19.02.2022

Wenn die Leinwand zum Megaphon wird

Hong
Sich lieber mit Freunden betrinken?
(Foto: © Jeonwonsa Film Co. Production)

Politische Filme und unpolitisches Filmemachen: Das Ringen von Kunst und Politik dominiert die Berlinale-Entscheidungen. In der Zwischenzeit würde ich gerne Hong Sangsoo lieben lernen – Berlinale-Tagebuch, Folge 07

Von Rüdiger Suchsland

»Le cinéma ne pose pas de questions. Le cinéma ne donne pas de réponses.«
Jean-Luc Godard (im Encoun­ters-Film A Vendredi Robinson)

Wer ins Kino geht, möchte womöglich etwas erfahren. Viel­leicht über die Welt, in der wir leben. Viel­leicht über das Kino von morgen. Viel­leicht über sich. Allemal möchte er etwas erleben, jetzt und hier, unmit­telbar. Man möchte auf Fragen gestoßen werden, auf Fragen die einen viel­leicht auch noch morgen und über­morgen beschäf­tigen. Und man möchte keine billigen Antworten serviert bekommen.

Preise und Preis­ver­lei­hungen geben nie Antworten. Sie stellen auch selten Fragen, und wenn, dann handeln diese Fragen dann meistens nur davon, was sich denn jetzt schon wieder diese Handvoll Leute gedacht haben.
Das ist immer noch besser, als jede Massen­ab­stim­mung einer Akademie oder eines Verbandes oder eines Gremiums, allein schon, weil die Entscheider klar iden­ti­fi­zierbar sind. Aber richtig befrie­di­gend ist es auch nicht.
Denn über Kunst kann man durch Abstim­mungen keine befrie­di­gende Ergeb­nisse bekommen, genauso wenig wie durch Jury-Entschei­dungen. Was man aller­dings bekommen kann, zumindest wenn es gut läuft, das sind Hinweise.

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Eine Bauern­fa­milie in Kata­lo­nien. Sie betreibt eine Pfir­sich­plan­tage. Alte Tradi­tionen und die Land­wirt­schaft des 20. Jahr­hun­derts treffen auf Digi­tal­wirt­schaft und ökolo­gi­sches Bewusst­sein des 21., als die Felder als Fläche für Solar­pa­nele zur Sonnen­en­er­gie­ge­win­nung vorge­sehen werden. Der Konflikt, der sich nun entspinnt, ist auch einer zwischen der selbst­be­wussten, nach Autonomie stre­benden spani­schen Region Kata­lo­nien, und der Zentral­re­gie­rung in Madrid zwischen Land und Stadt. Im Zentrum des Films von Carla Simón steht aber die Familie, und ihre drei Gene­ra­tionen.

Es war eine Über­ra­schung, dass ausge­rechnet dieser Film am Mitt­woch­abend in Berlin den Goldenen Bären gewann. Man weiß zwar sowieso nie genau, was eine Jury entscheiden wird, und es gab vor der Preis­ver­lei­hung keinen klaren Favoriten. Zudem ist Simón eine sehr junge Filme­ma­cherin, und Alcarràs erst ihr zweiter Film.

Aber es war ein nicht unver­dienter Preis für einen der guten Filme in einem inter­es­santen, aber nicht heraus­ra­genden Wett­be­werb.

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Schon vor Beginn der Berlinale standen zwei Dinge eigent­lich fest, die sich dann in der Preis­ver­lei­hung bestä­tigten: Erstens war klar, dass eine Frau den Goldenen Bär gewinnen würde. Und es war klar, dass der Koreaner Hong Sang-soo einen der Haupt­preise gewinnen würde.
Die Entschei­dung, Haupt­preise in jedem Fall einer Frau zu geben, ist zurzeit einfach poli­ti­sche Mode, und weil es längst zum festen Reflex aller Jurys geworden ist, Frauen bei solchen Entschei­dungen zu bevor­zugen, glaube ich, dass man entweder einfach warten muss, bis das Ganze wieder vergeht, so ähnlich wie das Gendern in den öffent­lich-recht­li­chen deutschen Rund­funk­sen­dern gerade allmäh­lich wieder vergeht. Oder immer mehr Männer aus der Film­branche entscheiden sich, ihre Filme nicht mehr für derartige Wett­be­werbe zur Verfügung zu stellen, sondern sie nur in Neben­reihen oder außer Konkur­renz zu geben.

Unnötig zu sagen, dass dies den prei­se­ge­win­nenden Frauen nicht unbedingt nutzt. Ich fürchte, dass es Carla Simón sogar schadet, weil dies ein Film ist, den längst nicht alle Kollegen besonders gut fanden. Zumindest einige von diesen glauben, dass sie den Preis nicht für ihren Film gewonnen hat.

Ande­rer­seits muss man ehrlich sagen, dass der Goldene Bär in den letzten 20 Jahren noch kaum jemandem genutzt hat. Viel­leicht ist Fatih Akin der letzte, der wirklich von einem Goldenen Bär profi­tiert hat. Oder Jasmila Žbanić, die im Jahr 2006 mit Grbavica gewann.
Jeder, der das liest, kann sich ja selber einmal die Preis­trä­ger­liste der letzten 20 oder 25 Jahre anschauen. Diese zeigt auch, dass es mit dem Amts­an­tritt von Dieter Kosslick vor 20 Jahren einen Bruch in der Zusam­men­stel­lung des Wett­be­werbs und der Jurys und folglich der Berliner Preis­träger gab. Einen Bruch, der den Wert eines Goldenen Bär lang­fristig herab­ge­setzt hat. Der Goldene Bär ist ja kein Nach­wuchs­preis.

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Der Preis für Hong Sang-soo stand deswegen fest, weil der Koreaner der Darling schlechthin eines gewissen Teils des Film­mi­lieus ist. Grob gesagt der jungen Akade­miker, einer Mischung aus Kuratoren und Kritikern, die urban und post­struk­tu­ra­lis­tisch sozia­li­siert sind, und aus mir uner­find­li­chen Gründen in den Filmen des Koreaners die Erfüllung ihrer ästhe­ti­schen Vorstel­lungen finden.
Das überaus Blöde daran ist die Vorher­seh­bar­keit dieser Reflexe. Es ist vorher­sehbar, dass die Filme des Koreaners von ziemlich vielen Kollegen, die ich auch nament­lich benennen könnte, aus Prinzip wohl­wol­lend aufge­nommen werden und es nur gewisse Varia­tionen der Schwär­merei gibt, aber niemals echte harte Kritik, oder auch nur ernste Ausein­an­der­set­zungen, oder auch nur den Gedanken: 'Mal ehrlich: Wie würde ich diesen Film finden, wenn ich von dem Regisseur noch nie etwas gehört und gesehen hätte. Es ist ebenso vorher­sehbar, dass die Filme des Koreaners in Kriti­ker­spie­geln einen Spit­zen­rang bekommen.

In Gesprächen über diesen Regisseur habe ich zum Beispiel neulich, als ich meine Skepsis deutlich machte, einen kleinen Vortrag bekommen, in dem mir dann gesagt wurde, wie überaus sensibel und zart dieser Regisseur ist und wie lustig es ist, dass er immer wieder betrun­kene Menschen zeigt, die zusam­men­sitzen und viel reden, ja dass überhaupt seine Filme so sind wie ein gemein­samer Abend mit Freunden. Also wie irgendein Abend in der Pandemie-Berlinale, wo man ja nicht auf Partys gehen konnte und deswegen zusammen in Restau­rants gegangen ist. Aber ehrlich gesagt gehe ich lieber mit Freunden oder Bekannten in Restau­rants und rede und betrinke mich wirklich, als dass ich mir die Freunde und Bekannten eines Regis­seurs anschaue, während sie in Restau­rants reden und sich dabei betrinken.
Aber natürlich entgehen mir dann Dinge wie jene Szene, die mein Gesprächs­partner, als er sie mir nach­er­zählte, noch mal fast zu Tränen rührte: Wie Hong Sang-soo mal wieder seine Freunde beim Essen und Reden und Sich­be­trinken filmte. Und dann lief offenbar einfach so eine Katze ins Bild, keine dres­sierte, sondern eben einfach so ein Tier, das sich durch eine Kamera nicht stören ließ und einfach das Tier blieb, das es ist. Und Hong Sang-soo, wurde mir gesagt, filmte dann einfach weiter diese Katze mit der gleichen Aufmerk­sam­keit, mit der er zuvor die Menschen gefilmt hatte. Und genau dieses Filmen und diese Aufmerk­sam­keit wurden zum Indiz seiner Sensi­bi­lität und seines Genies.
Ich habe das nicht verstanden, so wie ich manches nicht verstehe, was meine Kollegen mir nahe bringen wollen. Aber ich habe verstanden: Hong Sang-soo ist der Regisseur des Anthro­pozän.

Zu dem neuen Film Hongs kann ich trotzdem nichts sagen, denn ich habe ihn nicht sehen können. Er ist bestimmt wieder wunder­schön und überaus sensibel. Und viel­leicht läuft wieder ein undres­siertes Tier durchs Bild. Ich habe aber bestimmt eine Handvoll Menschen getroffen die mir erzählt haben, dass sie Hongs neuen Film überaus lang­weilig fanden. Teilweise gebrauchten sie kriti­schere und pole­mi­schere Worte.

Ich inter­es­siere mich wohl auch für ein anderes Kino also sie.

Ich glaube das meinen Gesprächs­part­nern und finde eigent­lich ein viel inter­es­san­teres Thema als den neuen Film von Hong die Frage, warum das soge­nannte normale Publikum und ein größerer Teil der Film­kritik immer weiter ausein­an­der­driften. Damit meine ich nicht die Frage, dass sie verschie­dener Meinung sind – Meinungs­ver­schie­den­heiten zwischen Film­kritik und Publikum gab es immer. Sie gehören sozusagen zur Natur der Sache, also der Beziehung.
Was ich meine, ist die Tatsache, dass sich Film­kritik und Publikum zunehmend nicht mehr fürein­ander inter­es­sieren. Teilen der Film­kritik ist es egal, ob die Leute sie noch verstehen und ob sie selbst etwas schreiben, was die Leute inter­es­siert. Natürlich freut man sich, wenn man gelesen wird, aber wenn es die Teil­nehmer des eigenen Seminars lesen, dann reicht das schon.
Und den Leuten ist es zunehmend egal, was die Film­kri­tiker schreiben. Es gab Zeiten, da zitterten Kino­be­treiber und Filme­ma­cher vor bestimmten Kritikern und insgesamt vor dem, was sie »die Stimme der Film­kritik« nannten. Heute ist das nicht mehr so. Einzelne Kritiker werden geschätzt oder geachtet, viele andere werden verachtet. Oder noch schlimmer: ignoriert.

Ich glaube, das Beispiel Hong erklärt ganz gut, was diesem Verhältnis fehlt. Dann es ist aus meiner Sicht die Pflicht der Film­kri­tiker, bei dem Film von Anfang so nicht nur zu erklären, wie sich der neue vom letzten unter­scheidet, oder zu welchem akade­mi­schen Text, den sie gerade gelesen haben, der aller­neuste Hong-Film besonders gut passt. Sondern man müsste ganz grund­sätz­lich, und meinet­wegen in einer nerv­tö­tenden, einen selbst nicht wahn­sinnig inter­es­sie­renden Arbeit, das Werk dieses Filme­ma­chers und das, was einen selbst daran bezaubert, denje­nigen Menschen vermit­teln, die in ihrem Leben noch nicht einen einzigen seiner Filme gesehen haben. Und zwar so vermit­teln, sprach­lich mit Bildern, die zwischen den Zeilen beim Lesen aufscheinen, dass diese Leser danach Lust haben, unbedingt und sofort einen Hong-Sang-soo-Film zu sehen. So etwas wäre ganz toll! So etwas kann man nur, wenn man einen Film oder einen Filme­ma­cher liebt, deswegen kann ich es in diesem Fall nicht tun. Ich würde aber gerne so einen Text lesen und viel­leicht durch ihn dann auch Hong Sang-soo lieben lernen.

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Insgesamt lassen einen die Jury­ent­schei­dungen eher ratlos zurück. Wenn die Preise überhaupt eine Botschaft aussenden, dann die, dass die Jury sich nicht einig war. So gab man jeder möglichen Stil­rich­tung und Region und Kino­gän­ger­gruppe etwas. Aber man versäumte, eine Botschaft auszu­senden, die dem Kino von morgen etwas sagen möchte.
Den Preis für Claire Denis finde ich ganz gut, die zwei für Dresen eine dumme und für die Berlinale falsche Entschei­dung. Die zwei Preise für Dresen sind gar nicht aus seinem Film, sondern nur politisch zu erklären. Auch moralisch kann man sich dieser Story nicht verwei­gern. Aber Dresens Film über die Geschichte der Mutter des Guan­ta­namo-Häftlings Murat Kurnaz ist ein Film, der es sich viel zu einfach macht. Ästhe­tisch ist es überhaupt kein guter Film.
Insgesamt erlebt man eine gespal­tene Jury ohne kontu­riertes, gemein­sames Ergebnis.

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Nach dem zu urteilen, was kurz nach der Preis­ver­lei­hung aus Jury­kreisen zu erfahren war, ging der aller­größte Teil der internen Debatten komplett um den Dresen-Film und um die Frage, ob Politik und Moral wichtiger sind als die Kunst. Hier war sich die Jury nicht nur uneins, sondern regel­recht gespalten: Offenbar gab es zwei klare Fronten. Die eine Gruppe hielt Andreas Dresens Film für politisch und moralisch so wichtig, dass man ihm aller ästhe­ti­schen Einwände zum Trotz den Goldenen Bären geben wollte. Bestimmt wären Joe Biden und Frank-Walter Stein­meier kurz nach einem derart wichtigen Statement der Berlinale-Welt zurück­ge­treten.
Die andere Gruppe wollte diesem Film am besten überhaupt keinen Preis geben und den Goldenen Bär nur »over my dead body«. Zur ersten Gruppe gehörte offenbar die dänisch-ameri­ka­ni­sche Schau­spie­lerin Connie Nielsen, aber auch der Jury­prä­si­dent M. Night Shyamalan. Zur zweiten Gruppe der Japaner Ryusuke Hamaguchi und der in Berlin lebende Algerier-Brasi­lianer Karim Ainouz.

Also wurde ein Kompro­miss geschmiedet: Kein Goldener Bär für Dresen, aber dafür bekam sein Film als einziger zwei Preise.

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Wer also etwas wirklich Neues über das Kino von morgen und die Welt von heute erfahren wollte, der musste es in den Filmen selber suchen. Vor allem in der Neben­reihe »Encoun­ters«.

(to be continued)