etwas wirklich Neues über das Kino von morgen und die Welt von heute erfahren wollte, der musste es in den Filmen selber suchen. Vor allem in der Nebenreihe »Encounters«.
(to be continued)