10.02.2022
72. Berlinale 2022

Stillstandsgebote und Fortschrittsträume

Coma
Bertrand Bonellos Pandemiefilm COMA, Sektion Encounters
(Foto: Berlinale Presseservice)

Ohne Fortschritt keine Zukunft: Still stehen, langsam liegen, lautlos laufen, ruhig ruhen und Kosslicks Schatten auf dem Dampfer im Umbruch – Berlinale-Tagebuch, Folge 1

Von Rüdiger Suchsland

»Müsste ich fünf Kinofilme benennen, die Berlin für mich auf den Punkt bringen, wäre 'Alpha City' von Eckhart Schmidt ganz sicher einer von ihnen.«
Sebastian Selig, in: »Berlin Visionen«; Berlin 2021, S.95

»Überall nur Pisse und Kacke, man muss nur genau hinsehen – egal wie neu und großzügig von weitem alles aussieht.«
aus: Chris­tiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981, Regie: Uli Edel)

Berlin Berlin wir fahren nach Berlin! Es ist wieder Berlinale-Zeit. Es lässt sich nicht vermeiden, Pandemie hin Omikron her. Delta ist gelandet und die Berlinale findet statt. Gut so! Selten habe ich mich so eins mit der Leitung dieses Festivals gefühlt wie gerade jetzt.
Die Berlinale statt­finden zu lassen, analog und in Präsenz und ohne Online-Plan-B für die Faulen und Ängst­li­chen und üblichen Beden­ken­träger, zwei Tage nachdem die Leipziger Buchmesse unver­s­tänd­li­cher­weise zum dritten Mal hinter­ein­ander abgesagt wurde und unge­achtet aller Unkenrufe, und gegen eine grund­sätz­liche deutsche Feigheit gerichtet, die gerade in den letzten zwei Wochen die Berlinale- Bericht­erstat­tung durchzog (Vgl. Cinema Moralia 265 und 266), dies ist die richtige Entschei­dung. Es ist eine Entschei­dung für das Kino!

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An diesem Mittwoch wurde bereits die »Woche der Kritik« eröffnet. Wie üblich mit einer Konferenz, wie üblich mit Denken und Reden vor den Filmen. Diesmal fand sie in der Berliner »Akademie der Künste« statt, und das Thema hieß »Still­stand verboten? – Welche Fort­schritte das Kino braucht«.

Zur Begrüßung redete erstmal Regisseur Thomas Heise, der an der AdK die Film­sek­tion leitet. In einem schönen Text sprach er von der Berlinale als von einem »Dampfer im Umbruch«. Die Woche der Kritik solle und könne dafür sorgen, dass man genauer und klarer auf die Lage schaut, in der Still­stands­ge­bote und Fort­schritts­träume sich mischen. »Die Welt ist das Material, aus dem ja unsere Filme sind; in allen uns möglichen Sprachen, ohne dass wir kontrol­lieren, wie das geschieht.« Die Ausein­an­der­set­zung mit der Welt sei notwendig vage: »Künstler sind wie Jäger, die im Dunkeln etwas anvi­sieren und nicht wissen, was und ob sie es getroffen haben.«
Dann zitierte Heise noch Bertolt Brecht: »Die Wahrheit ist konkret«. Und eröffnete mit einem »Fangen wir an!« die Woche der Kritik.

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Der Impuls­vor­trag und das Panel ließen mich dann etwas ratlos zurück. Sie waren anregend, aber nur diffus, nicht so, wie bei früheren WdK-Konfe­renzen, die einem für die folgenden zehn Tage quasi die Schablone in die Hand gaben, mit der man das Festival betrachten konnte.
Es kommt auch einfach nicht gut, wenn jemand (in diesem Fall die Profes­sorin für Allge­meine Pädagogik und Soziale Arbeit María do Mar Castro Varela) eine Keynote hält und dann gehen muss.

Sie sprach über das Unheim­liche, zitierte Freud und Schelling, aber kam nicht auf den Punkt. Zu sehr redu­zierte sie auch die Themen­stel­lung, also die Frage nach Still­stand und Fort­schritt, auf Covid und die Folgen. »Wir leben in unheim­li­chen Zeiten: Die Pandemie konfron­tiert uns mit dem Tod.« Stimmt. Aber die Kriege vorher nicht? Terror und Folter, Krebs und Klima nicht?

Dass beim Begriff »Fort­schritt« dann ausschließ­lich Fort­schritts­kritik und Fort­schritts­skepsis gemeint wurde, dass Kolo­nia­lismus und Aufklärungs­macht und Post­struk­tu­ra­lismus hinein­gerührt wurden, das war bei dem Thema, dem Ort und dem Anlass zu erwarten. Genauso das latente Lob des Still­standes, des Nicht­fort­schritts, des Langsamen und des Liegens, der Ruhe und des Ruhens. Von Fort­schritts­eu­phorie dagegen nichts zu spüren! Schade.

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Das Panel war in jeder Hinsicht besser. Es hatte sogar etwas mit Film und Film­fes­tival zu tun, auch wenn Simone Baumann von German Films kaum etwas sagen durfte.
Aber richtig viel durfte dafür die Film­ku­ra­torin Cíntia Gil sagen, und sie war sehr gut. Es passte auch zur Debatte im Berlinale-Vorfeld: Sie habe eine Bewun­de­rung für Festivals, »die dem Weg ins Online Wider­stand entge­gen­ge­setzt haben.« sagte Gil. Schon zu Beginn der Pandemie habe sie gedacht, es sei gefähr­lich zu glauben, dass wir durchs Online alle Probleme lösen könnten.

Gil erinnerte auch daran, dass es genau genommen ja größen­wahn­sin­nige Phan­ta­sien sind, dass Festivals nicht einfach Weiter­ma­chen, sondern immer neue Stei­ge­rungs-Ideen entwi­ckeln und kommu­ni­zieren. Und dass gerade in der Pandemie Festivals fort­wäh­rend über ihre Zuschau­er­zu­wächse jubeln, aber Streaming-Clicks meinen.
»Unbe­grenztes Wachstum« erschrecke sie bei Festivals.

Aufgabe von Festivals ist es eher, anderen Ideen Raum zu geben gegen den Allmachts­wahn. Aufgabe von Festivals ist es auch, Menschen zusam­men­zu­bringen. »Toge­ther­ness« (Gil) und kollek­tive Imagi­na­tion. Gil machte auch darauf aufmerksam, zu was für einem wichtigen Faktor Einsam­keit heute geworden ist.
Viel­leicht sei sie »Old School«, aber: »I do believe in physical presence.«

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Still­stands­ge­bote und Fort­schritts­träume sind oft genug auch Still­stands­ver­klärung und Fort­schritts­feind­schaft. Aber ohne Fort­schritt keine Zukunft.

Die Wissen­schafts­feind­schaft und »alter­na­tive truth« der Rechten ist das Äqui­va­lent zur derzei­tigen Fort­schritts­skepsis der Linken, ja: in gewisser Weise die Antwort darauf, denn die Reak­ti­onäre sind wie es sich gehört: reaktiv. Die Linke aber muss ideen­po­li­tisch führen, die Linke muss den Ton angeben. Wenn die Linke schwächelt, dann schwächelt die ganze Gesell­schaft.

Still­stands­ge­bote und Fort­schritts­träume... Viel­leicht muss die Antwort nicht lauten, den Fort­schritt zu proble­ma­ti­sieren, sondern einfach weiter­zu­ar­beiten!
Fort­schritt kommt von Voran­schreiten. Die, die ganz weit vorne voran­schreiten, heißen in mili­täri­scher Sprache: Avant­garde.

Fort­schritt bedeutet auch Ausdif­fe­ren­zie­rung. Denn im Laufe des Fort­schrei­tens einer Gesell­schaft diffe­ren­ziert sich diese immer weiter aus. Fort­schritt bedeutet auch Unter­schei­dungs­ver­mögen. Still­stehen ist keine Option.

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Wenn man Deutsche Englisch sprechen hört – ist es dann schlimmer, wenn man Deutscher ist? Oder wenn man Brite ist?

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Dieses Buchungs­system ist leider viel kompli­zierter und auch viel schlechter, als jedes Buchungs­system, das ich in den vergan­genen zwei Jahren bei irgend­einem anderen auslän­di­schen Film­fes­tival erlebt habe. Man kann darum nicht herum reden. Man fragt sich einfach, warum es in Deutsch­land immer über­kom­pli­ziert und über­büro­kra­ti­siert zugehen muss und bar jedem Prag­ma­tismus und jeder Ratio­na­lität, die sich des mensch­li­chen Verhal­tens bewusst ist.
Man kann sich bei der Berlinale keine Plätze aussuchen, sondern sie werden einem zuge­wiesen. Das wird praktisch gesehen die Folge haben, dass sich die Leute heimlich umsetzen oder unter­ein­ander tauschen. Denn der eine will gern vorne sitzen, der andere gerne hinten, einer rechts am Rand und einer halblinks in der Mitte. So ist es, auch wenn die Berlinale und die Virologen das lieber anders hätten. Weil die Leitung in Cannes und Venedig und Locarno und San Sebastian das weiß, hat sie es besser gemacht. Nur die Berlinale macht es nicht besser. Alles sei sehr kurz­fristig, ist da jetzt aus dem Haus zu hören. Das ist eine dumme Ausrede. Genau genommen hatte man nicht ein, sondern zwei Jahre Zeit, um sich ein Buchungs­system zu überlegen. Zur Not hätte man die Kollegen der anderen Festivals anrufen können und das dortige zu über­nehmen.

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Zum neuen Film­pro­gramm kommen wir morgen. Hier nur eine Erin­ne­rung: Vor 20 Jahren fing das Unglück an – Dieter Kosslicks erste Berlinale. Heaven von Tom Tykwer eröffnete mit Cate Winslet. Im Wett­be­werb liefen Chris­to­pher Roths toller Baader, Dominik Grafs schöner Der Felsen. Auch sonst gute Filme. Aber auch Viel passiert von Wenders über BAP. Von nun an gings bergab.

Zur Berlinale als Festival fällt mir nach wie vor tatsäch­lich nicht viel ein. Dazu habe ich in den vergan­genen 20 Jahren alles gesagt.
Noch schöner hat es Hans Hurch 2016 im Video­ge­spräch gesagt. Hier der Wortlaut.
Weil in diesem Jahr die lang­jäh­rige Leiterin der Sektion Perspek­tive, Linda Söffker aufhört, möchte ich auch noch mal an den offenen Brief an sie erinnern, den ich vor 5 Jahren zum Zustand der Berlinale schrieb. Da steht alles Nötige drin. Besser kann ich es auch heute nicht sagen.

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Die Berlinale, das zeigt sich in der Pandemie ganz besonders deutlich, ist einst­weilen immer noch von ihrem allzu lang­jäh­rigen Direktor Dieter Kosslick geprägt. Sie kann sich, und das liegt natürlich auch an der Pandemie, einst­weilen nicht aus Kosslicks Schatten lösen.
Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass sie genau das versucht, und gerade im Wett­be­werb, mehr als in allen anderen Reihen könnte ihr das auch ganz allmäh­lich gelingen.

Es gibt Leute, die haben mich schon vor vielen Jahren dafür kriti­siert, dass ich mich, wie sie es gesehen haben, »so an Dieter Kosslick verbeiße«. Sie warfen mir vor, Kosslick zu einem Monster zu machen. Kosslick sei nicht böse.
Das stimmt, wobei man über den Begriff des Bösen da noch einmal länger reden könnte. Das Böse hat schließ­lich viele Facetten. Aber tatsäch­lich habe ich Kosslick zwar für einen unan­ge­nehmen Menschen, aber nie für ein Monster gehalten. Das war er nicht. Kosslick war ein Clown – das hat auch niemand so gut auf den Punkt gebracht, wie Hans Hurch, der vom »Kasper auf dem roten Teppich« sprach. Denn die Clowns sind viel gefähr­li­cher als die Monster.

(to be continued)