72. Berlinale 2022
Stillstandsgebote und Fortschrittsträume |
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Bertrand Bonellos Pandemiefilm COMA, Sektion Encounters | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
»Müsste ich fünf Kinofilme benennen, die Berlin für mich auf den Punkt bringen, wäre 'Alpha City' von Eckhart Schmidt ganz sicher einer von ihnen.«
Sebastian Selig, in: »Berlin Visionen«; Berlin 2021, S.95»Überall nur Pisse und Kacke, man muss nur genau hinsehen – egal wie neu und großzügig von weitem alles aussieht.«
aus: Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981, Regie: Uli Edel)
Berlin Berlin wir fahren nach Berlin! Es ist wieder Berlinale-Zeit. Es lässt sich nicht vermeiden, Pandemie hin Omikron her. Delta ist gelandet und die Berlinale findet statt. Gut so! Selten habe ich mich so eins mit der Leitung dieses Festivals gefühlt wie gerade jetzt.
Die Berlinale stattfinden zu lassen, analog und in Präsenz und ohne Online-Plan-B für die Faulen und Ängstlichen und üblichen Bedenkenträger, zwei Tage nachdem die Leipziger Buchmesse unverständlicherweise zum
dritten Mal hintereinander abgesagt wurde und ungeachtet aller Unkenrufe, und gegen eine grundsätzliche deutsche Feigheit gerichtet, die gerade in den letzten zwei Wochen die Berlinale- Berichterstattung durchzog (Vgl. Cinema Moralia 265 und 266), dies ist die richtige Entscheidung. Es ist eine Entscheidung für das Kino!
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An diesem Mittwoch wurde bereits die »Woche der Kritik« eröffnet. Wie üblich mit einer Konferenz, wie üblich mit Denken und Reden vor den Filmen. Diesmal fand sie in der Berliner »Akademie der Künste« statt, und das Thema hieß »Stillstand verboten? – Welche Fortschritte das Kino braucht«.
Zur Begrüßung redete erstmal Regisseur Thomas Heise, der an der AdK die Filmsektion leitet. In einem schönen Text sprach er von der Berlinale als von einem »Dampfer im Umbruch«. Die Woche der Kritik solle und könne dafür sorgen, dass man genauer und klarer auf die Lage schaut, in der Stillstandsgebote und Fortschrittsträume sich mischen. »Die Welt ist das Material, aus dem ja unsere Filme sind; in allen uns möglichen Sprachen, ohne dass wir kontrollieren, wie das geschieht.« Die
Auseinandersetzung mit der Welt sei notwendig vage: »Künstler sind wie Jäger, die im Dunkeln etwas anvisieren und nicht wissen, was und ob sie es getroffen haben.«
Dann zitierte Heise noch Bertolt Brecht: »Die Wahrheit ist konkret«. Und eröffnete mit einem »Fangen wir an!« die Woche der Kritik.
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Der Impulsvortrag und das Panel ließen mich dann etwas ratlos zurück. Sie waren anregend, aber nur diffus, nicht so, wie bei früheren WdK-Konferenzen, die einem für die folgenden zehn Tage quasi die Schablone in die Hand gaben, mit der man das Festival betrachten konnte.
Es kommt auch einfach nicht gut, wenn jemand (in diesem Fall die Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit María do Mar Castro Varela) eine Keynote hält und dann gehen muss.
Sie sprach über das Unheimliche, zitierte Freud und Schelling, aber kam nicht auf den Punkt. Zu sehr reduzierte sie auch die Themenstellung, also die Frage nach Stillstand und Fortschritt, auf Covid und die Folgen. »Wir leben in unheimlichen Zeiten: Die Pandemie konfrontiert uns mit dem Tod.« Stimmt. Aber die Kriege vorher nicht? Terror und Folter, Krebs und Klima nicht?
Dass beim Begriff »Fortschritt« dann ausschließlich Fortschrittskritik und Fortschrittsskepsis gemeint wurde, dass Kolonialismus und Aufklärungsmacht und Poststrukturalismus hineingerührt wurden, das war bei dem Thema, dem Ort und dem Anlass zu erwarten. Genauso das latente Lob des Stillstandes, des Nichtfortschritts, des Langsamen und des Liegens, der Ruhe und des Ruhens. Von Fortschrittseuphorie dagegen nichts zu spüren! Schade.
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Das Panel war in jeder Hinsicht besser. Es hatte sogar etwas mit Film und Filmfestival zu tun, auch wenn Simone Baumann von German Films kaum etwas sagen durfte.
Aber richtig viel durfte dafür die Filmkuratorin Cíntia Gil sagen, und sie war sehr gut. Es passte auch zur Debatte im Berlinale-Vorfeld: Sie habe eine Bewunderung für Festivals, »die dem Weg ins Online Widerstand entgegengesetzt haben.« sagte Gil. Schon zu Beginn der Pandemie habe sie gedacht, es sei gefährlich zu
glauben, dass wir durchs Online alle Probleme lösen könnten.
Gil erinnerte auch daran, dass es genau genommen ja größenwahnsinnige Phantasien sind, dass Festivals nicht einfach Weitermachen, sondern immer neue Steigerungs-Ideen entwickeln und kommunizieren. Und dass gerade in der Pandemie Festivals fortwährend über ihre Zuschauerzuwächse jubeln, aber Streaming-Clicks meinen.
»Unbegrenztes Wachstum« erschrecke sie bei Festivals.
Aufgabe von Festivals ist es eher, anderen Ideen Raum zu geben gegen den Allmachtswahn. Aufgabe von Festivals ist es auch, Menschen zusammenzubringen. »Togetherness« (Gil) und kollektive Imagination. Gil machte auch darauf aufmerksam, zu was für einem wichtigen Faktor Einsamkeit heute geworden ist.
Vielleicht sei sie »Old School«, aber: »I do believe in physical presence.«
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Stillstandsgebote und Fortschrittsträume sind oft genug auch Stillstandsverklärung und Fortschrittsfeindschaft. Aber ohne Fortschritt keine Zukunft.
Die Wissenschaftsfeindschaft und »alternative truth« der Rechten ist das Äquivalent zur derzeitigen Fortschrittsskepsis der Linken, ja: in gewisser Weise die Antwort darauf, denn die Reaktionäre sind wie es sich gehört: reaktiv. Die Linke aber muss ideenpolitisch führen, die Linke muss den Ton angeben. Wenn die Linke schwächelt, dann schwächelt die ganze Gesellschaft.
Stillstandsgebote und Fortschrittsträume... Vielleicht muss die Antwort nicht lauten, den Fortschritt zu problematisieren, sondern einfach weiterzuarbeiten!
Fortschritt kommt von Voranschreiten. Die, die ganz weit vorne voranschreiten, heißen in militärischer Sprache: Avantgarde.
Fortschritt bedeutet auch Ausdifferenzierung. Denn im Laufe des Fortschreitens einer Gesellschaft differenziert sich diese immer weiter aus. Fortschritt bedeutet auch Unterscheidungsvermögen. Stillstehen ist keine Option.
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Wenn man Deutsche Englisch sprechen hört – ist es dann schlimmer, wenn man Deutscher ist? Oder wenn man Brite ist?
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Dieses Buchungssystem ist leider viel komplizierter und auch viel schlechter, als jedes Buchungssystem, das ich in den vergangenen zwei Jahren bei irgendeinem anderen ausländischen Filmfestival erlebt habe. Man kann darum nicht herum reden. Man fragt sich einfach, warum es in Deutschland immer überkompliziert und überbürokratisiert zugehen muss und bar jedem Pragmatismus und jeder Rationalität, die sich des menschlichen Verhaltens bewusst ist.
Man kann sich bei der
Berlinale keine Plätze aussuchen, sondern sie werden einem zugewiesen. Das wird praktisch gesehen die Folge haben, dass sich die Leute heimlich umsetzen oder untereinander tauschen. Denn der eine will gern vorne sitzen, der andere gerne hinten, einer rechts am Rand und einer halblinks in der Mitte. So ist es, auch wenn die Berlinale und die Virologen das lieber anders hätten. Weil die Leitung in Cannes und Venedig und Locarno und San Sebastian das weiß, hat sie es besser gemacht. Nur die
Berlinale macht es nicht besser. Alles sei sehr kurzfristig, ist da jetzt aus dem Haus zu hören. Das ist eine dumme Ausrede. Genau genommen hatte man nicht ein, sondern zwei Jahre Zeit, um sich ein Buchungssystem zu überlegen. Zur Not hätte man die Kollegen der anderen Festivals anrufen können und das dortige zu übernehmen.
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Zum neuen Filmprogramm kommen wir morgen. Hier nur eine Erinnerung: Vor 20 Jahren fing das Unglück an – Dieter Kosslicks erste Berlinale. Heaven von Tom Tykwer eröffnete mit Cate Winslet. Im Wettbewerb liefen Christopher Roths toller Baader, Dominik Grafs schöner Der Felsen. Auch sonst gute Filme. Aber auch Viel passiert von Wenders über BAP. Von nun an gings bergab.
Zur Berlinale als Festival fällt mir nach wie vor tatsächlich nicht viel ein. Dazu habe ich in den vergangenen 20 Jahren alles gesagt.
Noch schöner hat es Hans Hurch 2016 im Videogespräch gesagt. Hier der Wortlaut.
Weil in diesem Jahr die langjährige Leiterin der Sektion Perspektive,
Linda Söffker aufhört, möchte ich auch noch mal an den offenen Brief an sie erinnern, den ich vor 5 Jahren zum Zustand der Berlinale schrieb. Da steht alles Nötige drin. Besser kann ich es auch heute nicht sagen.
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Die Berlinale, das zeigt sich in der Pandemie ganz besonders deutlich, ist einstweilen immer noch von ihrem allzu langjährigen Direktor Dieter Kosslick geprägt. Sie kann sich, und das liegt natürlich auch an der Pandemie, einstweilen nicht aus Kosslicks Schatten lösen.
Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass sie genau das versucht, und gerade im Wettbewerb, mehr als in allen anderen Reihen könnte ihr das auch ganz allmählich gelingen.
Es gibt Leute, die haben mich schon vor vielen Jahren dafür kritisiert, dass ich mich, wie sie es gesehen haben, »so an Dieter Kosslick verbeiße«. Sie warfen mir vor, Kosslick zu einem Monster zu machen. Kosslick sei nicht böse.
Das stimmt, wobei man über den Begriff des Bösen da noch einmal länger reden könnte. Das Böse hat schließlich viele Facetten. Aber tatsächlich habe ich Kosslick zwar für einen unangenehmen Menschen, aber nie für ein Monster gehalten. Das war er nicht.
Kosslick war ein Clown – das hat auch niemand so gut auf den Punkt gebracht, wie Hans Hurch, der vom »Kasper auf dem roten Teppich« sprach. Denn die Clowns sind viel gefährlicher als die Monster.
(to be continued)