14.10.2021

Squid Game: Parasitenkiller

Squid Game
Sechs Spiele von dystopischer Düsternis und kindlicher Kabbelei
(Foto: Netflix)

Hwang Dong-hyuks weltweiter Serienerfolg Squid Game ist kein Meisterwerk, aber weit mehr als nur ein Algorithmen-gesteuertes Massenphänomen – und eine so kluge wie brutale Versuchsanordnung über den Zustand unserer Welt

Von Axel Timo Purr

»Was sind wir eigent­lich? Menschen? Oder Tiere? Oder Wilde?«
– William Golding, Herr der Fliegen

Bei Netflix‘ Verlaut­ba­rungen über den Erfolg seiner Eigen­pro­duk­tionen kann man sich schon regel­mäßig die Haare raufen und ausnahms­weise mal mit Goethe skan­dieren: »Ursprüng­lich eignen Sinn // Laß dir nicht rauben! // Woran die Menge glaubt, // Ist leicht zu glauben.« Wie etwa beim letzten großen Scoup, als der eska­pis­ti­sche Barbie­land-Schwach­sinn Brid­ge­rton zur bis dahin erfolg­reichsten Serie ausgelobt wurde.

Deshalb sind natürlich auch bei den inzwi­schen weltweit publi­zierten Hymnen auf den größten Netflix-Serien­erfolg aller Zeiten Zweifel ange­bracht, der dieser Tage mit 111 Millionen Views die 82 Millionen von Brid­ge­rton locker hinter sich gelassen hat, auch wenn, und das sollte niemand vergessen, bei Netflix zwei Minuten „View“ einer Staffel schon ausrei­chen, um sie als gesehen zu werten und man viel­leicht besser einmal die Dreh­buch­au­toren der Serien fragen sollte, wie es um die Wahrheit bestellt ist, werden die doch akkurat nach den tatsäch­lich gesehenen Minuten bezahlt. Die Minuten, die die Welt­ge­mein­schaft im Moment aller­dings die südko­rea­ni­sche Serie Squid Game streamt, scheinen dann doch so erheblich auszu­fallen, dass die in 90 Ländern auf Platz 1 der Netflix-Charts posi­tio­nierte Serie die Backbone-Branche des Internets nervös macht, wie netz­po­litik.org berichtet: »Mit den steigen Zuschau­er­zahlen steigt auch die Rechnung der lokalen Breit­band­an­bieter. Schließ­lich müssen sie für den enormen Daten­ver­kehr ausrei­chend Infra­struktur bieten. Damit entflammt die Debatte erneut, wer für die Daten­kosten des Streaming-Booms zahlen soll. Netflix zahlt in Südkorea, ähnlich wie in der EU, keine Netz­nut­zungs­ge­bühren. Nun leitet der südko­rea­ni­sche Breit­band­an­bieter SK Broadband recht­liche Schritte ein.«

Andrer­seits ist es mit Verglei­chen und Sehvor­lieben und all der Medi­en­rum­melei natürlich grund­sätz­lich so eine Sache, Netflix’ geschicktes Posi­tio­nieren von Hwang Dong-hyuks Squid Game im Landes-Tages-Ranking aller­dings eine faszi­nie­rende Tatsache. Die umso eindrück­li­cher ausfiel, als die Masken tragenden Prot­ago­nisten einer­seits an den spani­schen Heist-Serien­erfolg Haus des Geldes erin­nerten, gleich­zeitig kongenial dysto­pi­sche Düsternis mit kind­li­cher Kabbelei kombi­niert wurde. Was dann mögli­cher­weise auch der ganz simple Grund dafür ist, dass die bereits im Dezember 2020 gelaunchte japa­ni­sche Death-Game-Serie Alice in Border­land erst jetzt im Fahr­wasser von Squid Game in den Netflix-Top Ten aufzu­tau­chen beginnt.

Doch letzt­end­lich sind diese Mutmaßungen eigent­lich für die Katz, denn schon ein Blick auf die Filmo­grafie von Showrunner Hwang Dong-hyuk, der für Drehbuch und Regie verant­wort­lich ist und mit seiner Seri­en­idee jahrelang erfolglos hausieren gegangen war, reichen eigent­lich schon aus, um von Squid Game mehr als nur eine Marke­ting­blase erwarten zu dürfen, hat Hwang Dong-hyuk doch einige der sozia­kri­tischsten und erfolg­reichsten südko­rea­ni­schen Kinofilme der letzten Jahren gedreht, vom Adoptions- (My Father) über das Miss­brauchs- (Silenced) bis zum Histo­ri­en­drama (The Fortress) und zur Komödie (Miss Granny) war so ziemlich alles mit dabei, was sich ein leiden­schaft­li­cher Cineast nur wünschen kann.

Bei diesem Portfolio ist es deshalb kaum über­ra­schend, dass Hwang Dong-hyuk für seine erste Serie aus dem Vollen geschöpft und gewis­ser­maßen ein Amalgam aus seiner bishe­rigen Filmo­grafie geschaffen hat – und mit dementspre­chend breit gestreuter Refe­ren­zia­lität arbeitet: berühmte Survival-Mangas wie Tobaku Mokus­hiroku Kaiji, Liar Game und Battle Royale fundieren den Plot, werden jedoch in den korea­ni­schen Kultur­raum trans­for­miert, um vom Armuts­di­lemma in Südkorea zu erzählen, das hier gewis­ser­maßen auf die schärfste nur mögliche Diskurs­spitze gespießt wird: Um ihrer Verschul­dung zu entkommen, werden Menschen aus allen Gesell­schafts­schichten dazu einge­laden an einem Spiele-Kanon teil­zu­nehmen, dessen Sieger ein derartig großes Preisgeld erhält, dass von Armut am Ende keine Rede mehr sein soll. Dass es bei diesen Spielen um Leben und Tod geht, wird den Teil­neh­mern aller­dings erst nach der ersten Runde klar, in der eine über­di­men­sio­nale Kinder­figur ebenso auf das Korea der 1970er und 1980er Jahre refe­ren­ziert wie auch die anderen „Kinder­spiele“, deren Nost­al­gie­faktor durch ihre tödliche Neuin­ter­pre­ta­tion fast schon post­mo­dern gebrochen werden.

Gleich­zeitig wird Hwang Dong-hyu damit gesell­schafts­kri­tisch sehr explizit und erzählt nicht nur einen gnaden­losen Brot-und-Spiele-Plot aus, sondern auch die Wirt­schafts- und Sozi­al­ge­schichte seines Landes (und der Welt), das seine Unschuld verloren hat. Aus der spie­le­ri­schen Hoffnung auf Wohlstand und Sicher­heit ist ein tödliches System geworden, das zwar mit bunten Farben und spie­le­ri­schen Illu­si­ons­flächen verführt, aber am Ende für alle Betei­ligten tödlich ist, ein System – kaputter Kapi­ta­lismus at its best – das erst im Handeln demas­kiert werden kann und den bereits heillos darin verstrickten, hilflosen Menschen seiner Unschuld beraubt, nicht anders als William Golding das ähnlich perfide in seinem Herr der Fliegen durch­ex­er­ziert hat.

Das wirkt am Anfang, nach einer rudi­men­tären Einfüh­rung zweier Haupt­cha­rak­tere, noch wie eine vorher­seh­bare Versuchs­an­ord­nung, doch spätes­tens mit der zweiten Folge macht Hwang Dong-hyu deutlich, dass er seine Geschichte so gebaut hat, wie das in allen Folgen auftau­chende, M. C. Escher nach­emp­fun­dene Trep­pen­la­by­rinth, in dem nichts so ist, wie es scheint, und sogar das Spiel noch einmal auf Start zurück­geht.

Damit wird auch deutlich, dass der Zuschauer mit den köderhaft ausge­legten Refe­renzen vorsichtig sein sollte. Natürlich ist auch in Squid Game alles wie in Bong Joon-hos Parasite, aber dann doch wie auf Eschers Treppen ist alles verkehrt, wird Arm/Reich hier genau anders­herum gegen­ein­ander ausge­spielt, ist im Grunde auch der Betrachter vor seinem Netflix-Account gieriger Täter. Was dann aber noch lange nicht bedeutet, dass wir uns hier in einem mora­li­schen und fakti­schen Szenario der Tribute von Panem wieder­finden, denn schon einen Moment später ist auch diese Asso­zia­tion so beleg- wie wider­legbar.

So komplex und zugleich simplex die Spiel- und Plotidee ist, so über­ra­schend ist es, wie viele Subplots und mora­li­sche Hinder­nisse Hwang Dong-hyu in seiner Geschichte unter­bringt und damit die charak­ter­li­chen Profile des weit gefächerten Personals zunehmend verdichtet: Organ­handel, der Kampf der Geschlechter, Rassismus gegenüber Nord­ko­rea­nern und dunkel­häu­tigen Einwan­dern, der Verlust des Respekts vor alten Menschen und immer wieder die Frage nach dem Sinn des Lebens und der Liebe und was ein Leben überhaupt wert ist und was wir bereit sind dafür zu opfern. Damit verläßt Squid Game immer wieder souverän seine versuchsähn­liche Anordnung und wird pures mensch­li­ches Drama, dem das viel­leicht wich­tigste eines jeden Dramas gelingt: ganz gleich, wie weit der Gegenüber einem auch in Denken und Fühlen entfernt sein mag – sein Schicksal berührt.

Bei all den hier skiz­zierten Stärken von Squid Game, das sich auch ganz generell durch seine redu­zierte Ästhetik, die univer­selle Kapi­ta­lis­mus­kritik, den spie­le­ri­schen Charakter und die taran­ti­no­eske Grau­sam­keit weltweit zur Iden­ti­fi­zie­rung anbietet und einen system­im­ma­nenten und sehr zentralen, wunden Punkt unserer globa­li­sierten Welt getroffen zu haben scheint, ist Squid Game dennoch kein Meis­ter­werk. Denn immer wieder gibt es erzäh­le­ri­sche „Löcher“ und „Hänger“, wünscht man sich doch ein oder zwei Folgen weniger oder kürzere Einheiten als die tenden­ziell mit knapp einer Stunde eher langen Folgen. Ein zumindest kleiner Writers Room Hwang Dong-hyu wäre dafür mögli­cher­weise die Lösung gewesen, auch um das Konstrukt der Handlung besser zu kaschieren und den etwas zu langen Anlauf und Auslauf seiner Erzählung zu verkürzen und gleich­zeitig nicht in klas­si­sche Falle zu laufen, die essen­ti­ellen Hand­lungs­muster der Prot­ago­nisten nicht nur zu behaupten, sondern auch zu erklären, was selbst in Hwang Dong-hyus jetziger »Lang­fas­sung« nicht immer gelingt.

Am schwie­rigsten bzw. „unrun­desten“ in Hwang Dong-hyus Plot- und Dialog­ge­füge ist jedoch die eigent­liche Haupt­figur der Serie, Seong Gi-hun (Lee Jung-jae). Wie auch in anderen südko­rea­ni­schen Serien – man denke etwa an die Ausnahme­serie Move to Heaven – wird hier ein Charakter platziert, der komische, groteske, ja fast clowneske Züge trägt, ein Charakter, der mit seinem Over-Acting vermut­lich einen wichtigen korea­ni­schen Arche­typen bedient, aber zumindest aus west­li­cher Perspek­tive so deplat­ziert wirkt, dass mitunter die Glaub­wür­dig­keit der tragenden Handlung verloren geht.

Doch mit der sich schließ­lich ab dem über­ra­genden Mittel­teil der neun Folgen stark verdich­tenden, charak­ter­li­chen Entwick­lung des Personals wird auch der Clown zum ernsten Menschen, wird das Kind zum Erwach­senen und immer mehr zu dem Helden, zu dem er im Kern auch angelegt ist. Ein Held der vor allem das lernt, was uns allen immer mehr verloren gegangen ist: Nein zu sagen.