27.01.2022

Spoiler-Phobie: Die kurze Geschichte eines neuen Phänomens

Szene mit altem Mann aus Squid Game
Achtung Spoiler! Auch in der südkoreanischen Netflix-Serie Squid Game.
(Foto: Netflix)

Nur wenige Dinge sind so verpönt wie das Spoilern eines Films oder einer Serie. Dabei ist der Spoiler ein junges Phänomen.

Von Simon Spiegel

Angeblich leben wir in Zeiten der gesell­schaft­li­chen Spaltung, von Bubbles und weit ausein­an­der­klaf­fenden Vorstel­lungen, was man öffent­lich (noch) sagen darf oder sollte. In einem Punkt scheint aber über alle poli­ti­schen Lager und sozialen Gruppen hinweg Konsens zu herrschen: Das Ende eines Films oder einer Serie zu verraten, ist einer der schlimmsten gesell­schaft­li­chen Fauxpas. Sei es in der Kaffee­pause, beim gemein­samen Feier­abend­bier, in einer Abend­ge­sell­schaft, auf Social Media oder in einer Zeitungs­re­zen­sion – wer verrät, dass James Bond am Ende von No Time to Die stirbt oder dass der vermeint­lich senile alte Mann in Squid Game in Wirk­lich­keit der Draht­zieher des tödlichen Wett­kampfes ist, kann sich sofor­tiger allge­meiner Ächtung sicher sein. Spoilern, wie das Ausplau­dern entschei­dender Wendungen gemeinhin genannt wird, gilt als Erz-Unsitte, ja, als geradezu aggres­siver Akt, dem man entschieden entge­gen­treten muss.

Die Angst vor dem Spoilern ist zu einem derart grund­le­genden Element des Redens und Schrei­bens über fiktio­nale Inhalte geworden, dass leicht vergessen geht, dass wir es mit einem jungen Phänomen zu tun haben. Natürlich war es schon immer möglich, das Ende eines Buches zu verraten, aber die heute allseits gras­sie­rende Spoiler-Phobie ist eine neue Erschei­nung, die viel darüber aussagt, wie sich unser Umgang mit Filmen und Serien seit der Jahr­tau­send­wende verändert hat.

Verän­derte mediale Bedin­gungen

Schon der Begriff „Spoiler“ selbst ist relativ jung. Als frühester Fundort gilt ein Post aus dem Jahre 1982 in einer Newsgroup-Diskus­sion. Thema ist der zweite Star-Trek-Film The Wrath of Khan. Zwar dauerte es noch rund zwei Jahr­zehnte, bis der Terminus in den allge­meinen Sprach­ge­brauch überging, dass aber ausge­rechnet in einem Online-Medium und in Zusam­men­hang mit einem Science-Fiction-Film zum ersten Mal vor einem Spoiler gewarnt wird, ist kein Zufall. Denn Spoiler, wie wir sie heute kennen und fürchten, sind eng mit der Verbrei­tung des Internets und dem Siegeszug bestimmter erzäh­le­ri­scher Formen verknüpft.

Dass das Verraten wichtiger Plot­wen­dungen erst mit Twitter und Konsorten zum Problem wird, ist nicht weiter erstaun­lich. Flächen­de­ckendes Spoilern setzt Medien mit großer Reich­weite voraus wie Blogs und vor allem soziale Medien. Mittels Twitter und Facebook kann ich Tausende von Menschen ohne Verzö­ge­rung erreichen. Vor allem ist es all jenen, die an meinen Enthül­lungen nicht inter­es­siert sein sollten, praktisch unmöglich, sich ihnen zu entziehen. Eine Rezension in einem klas­si­schen Print­me­dium kann ich allen­falls über­blät­tern. Bis ich aber gemerkt habe, dass ich den Inhalt eines bestimmten Tweets lieber nicht wissen will, habe ich diesen bereits gelesen.

Die verän­derten medialen Bedin­gungen sind nur die eine Seite. Ebenso wichtig ist, dass sich die Art und Weise, wie Hollywood – und in der Folge auch zahl­reiche andere Film­in­dus­trien – Geschichten erzählt, funda­mental verändert hat. Seit rund einem Vier­tel­jahr­hun­dert boomen sogenannt komplexe Erzähl­formen; damit werden in der Film­wis­sen­schaft Filme und Serien bezeichnet, deren Plots mit uner­war­teten Wendungen aufwarten, bei denen sich am Ende heraus­stellt, dass alles ganz anders war, als es zu Beginn den Anschein machte.

Zwar lebt auch der klas­si­sche Krimi in der Tradition von Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie davon, dass just jene Figur als Mörder entlarvt wird, von der man es am wenigsten vermutete. Letztlich bleiben die Über­ra­schungen hier in engen Grenzen, das Arsenal an möglichen Auflö­sungen ist beschränkt. Wenn es nicht der Gärtner war, war es eben jemand aus der Verwandt­schaft oder der vermeint­lich blinde Milchmann. Was nie zur Debatte steht, ist, dass gar kein Mord statt­ge­funden hat und dass das herr­schaft­liche Anwesen in Wirk­lich­keit nur ein Traum­ge­bilde ist. Genau dies wird Ende der 1990er Jahre jedoch zum erzäh­le­ri­schen Normal­fall. In Bryan Singers The Usual Suspects (1995) entpuppt sich ein Großteil der Film­hand­lung als Erfindung des vermeint­li­chen Simpels Verbal Kint, in The Sixth Sense (1999) von M. Night Shyamalan wird erst zum Schluss enthüllt, dass der von Bruce Willis gespielte Prot­ago­nist eigent­lich tot ist, während sich in Fight Club (1999) der geheim­nis­volle Tyler Durden als mentale Projek­tion der Haupt­figur erweist und in The Matrix – ebenfalls 1999 erschienen – die ganze Welt eine große Compu­ter­si­mu­la­tion ist.

Die Plots und vor allem die Welten­kon­struk­tionen werden auf einmal deutlich komplexer. Oder vielmehr: Die beiden Ebenen lassen sich immer weniger klar vonein­ander trennen. In einem Film wie The Matrix oder einer Serie wie Game of Thrones ist die Hand­lungs­welt nicht mehr nur bloßer Hinter­grund, sondern bestimmt maßgeb­lich den Plot; um zu verstehen, was es in Game of Thrones mit den White Walkers auf sich hat, welche die Westeros zu über­rennen drohen, muss man die Geschichte dieses Univer­sums kennen. Das Freilegen der Regeln der erzählten Welt wird zusehends zum Motor der Handlung, und wenn einmal klar ist, wie diese funk­tio­nieren, ist auch das zentrale Rätsel gelöst.

Keine Über­ra­schung bei Hamlet

Das Ende eines Films konnte man immer schon verraten, doch das klas­si­sche Holly­wood­kino zeichnet sich nur sehr bedingt durch über­ra­schende Enden aus. Dass John Wayne am Ende des Westerns siegreich in die Weite der Prärie reiten wird, wissen wir eigent­lich schon von Anfang an, dass Julia Roberts und Richard Gere nach vielen Kompli­ka­tionen doch noch zusam­men­finden, ebenfalls. In vielen tradi­tio­nellen Genres gibt es nichts zu spoilern, das wirklich von Belang wäre, da das Ende ohnehin feststeht. Hierin unter­scheidet sich der Film nicht vom klas­si­schen Drama. Dass es für Ödipus und Hamlet kein Happyend geben kann, ist nur dann eine Über­ra­schung, wenn man nicht weiß, was die Gattungs­be­zeich­nung „Tragödie“ bedeutet.

Lange Zeit bleiben im Kino Über­ra­schungen wie jene am Ende von The Empire Strikes Back, als Luke Skywalker erfahren muss, dass Darth Vader sein Vater ist, die Ausnahme. Mitt­ler­weile stellen sie den Normal­fall dar. Kein James-Bond- oder Mission: Impos­sible-Film, in dem nicht mindes­tens ein Maulwurf auf hoher Ebene entlarvt wird, und in den jüngsten Star Wars-Filmen kommt man kaum noch nach vor lauter uner­war­teten Verwandt­schafts­be­zie­hungen und Wieder­auf­er­ste­hungen vermeint­lich verstor­bener Figuren. Filme­ma­cher wie M. Night Shyamalan und Chris­to­pher Nolan haben den mehr oder weniger raffi­nierten Twist sogar zu ihren Marken­zei­chen gemacht.

Dass komplexes Erzählen just in den 1990er-Jahren populär wird, hängt ebenfalls mit verän­derten medialen Rahmen­be­din­gungen zusammen. Lange Zeit waren Filme auf einma­liges Sehen hin ausge­richtet. Im Normal­fall sah man einen Film einmal im Kino und allen­falls Jahre später im Fernsehen. Freilich konnte man sich im Kino einen Film mehrmals zu Gemüte führen, aber alles in allem war dies doch eher die Ausnahme. Dreh­buch­au­torinnen und Regis­seure hatten entspre­chend einer Zuschauerin vor Augen, die sich einen Film nicht beliebig oft anschauen konnte, die nicht in der Lage war, an die entschei­dende Stelle zurück­zu­springen, um ganz genau hinzu­hören, was der Held im Drogen­de­li­rium murmelt, oder um geduldig zu entzif­fern, welche Ziffern­folge auf dem zerknit­terten Zettel steht.

Mit dem Siegeszug digitaler Medien – zuerst der DVD, später Streaming-Angeboten – änderte sich dies grund­le­gend. Nun stand der Film jederzeit zur Verfügung, konnten Szenen und einzelne Einstel­lungen in aller Gründ­lich­keit seziert und analy­siert werden. Parallel dazu entstanden mit News­groups, Online-Foren und Social Media neue Orte, an denen Gleich­ge­sinnte mitein­ander fach­sim­peln konnten. Auch das Disku­tieren über Filme ist nichts Neues, aber die Chance, in der Kaffee­pause auf jemanden zu treffen, der mit gleicher Begeis­te­rung Über­le­gungen dazu anstellt, wer Laura Palmer ermordet hat, ist doch ziemlich klein. Online findet sich dagegen rasch eine Community, mit der man die esote­rischsten Details in aller Ausführ­lich­keit disku­tieren kann.

Einer der Urtexte komplexen seriellen Erzählens ist Twin Peaks, David Lynchs und Mark Frosts Anfang der 1990er Jahre erschie­nene Serie um den Mord an eben jener Laura Palmer in einem ameri­ka­nisch-kana­di­schen Grenz­städt­chen. Vieles, was heute bei Serien Allge­meingut ist – die Selbst­ironie, das Mischen von Genres und vor allem die verschach­telte Handlung, die mit immer neuen Über­ra­schungen aufwartet –, war erst in Twin Peaks in einer für ein Massen­pu­blikum konzi­pierten Form zu sehen. Neu war auch, dass sich im Usenet Diskus­si­ons­gruppen bildeten, in denen begeis­terte Fans die Serie disku­tierten, Theorien zur Identität des Mörders entwi­ckelten und Rezepte für Kirsch­ku­chen austauschten.

Was bei Twin Peaks noch spontan, ohne jedes Zutun von Produk­ti­ons­seite her entstand, war bei Lost, der großen Erfolgs­serie Mitte der Nuller­jahre, längst inte­graler Teil des Gesamt­kon­zepts. Heute gibt es kaum eine Serie oder Groß­pro­duk­tion, um die sich nicht eine einge­schwo­rene Community schart, deren Mitglieder jede Folge analy­sieren und auf einen tieferen Sinn hin abklopfen. Diese Gemeinden gilt es bei der Stange zu halten. Die Industrie tut dies auch nach Leibes­kräften, seit sie erkannt hat, dass Fans einen perfekten Multi­pli­kator darstellen. Denn Fans tragen die Begeis­te­rung für einen Film nach draußen, sie können über­zeu­gender dafür werben als jedes Plakat und nehmen der Werbe­ab­tei­lung damit einen wichtigen Teil ihrer Arbeit ab.

So omni­prä­sent die Angst vor Spoilern scheint, sie betrifft effektiv nur einen bestimmten Teil des populären Kinos. So ist beispiels­weise im Zusam­men­hang mit Doku­men­tar­filmen selten von Spoilern die Rede, obwohl auch in dieser Gattung das Ende keines­wegs immer absehbar ist. Im Arthouse-Bereich spricht man ebenfalls deutlich seltener von Spoilern. Die Vorstel­lung, dass man einen Film von Agnès Varda, Wim Wenders oder Jim Jarmusch spoilern kann, scheint regel­recht absurd.

Nichts ist mehr endgültig

Dass in Hollywood komplexe Erzähl­formen so beliebt sind und damit auch die Spoi­ler­ge­fahr stets akut ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Twist-Filme einen anderen großen Trend der Film­in­dus­trie ideal ergänzen. Denn in den Chef­etagen der großen Studios denkt man längst nicht mehr nur in einzelnen Filmen, sondern vorrangig in Mega-Fran­chises, also in cross­me­dialen erzäh­le­ri­schen Universen. Das große Vorbild, dem alle nach­ei­fern, ist das Marvel Cinematic Universe, bei dem die Comic­schmiede Marvel respek­tive Disney das Kunst­stück voll­bracht hat, über andert­halb Jahr­zehnte hinweg ein ganzes Geflecht von Filmen, Serien, Comics und Games rund um die Figuren Iron Man, Hulk, Thor, Black Widow, und wie sie alle heißen, zu errichten. Alles ist hier mit allem verknüpft, jeder Film verweist bereits auf den nächsten und kein Ende ist wirklich endgültig. Nicht einmal, als der Bösewicht Thanos in Avengers: Infinity War die Bevöl­ke­rung des gesamten Univer­sums halbiert.

Dass diese Art der Endlos­ge­schichte kommer­ziell äußerst inter­es­sant ist, dass ein Studio viel lieber eine erfolg­reiche Reihe fortsetzt, anstatt mit einem neuen Stoff eine Bruch­lan­dung zu riskieren, liegt auf der Hand. Und was eignet sich hierfür besser als eine Form des Erzählens, bei der eine uner­war­tete Wendung jederzeit alles wieder ändern kann? Bei der – wie eben in Avengers: Infinity War – selbst der totale Triumph des Böse­wichts nicht endgültig ist und im Folgefilm wieder rück­gängig gemacht werden kann?

Die Perfek­tio­nie­rung dieses Modells führt dazu, dass der Druck permanent hoch bleibt. Der neue Block­buster mag zwar noch über­ra­schen­dere Enthül­lungen bringen und endlich erklären, warum Figur x im voran­ge­gan­genen Film so und nicht anders gehandelt hat und was es wirklich mit Bösewicht y auf sich hat. Während dem Publikum fort­lau­fend sugge­riert wird, dass nun wirklich und endlich der Höhepunkt inklusive großer Auflösung ansteht, ist der einzelne Film in der wirt­schaft­li­chen Logik der Studios wenig mehr als ein über­langer Trailer für das nächste Sequel, das bereits vor der Tür steht und noch umstür­zen­dere Über­ra­schungen verspricht. Es droht eine ständige Über­hit­zung, und es ist nicht voll­kommen verkehrt, wenn man in den gehäs­sigen Reak­tionen auf Spoiler auch eine Folge dieses konstant heißlau­fenden narra­tiven Perpetuum mobiles sieht.

Simon Spiegel ist Senior Rese­ar­cher am Seminar für Film­wis­sen­schaft der Univer­sität Zürich. Er ist Mither­aus­geber der Zeit­schrift für Fantas­tik­for­schung und schreibt für zahl­reiche Publi­ka­tionen über Film und verwandte Themen. Er veröf­fent­licht regel­mässig auf simifilm.ch und utopia2016.ch.

Veröf­fent­li­chung mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Geschichte der Gegenwart, wo Simon Spiegels Text am 3. November 2021 zuerst erschienen ist.